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Zitiervorschlag

Aus: KinderTageseinrichtungen aktuell, KiTa Hessen/ Rheinland-Pfalz/ Saarland, 2001, Heft 10

Bindungstheorie und offene Arbeit: Erkenntnisse, Informationen und Hinweise für ElementarpädagogInnen

Hans-Joachim Rohnke


"Ach, Frau Schmidtbauer, heutzutage wo nix mehr zusammenpasst, alles rennet, rettet und flüchtet, und jeder nur noch nach seinem Kram guckt, jetzt also auch noch das. Als wär es nicht schon genug, dass sich die Eltern von den Kindern nicht mehr vertragen, jetzt fangen sie im Kindergarten auch noch damit an, die Kinder und ihre Eltern verrückt zu machen. Stellen Sie sich einmal vor: Im offenen Kindergarten dürfen die Kinder sich jetzt ihre Erzieherin aussuchen und müssen nicht mal mehr in ihrer vertrauten Gruppe bleiben. Ja, da frag ich sie, wie soll das denn alles später noch klappen, wie sollen denn Beziehungen entstehen und womöglich lebenslang halten, wenn die Zwockel schon keine Gemeinschaft mehr lernen; wenn jeder Dreikäsehoch sich immer dann verkrümeln kann, wenn's brenzlig wird? Da wird die bewährte und sich aufopfernde, nunmehr sich grämende und vereinsamende Erzieherin einfach in der Ecke sitzen gelassen und die Knirpse gehen nach Lust und Laune auf die Juchee! Also, Frau Schmidtbauer, ich weiß nicht, wozu das gut sein soll!"

Wieder einmal haben ElementarpädagogInnen einen Gesprächsausschnitt mit Frau Schmidtbauer vor sich und lernen dabei die Sorgen und Nöte ihrer Gesprächspartnerin kennen. Selbstverständlich stimmen die aufgeworfenen Gedanken nachdenklich. Es ist naheliegend, sich dem seriösen Gehalt dieser Fragen zu stellen und sie eingehender zu untersuchen. Denn mit Recht haben wir uns zu fragen: Kann es sein, dass die oben geschilderte Szenerie möglicherweise bedenklich ist und darin Kinder in wichtigen Teilen ihrer Persönlichkeitsentwicklung behindert werden beziehungsweise ihnen Erfahrungen vorenthalten werden, die Basiskompetenzen für zukünftige Lebenssituationen vermitteln?

Eigentümlicherweise geht es um ein - in unserer modernen Zeit - so konservativ anmutendes Thema wie Beziehung und Bindungsfähigkeit und die Frage, wie diese erworben, entwickelt und kultiviert wird und welchen Stellenwert die professionelle Erziehung im Kindergarten hierbei einnimmt. Dieses Thema beschäftigt in jüngster Zeit die Fachdiskussion, und manche sehen am Horizont das drohende Bindungs- und Beziehungschaos heraufziehen.

Es macht also Sinn, ernstzunehmende Informationen zu recherchieren, d.h. die zuständige Wissenschaft zu befragen, um zu einer Versachlichung der Debatte beizutragen. Was sind die Erkenntnisse der Bindungstheorie und -forschung, welche wichtigen Ergebnisse sollten ElementarpädagogInnen kennen, und welche Hinweise und Konsequenzen ergeben sich für die professionelle Beziehungsarbeit im Kommunikations- und Interaktionsfeld Kindertagesstätte?

Grundannahmen der Bindungstheorie

Die Bindungstheorie hat zum Ziel, sich mit den Auswirkungen früher Kindheitserfahrungen mit engen Bezugspersonen - Bowlby bezeichnet diese Bezugsperson als die primäre Bindungsfigur (allerdings können auch zwei oder drei andere Bindungspersonen vom Kind gewählt werden, z.B. Väter, Geschwister und auch nicht verwandte Personen) - auf die spätere Persönlichkeit eines Menschen zu befassen. Der Begründer, der britische Psychologe John Bowlby, wies u.a. darauf hin, dass sowohl die konkreten Erfahrungen für die Entwicklung eines Menschen von Bedeutung wären als auch dem Aufbau von sog. internalen Arbeitsmodellen dienten. Diese verhelfen einer Person dazu, Wirklichkeit zu konstruieren und zu interpretieren.

Die Bindungstheorie knüpft daher an der Neigung des Menschen an, enge, von intensiven Gefühlen begleitete Beziehungen zu anderen Menschen zu entwickeln. Sie geht davon aus, dass die frühesten Beziehungen des Menschen mit seinen ersten Bezugspersonen herausgebildet werden. In der Regel sind dies die Eltern. Bindung wird neben den körperlichen Grundbedürfnissen als eigenständiges menschliches Bedürfnis angesehen. Die Nähe zu ausgewählten Bezugspersonen entspricht dem angeborenen Bedürfnis des Säuglings nach einer "sicheren Basis", einem sog. "haven of safety".

Mit dieser für das Kleinkind als überlebensnotwendig angesehenen Orientierung korrespondiert das Bedürfnis nach Exploration und autonomen Verhalten, welches in einer Wechselbeziehung zum Bindungsverhalten steht. Sind die vertrauten Bindungspersonen verfügbar und aufmerksam, überwiegen Exploration und Zuwendung zur Umwelt; treten hingegen äußere oder innere Verunsicherungen auf, tritt die Suche nach Nähe und Kontakt zur Bindungsperson in den Mittelpunkt.

Die wichtigsten Bindungsvarianten

Erlebt ein Kind Kummer oder bedrohliche Situationen in seinem Umfeld, so entwickelt es nur dann Vertrauen in seine soziale Umwelt, wenn es verlässliche, einfühlsame und verständnisvolle Unterstützung erlebt. Es erfährt sich als liebenswert und entwickelt ein positives Selbstbild. Offenheit, Neugier und Entdeckungsverhalten sind die positiven Folgen. Dieser Typus wird als Variante der sicheren oder autonomen Bindung klassifiziert.

Fehlende emotionale Unterstützung, mangelnder Rückhalt und häufige Zurückhaltung können hingegen dazu führen, dass ein Kind sich dauerhaft emotional von seiner Umwelt distanziert und seine natürlichen Kontakt-, Zuwendungs- und Nähebedürfnisse unterdrückt. Das Muster der zunehmenden emotionalen Selbstgenügsamkeit fügt sich hier zum Typus der unsicher-vermeidenden Bindung.

Die dritte Form schließlich ist die der unsicher-ambivalenten Bindung. Sie resultiert aus der Erfahrung inkonsistenten Verhaltens seitens der Eltern. Wenn die Bindungspersonen nur gelegentlich zugewandt und interessiert sind, sich aber nicht kalkulierbar ablehnend verhalten und zudem stark mit sich selbst beschäftigt sind, entsteht hieraus eine übermäßige Anhänglichkeit. Der Wunsch nach Nähe und Aufmerksamkeit wird besonders stark und mischt sich mit gelegentlichem Ärger auf die Bindungsperson (vgl. Gloger-Tippelt, 1999).

Bindungsforschung

Die Bindungsforschung beschäftigt sich mit Aufbau und Veränderung enger Beziehungen im Lebenslauf. Bowlby bezeichnete mit dem Begriff "Bindung" (attachment) ein "affektives, gefühlsgetragenes Band" in den Beziehungen zu nahestehenden Personen.

Wie in zahlreichen empirischen Längsschnittstudien nachgewiesen wurde, werden die genannten Bindungsvarianten im Wesentlichen bereits in den ersten 12 Lebensmonaten ausgebildet und haben konstitutiven Charakter für die weitere Entwicklungen des Kindes. Nach Bowlby ist das Bindungsverhaltenssystem ein Produkt der phylogenetischen Entwicklung, d.h., jedes neugeborene Kind besitzt genetisch vermittelte Voraussetzungen zum Aufbau einer Bindung wie z.B. Weinen oder Anklammern (vgl. Spangler, S. 178ff.).

Etwa ab dem 6. Monat sucht der Säugling als Krabbelkind Informationen durch fragendes Schauen und Vokalisieren bei seiner Bindungsperson und behält ihren Verbleib im Gedächtnis, um sie in Not schnell rufen oder zu ihr krabbeln zu können. Bowlby nennt diese Phase die "ziel-korrigierte Phase", und erst zu diesem Zeitpunkt kann man von einer Bindung des Kindes an wenige Bindungspersonen ausgehen. Die Bindungsperson wird zum "Zentrum der Welt".

Zunehmend lernt das Kind zu differenzieren, lernt seine eigenen und die Gefühle anderer zu verbalisieren. In der Phase der ziel-korrigierten Partnerschaft beginnt das Kind, mit seinen Partnern über Absichten und unterschiedliche Zielvorstellungen zu verhandeln. Die Bindungstheoretiker gehen davon aus, dass sich das Kind nun ein inneres "Arbeitsmodell" aufbaut, indem es sich in seiner "Beziehung zu seinen Bindungspersonen, in der die Vorhersagbarkeit, die Erreichbarkeit und die empfundene Zuneigung der Bindungsperson eine Rolle spielt, andererseits seine eigene Person als jemand, der die Zuneigung und Fürsorge seiner Eltern verdient hat," definiert (Grossmann, S. 199).

In der weiteren Entwicklung werden die genannten Bindungstypen durch sprachliche und kognitive Fähigkeiten, insbesondere Gedächtnisfähigkeiten fundiert. Das bereits genannte "internal working model of attachment" (Bowlby) wird weiter entwickelt. Die Psychologen sprechen von sog. Scripts für wiederkehrende Ereignisse wie typische Verhaltensweisen der Bezugspersonen bei Alltagsbelastungen, Kummer, Schmerz oder Krankheit des Kindes.

Ergebnisse der Bindungsforschung

Die 1994 von Fremmer-Bombik und Suess veröffentlichte Längsschnittuntersuchung der 5-jährigen Regensburger Kinder ergab (zit. bei Grossmann, a.a.O.), dass

  • ein deutlicher Einfluss der Bindungsgeschichte eines Kindes auf sein Verhalten im Kindergarten besteht.
  • Kinder mit sicherer Mutterbindung weit länger als Kinder mit unsicherer Mutterbindung in konzentrierter Weise spielten (sie hatten weniger Streit um Spielsachen oder in sozialen Angelegenheiten und lösten ihre Konflikte selbständiger und nachhaltiger, so dass weder Freundschaften noch das nachfolgende Spiel litt).
  • sicher gebundene Kinder in Gruppenaktivitäten weniger isoliert waren.
  • auch die Kinder mit sicherer Vaterbindung ebenfalls weniger negative Gefühle beim Spiel zeigten. Sie waren häufiger Initiatoren von Gruppenspielen, wirkten gelöst und regelten ebenfalls ihre Konflikte selbständiger.
  • die Kinder, die harmonische Umgangsformen mit den Eltern pflegten - die häufig mit einer sicheren Bindung einhergehen -, diese Erfahrungen auf den Kindergarten erfolgreich übertragen konnten.

Weitere Befunde zeigen, dass Erzieherinnen bei Kindern mit sicherer Bindung wenigstens einen Elternteil durchweg positiver und sympathischer beurteilen (ebd.). Sicher gebundene Kinder beurteilen Bilder, auf denen konflikthafte Situationen dargestellt werden, weniger negativ, d.h., sie unterstellen den Konfliktparteien weniger böse Absichten (sie neigen eher zu einer positiven Weltsicht). Diese Art der Wahrnehmung (d.h. ein einfühlsamer Umgang mit anderen) wird ganz offensichtlich zuhause gelernt und hilft im Kindergarten bei der Gestaltung von sozialen Kontakten.

In der amerikanischen Untersuchung von Sroufe und MitarbeiterInnen (ebd.) hatten die Kinder mit sicherer Mutterbindung ein besseres Selbstwertgefühl, häufiger gute Freunde, waren seltener schlecht gelaunt und weniger feindselig aggressiv. Die Kinder mit vermeidender Bindung zur Mutter zeigten sich abhängiger und unselbständiger.

"Aus diesen und den vorher genannten Befunden drängt sich der Eindruck auf, dass Kinder mit einer sicheren Mutterbindung die sie umgebende Welt offener und realistischer wahrnehmen und weniger Ausflucht zu selektiver Wahrnehmung suchen müssen, weil mindestens eine ihrer engen Beziehungen befriedigend ist" (ebd., S. 200f.).

"Sicherheit in bezug auf seine primäre Bindungsperson zeigt sich im Vorschul- und jungen Schulalter im Bemühen des Kindes um aufeinander abgestimmte Gemeinsamkeit, wenn die Bindungsperson zeitweilig fort war, und in der Zuversicht, dass Trennungen oder anscheinend abweisende Verhaltensweisen der Eltern nicht eine Abwertung seiner Person bedeuten, sondern anderweitig motiviert sind" (ebd., S. 201).

Stabilität in der Bindungsorganisation bei sicher gebundenen Kindern konnte auch bei 10-jährigen Kindern nachgewiesen werden. In der Bielefelder Längsschnittstudie (vgl. Zimmermann, S. 205ff.) berichteten die Kinder, dass sie eher die Unterstützung der Eltern bei Kummer, Angst oder Ärger suchten, also Zugang zu ihren Gefühlen hatten, und generell flüssiger und offener in ihrem Antwortverhalten wirkten. Die 10-jährigen verfügten eher über ein festes Freundschaftsnetz, hatten häufiger einen besten Freund und weniger Probleme mit Gleichaltrigen als Kinder, die mit 12 Monaten als unsicher gebunden klassifiziert worden waren (ebd., S. 205).

Ainsworth Beobachtungen (vgl. Main, S. 123ff.) zeigten, dass die Mütter von unsicher-ambivalenten Kindern sich nicht vorhersagbar verhielten und sie zudem in ihrem Autonomiebestrebungen entmutigten und unfeinfühlig gegenüber den Signalen ihrer Kinder waren.

Sroufe und Egeland in Minnesota (ebd.) bestätigen, dass sicher gebundene Kinder im Vorschulalter wesentlich mehr Konzentration im Spiel, mehr positiven Affekt und größere soziale Kompetenz und Ich-Flexibilität zeigen als unsicher gebundene Kinder.

Schlussendlich scheint in der Kindergartenzeit die Sicherheit zum Vater sowie zur Mutter zur allgemeinen Kompetenz beizutragen, und Kindern, die zu beiden Eltern eine sichere Bindung hatten, ergeht es nochmals besser als Kindern, die nur zu einem Elternteil sicher gebunden sind. (ebd.)

Allgemeines zur Bindungstheorie

Die Bedeutung von Emotionen ist im Bindungsprozess und in der interpersonalen Kommunikation beachtlich. In den Untersuchungen von Großmann & Großmann 1990 und 1991 (vgl. Magai, S. 140ff.) wird nachgewiesen, dass die Kommunikation von unsicher-vermeidend gebundenen Kindern bei Trennungsstress und bei Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen erheblich eingeschränkt ist und dass es ihnen nicht gelingt, mit ihren Eltern über diesen Kummer zu sprechen. Großmann u.a. weisen darauf hin, dass diese frühen Kommunikationsprobleme äußerst bedeutsam für die spätere Persönlichkeitsentwicklung würden, da sie Strategien zur Unterdrückung von Ärger oder dem Ausdruck von negativen Gefühlen bei emotionaler Belastung entwickelten.

Einer der herausragendsten Befunde bezüglich unsicher-vermeidend bzw. unsicher-ambivalent gebundener Kinder ist die Beobachtung, dass Ärger eine besondere Rolle in ihrer Persönlichkeitsstruktur spielt.

In ihren Schlussfolgerungen führt Professor Magai aus, dass das elterliche Kommunikationsverhalten von erheblichem Einfluss auf das Imitationsverhalten des Kindes ist. Der frühkindlich erlernte Umgang mit unterdrücktem Ärger und die Nichtthematisierung von Frustrationserfahrungen führt am Ende des Kleinkindalters dazu, dass das Kind seine Umwelt als frustrierend und feindselig betrachtet und dass es sich in einer Art und Weise benehmen wird, die diese Erwartungen fortführt.

Allerdings räumt Frau Magai abschließend ein, "dass glücklicherweise natürlich auch alternative Entwicklungsverläufe möglich sind. Denn es gibt ja neben den elterlichen Einflüssen noch andere, welche frühe Muster von dysfunktionaler Kommunikation abmildern. Dazu gehören Geschwister und andere Erwachsene, die unterschiedliche Möglichkeiten für Bindungserfahrungen sowie unterschiedliche Modelle dafür bieten, wie man Gefühle ausdrücken und verstehen kann" (Magai, a.a.O., S. 148).

Festzustehen scheint, dass die Verarbeitung von Bindungserfahrungen an die eigenen Kinder weitergegeben wird, d.h. Eltern, die geringe Neigung zeigen, bei ihren Kindern emotionale Belastungen und Wünsche nach Nähe wahrzunehmen und darauf einzugehen, haben häufig ebenfalls vermeidende Kinder. Entsprechendes gilt für die sicher gebundenen Kinder.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine frühkindlich erworbene, sichere Bindungserfahrung eine herausragende Rolle für die seelische Gesundheit eines Menschen spielt. Sie stellt einen wichtigen Schutzfaktor und eine gute Grundlage für gelingende emotionale Entwicklungsprozesse dar. Sie bietet somit Halt und Orientierung für den Einzelnen und seinen oft wechselvollen Lebensweg. Angesichts enorm gewachsener allgemeiner und psychischer Belastungen für das Individuum, den Lebenslauf selbständig und in Bezug auf andere Menschen eigenständig zu gestalten, ist eine sichere Bindungsrepräsentation noch immer ein äußerst wichtiges Erziehungs- und Sozialisationsziel.

Welche Überlegungen und Schlussfolgerungen aber ergeben sich aus diesen wichtigen Erkenntnissen für die öffentliche Erziehung, beispielsweise für die Arbeit in der Kindertagesstätte?

Zunächst einmal der unmissverständliche Hinweis, dass in Bezug auf die Bindungserfahrungen und Bindungsfähigkeiten wesentliche Prägungen und Ausbildungen von Beziehungsmustern bereits in der Regel im familiären Kontext erfolgt sind, also bevor das Kleinkind in den Kindergarten kommt.

Für ElementarpädagogInnen mag dies auf den ersten Blick entlastend sein. Sie finden bei einzelnen Kindern eine Hypothek vor, die sie nicht nur nicht zu verantworten haben, sondern auf die sie auch aktiv nur begrenzten Einfluss hatten und haben.

Ist dies möglicherweise die beruhigende Seite der Medaille, so erwächst ElementarpädagogInnen andererseits aus diesem Wissen auch Verantwortung. Vor allem aus der Beobachtung, dass das pädagogische Personal in Kindertagesstätten - häufig unbewusst - dazu neigt, kindliche Selbstwertbezeugungen zu verstärken (vgl. Großmann, a.a.O., S.197) und dabei unabsichtlich Gefahr läuft, diese zu verfestigen, ergeben sich erste ernstzunehmende Hinweise auf mögliche Verhaltens- und Einstellungsfragen. Es sollte gelingen, diesen problematischen Verstärkungseffekt möglichst gering zu halten, d.h. durch selbstkritische Verhaltensanalyse einerseits und Reflexion des pädagogischen Geschehens andererseits sich Aufschluss über persönliche Verhaltensimpulse und -weisen und die darin wirksam werdenden Steuerungs- und Einflussmechanismen zu verschaffen und ins Bewusstsein zu heben.

Leitungsaufgaben

Selbstverständlich bedarf es hierfür gewisser Rahmenbedingungen. ErzieherInnen müssen sich darüber im Klaren sein, dass diesbezügliche Zusammenhänge existieren und dass es sich lohnt, kritisch darüber nachzudenken. Hier haben vor allem Leitungskräfte eine weitere wichtige und bewusstseinsbildende Funktion, die Entwicklung hochwertiger Pädagogik zu befördern und die Qualität pädagogischer Prozesse und Programme zu steigern, indem sie die habituelle, d.h. die interaktionale und interventionsbezogene Problematik erzieherischen Verhaltens beachten und unter Zuhilfenahme geeigneter Mittel kontinuierlich fördern. Nicht in jedem Fall werden sie dies selber tun können, aber kollegiale Beratung, Feedback und qualifizierte Mitarbeitergespräche bis hin zu Zielvereinbarungen können hier gute Dienste leisten und wichtige Grundlagen für ein anspruchsvolles pädagogisches Niveau schaffen. Auch Fallsupervision und differenzierte Beobachtungsverfahren mit kritischen Auswertungen können ebenfalls geeignete Instrumente sein, die eigene Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen zu verfeinern und auf die je spezifischen kindlichen Bedarfe abzustimmen.

Welcher Art aber sind solche Verhaltensanteile und warum können sie Sinn und Wirkung entfalten?

Zur Erinnerung: Professorin Magai von der Long Island Universität in New York weist darauf hin (S. 148), dass glücklicherweise korrigierende, ergänzende und alternative Einflüsse auf ein Kind Wirkung entfalten können. Gerade der Kindergarten als erste öffentliche Institution bietet nahezu unerschöpfliche kommunikative Erfahrungsmöglichkeiten mit Menschen vieler Altersstufen, Herkünften, Kulturen und Erfahrungshintergründen, die relativierend auf den persönlichen Erfahrungsfundus des einzelnen Kindes wirken können und ständig eine Fülle von unterschiedlichen und modellhaften Verhaltensweisen generieren. Es bestehen gute Chancen, das eigene Kommunikationsrepertoire zu erweitern.

Vorzüge offener, beziehungswirksamer Konzepte

Besonders das Konzept des offenen Kindergartens/ Aktivkindergartens bietet in Punkto kommunikative Kompetenzen einen nahezu unerschöpflichen Fundus an Erfahrungs- und Interaktionsmöglichkeiten, die in ihrem Anregungsreichtum und in ihrer Vielgestaltigkeit den kommunikativen Horizont eines jeden Kindes erweitern können.

Natürlich müssen gehemmte (unsicher gebundene) Kinder wieder neuen Mut schöpfen und letztlich lernen, verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Genau dies aber scheint mir eines der zentralen Anliegen der ErzieherInnen im Konzept der "offenen" Pädagogik zu sein. Mehr Zeit für das einzelne Kind zu gewinnen, weniger schematisierte, in der Regel entindividualisierte Rituale und Programme "durchzuziehen" und echte, anteilnehmende, wertschätzende und authentische Ansprache für das einzelne Kind zur Verfügung zu stellen, sind die hier favorisierten Verhaltensweisen. Beziehungen können wachsen und gepflegt werden.

Im Aktivkindergarten soll Zeit und Raum für Zuwendung entstehen, für Verlässlichkeit und Anteilnahme an den Sorgen und Belangen der schon so unterschiedlich disponierten Kleinkinder. Hier können, dürfen und sollen Befindlichkeiten, Stimmungen und Gefühle geäußert werden, hier wird gleichsam im natürlichen Alltag an der Verfeinerung der eigenen Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit gearbeitet, hier wird erlebt, dass auch sog. negative Gefühle ihre Berechtigung haben, dass sie ein Teil kindlicher Persönlichkeit sind, dass Kinder solche Gefühle aussprechen dürfen und sie nicht dafür getadelt werden. Hier kann das Kind zunehmend lernen, über seine Erwartungen und Enttäuschungen, über seine Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte zu sprechen, und es kann erleben, dass es verständnisvolle, d.h. unaufgeregte und einfühlsame, Umgangsformen damit geben kann.

Und - zu alledem wird kein Kind gedrängt. Seine Persönlichkeit, mit all ihren "Krummheiten" und Vorläufigkeiten wird zunächst voraussetzungslos von einfühlsamen ErzieherInnen respektiert, so dass sich Zuneigung entwickeln kann und erworbene Ängste reduzieren werden. Es gibt keine vorschnellen Versuche, an seiner Person mit ihren Vorzügen und Begrenzungen "herumzufeilen" und sie einer häufig selbstbezüglichen und -gerechten pädagogischen Programmlogik zu unterwerfen. Das Kind kann lernen, sensibel zu werden für seine inneren Stimmen, Antriebe und Befindlichkeiten, und dabei sukzessive Selbstverantwortung, -bewusstsein und Wahrnehmungskompetenz entwickeln.

In einem solchen Kontext wird ein Kind nicht zurückgewiesen. Fachlichkeit bedeutet hier, sich dem zu öffnen, was ein Kind zeigen will und welche Resonanzen es in der Begegnung auslöst. ErzieherInnen können dem Kind dabei behilflich sein, sich Zugang zu seinen Gefühlen zu verschaffen, und es ermuntern, sie auszudrücken. Gerade die Gehemmten, Verunsicherten und Vorsichtigen bedürfen der besonderen Beachtung, Aufmerksamkeit und behutsamen Unterstützung.

Ich bin davon überzeugt, dass für ein solches Verständnis und solche Herangehensweisen das Konzept der offenen Arbeit einen guten Rahmen bietet, da es ein hohes Maß an vielseitigen kommunikativen Erfahrungen zulässt und da es Kindern in selbstinitiierten Spiel- und Lernsituationen bzw. Aktivitäten ermöglicht, sich entsprechend ihrem Entwicklungsstand und ihrem Lerntempo einzubringen. Damit hieraus nachhaltige Qualität erwächst, bedarf es aufmerksamer Pädagoginnen (und erheblich mehr männlicher Bezugspersonen), die sich der Bedeutung ihrer anspruchsvollen Aufgabe bewusst sind und die bereit sind, sich - aus Überzeugung - der komplexen Beziehungsarbeit zu stellen. Ich weiß aus vielen Gesprächen mit ErzieherInnen, dass sie sich hierzu Unterstützung und Begleitung wünschen, um die Professionalisierung ihres Berufsstandes weiter voranzutreiben, vor allem was z.B. die Themen "Beobachtung", "Reflexionshilfen" und "Elterngespräche" anbelangt. Hier gilt es, die vorhandenen Zeitressourcen gut zu nutzen. Leitungskräfte, Träger und andere Verantwortliche haben hier ein wichtiges Feld der Qualitätsentwicklung und -sicherung vor sich, um auch zukünftig wertvolle Beziehungserfahrungen für Kinder zu ermöglichen.

Literatur

Gloger-Tippelt: Antrittsvorlesung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Februar 1999

Grossmann, K.: Kontinuität und Konsequenzen der frühen Bindungsqualität während des Vorschulalters. In: Spangler, Zimmermann (Hg): Die Bindungstheorie; Grundlagen, Forschung und Anwendung, Stuttgart 1999, S. 191ff.

Magai, C.: Bindung, Emotionen und Persönlichkeitsentwicklung. In: Spangler, Zimmermann (Hg): Die Bindungstheorie, a.a.O., S. 140ff.

Main, M.: Desorganisation im Bindungsverhalten. In: Spangler, Zimmermann (Hg): Die Bindungstheorie, a.a.O., S. 120ff.

Spangler, G.: Die Rolle kindlicher Verhaltensdispositionen für die Bindungsentwicklung. In: Spangler, Zimmermann (Hg.); Die Bindungstheorie, a.a.O., S. 178ff.

Zimmermann, P.: Bindungsentwicklung von der frühen Kindheit bis zum Jugendalter und ihre Bedeutung für den Umgang mit Freundschaftsbeziehungen. In: Spangler, Zimmermann (Hg): Die Bindungstheorie, a.a.O., S. 203ff.

Autor

Hans-Joachim Rohnke
Dipl.-Päd. & Dipl.-Sup., DGSv
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