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Zitiervorschlag

Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Ilse Pichottka

Manfred Berger

 

Anfang der 1950er Jahre unternahm Ilse Pichottka eine Studienreise durch die USA. Hier lernte sie die bedeutenden Psychologinnen Charlotte Bühler und Virginia Axline kennen. Beide Frauen hatten einen wichtigen Einfluss auf Ilse Pichottka. Nach Deutschland zurückgekehrt, gründete sie zusammen mit dem Nervenarzt Heinrich Adam in München, angeregt durch ihre amerikanischen Erfahrungen, eine private "Psychologische Beratungs- und Forschungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern", bestehend aus einem Team verschiedener Fachdisziplinen (aus Psychiatrie, Psychologie, Heilpädagogik, Sozialarbeit und Medizin). Sie nannte später ihre Gründung "Stern-Institut", dem bald ein "Beobachtungskindergarten" für verhaltensschwierige Kinder angegliedert wurde. Mit der Namensgebung des Instituts wollte Ilse Pichottka den 1934 von den Nazis vertriebenen Psychologen William Stern ehren, "den Vertreter einer differentiellen Psychologie, Verfasser einer Reihe von Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes und des Buches 'Psychologie der frühen Kindheit bis zum 6. Lebensjahr'. Die Berufung auf William Stern sollte aber keine Beschwörung der Vergangenheit sein, sondern ein Appell zur Intensivierung von Forschungsaufgaben aus dem Gebiet der Frühkinderpädagogik" (Zorell 1987, S. 30 f).

Methodisch und therapeutisch orientierte sich das "Stern-Institut", das bald als Vorbild für ähnliche Einrichtungen diente, an dem von Carl Rogers und von Virginia Axline weiterentwickelten "nicht-direktiven Verfahren". Dementsprechend hatte für Ilse Pichottka das Spiel des Kindes hohe Bedeutung und Aussagekraft sowie heilende Kräfte: "Das Spiel des Kindes und die Reaktion des Psychologen darauf ist nichts anderes als ein Gespräch ... Der Therapeut erfährt durch das Spiel des Kindes, durch sein Handeln, seine Gesten, was in ihm vorgeht. Er ist ganz aufmerksam auf das, was das Kind tut. Das spürt das Kind und wird dadurch angeregt, mehr zum Ausdruck zu bringen, mehr zu 'sagen'. Es sagt auf diese Weise oft Dinge, die ihm selbst gar nicht bewusst sind ... Ziel (der Spieltherapie; M. B.) ist, das Symptom, dessentwegen es zur Spieltherapie gekommen ist, sein Bettnässen, Stottern, Lügen, seine Aggression, Gehemmtheit ..., zum Verschwinden zu bringen ... In der Regel sind diese Fehlformen des Verhaltens ... noch keine Anzeichen für eine Erkrankung oder gar anomale Veranlagung. Sie sind eher Zeichen einer gesunden Forderung. Das Kind will, ohne dass es ihm bewusst ist, sagen: etwas ist nicht in Ordnung, etwas ist schief gelaufen in meinem bisherigen Leben. Bitte bring es in Ordnung! Das Symptom ist nichts anderes als ein Hilferuf" (Pichottka 1979, S. 524).

Ilse erblickte am 4. Mai 1909 als jüngstes von drei Kindern des Lehrers Richard Pichottka und seiner Ehefrau Adelheid (geb. Exner) in Berlin-Charlottenburg das Licht der Welt. Im Alter von 6 bis 9 Jahren wurde sie vom Vater privat unterrichtet. Anschließend besuchte das Mädchen eine öffentliche Volksschule. Nach Absolvierung des "Lyzeums" und einer halbjährigen hauswirtschaftlichen Ausbildung legte Ilse Pichottka Oktober 1928 am "Sozialpädagogischen Seminar des Vereins Jugendheim Charlottenburg" die staatliche Kindergärtnerinnen- und Hortnerinnenprüfung ab. Nach einer weiteren Ausbildung zur Jugendleiterin, diversen Studienreisen, praktischen Tätigkeiten in der Jugendarbeit und im Kindergarten nahm sie das Studium der Psychologie auf. Ilse Pichottka studierte in Berlin, Jena und München. In letztgenannter Stadt promovierte sie im August 1946. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über "Bildaussagen als Ausdruck kindlichen Erlebens", die seinerzeit wesentlich die Theorie des Bilderbuches beeinflusste. Aufgabe und Ziel ihrer Dissertation waren, "an Hand von spontanen Äußerungen drei- bis fünfjähriger Kinder beim Betrachten von Bildern in die Erlebniswelt des Kleinkindes einzudringen. Darüber hinaus will sie aus der Erlebnisweise einen Rückschluss auf die Wesensart des Kleinkindes ziehen" (Pichottka 1946, S. 1).

Als in den 1960er Jahren die Kindergartenpädagogik ins Kreuzfeuer der Kritik geriet und die Zeit der Frühlesebewegung und Überbewertung der kognitiven Erziehung begann, ausgelöst durch das Buch von Glenn Doman "Wie kleine Kinder lesen lernen" in der Bearbeitung von Prof. Heinz-Rolf Lückert, setzte sich Ilse Pichottka mit enormer Vehemenz gegen diese Modewelle (verbunden mit unzähligen Lernprogrammen für den Kindergarten) und für den "wahren Auftrag des Kindergartens" ein. Die Publikation von Glenn Doman beurteilte sie als "unsachlich, logisch primitiv und ohne psychologisches Verständnis geschrieben". Allein schon darum könne man "der Propagierung des Lesens im Kleinkindalter nicht zustimmen - nicht aus Mangel an Aufgeschlossenheit für moderne Ideen, sondern weil die Gründe, die dafür sprechen, nicht einsichtig genug sind, um es zu verantworten, Kinder zu voreiligen Experimenten in so breitem Rahmen heranzubilden" (Pichottka 1967, S. 251).

Vielmehr verteidigte Pichottka die Fröbelschen Erziehungsprinzipien, die seinerzeit als "verkrustet" belächelt wurden. Dabei versuchte die Psychologin, das Bild des Kindergartenbegründers von allen Verengungen zu befreien: "Man kann den Eindruck nicht ganz los werden, als wenn es diejenigen sind, die Fröbels Gedankengut nicht ganz aufgenommen und verstanden haben, die ihn jetzt als überholt und nahezu lächerlich hinstellen. Sie neigen dazu, alles, was z.Z. in unseren Kindergärten nicht in Ordnung ist (und das ist viel!), auf das Festhalten an Fröbel zurückzuführen ... Wer Fröbel wirklich verstanden hat, nicht den Buchstaben, sondern seine Grundkonzeption weiter beachtet, wer ihn mit den reichen Erkenntnissen der Kinderpsychologie (von der er intuitiv viel vorweggenommen hat) zu verbinden versteht, kann - sofern die äußeren Bedingungen es nicht vereiteln - gute Vorschulerziehung leisten, auch ohne spezielle Förderungsprogramme zu benutzen. Er braucht nur Überlegung, Phantasie und Engagement, um die Lebenssituation im Kindergarten so auszunutzen, daß sie die gleichen Bildungschancen eröffnet, wie ein Programm. Freilich muß auch das gelernt sein!
Das soll nun nicht etwa heißen, daß gezielte Lernprogramme grundsätzlich zur Anwendung im Kindergarten abgelehnt werden sollen. Abgelehnt wird nur die kritiklose Annahme, daß sie allein geeignet seien, eine Kindergartenreform herbeizuführen und den bisher so vernachlässigten Kindergarten zu einer besser für das Leben in der zukünftigen Gesellschaft vorbereitenden Institution zu machen.
Die Gläubigkeit den Lernprogrammen gegenüber wird stark ernüchtert, wenn man den Aufsatz von Schmalohr 'Möglichkeiten und Grenzen einer kognitiven Frühförderung' ... liest. Schmalohr weist an drei verschiedenen Förderungsprogrammen: 'Sprachförderungsprogramm', 'Arithmetische und mathematische Programme' und 'Frühleseprogramme' nach, daß die erzielte Förderung jeweils nur ein eng umrissenes Gebiet betrifft und nicht zu einer höheren Leistung der kognitiven Fähigkeiten in weiterem Rahmen führt"(Pichottka 1979, S. 99 f).

An anderer Stelle plädierte die Psychologin, das Lernen des Kleinkindes betreffend, kurz und bündig dafür: "Das Kleinkind will lernen - das ist richtig. Aber es will durch Erfahrung lernen, durch Probieren, Tätigsein, durch eigenständige Aktionen und Unmittelbarkeit, nicht durch von außen herangetragene Abstraktion, Assoziation und Dressur" (Pichottka 1967, S. 252).

Bereits seit Dezember 1944 arbeitete Ilse Pichottka als wissenschaftliche Hilfskraft, später als wissenschaftliche Assistentin und Dozentin für Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität München. Des Weiteren engagierte sie sich als Beraterin für Erziehungsfragen beim Bayrischen Rundfunk und als aktives Mitglied im "Pestalozzi-Fröbel-Verband e.V.". Daneben war sie rege schriftstellerisch tätig, veröffentlichte einige Monographien (beispielsweise "Mutti, was soll ich spielen?", 1948; "Das Leben beginnt in der Kinderstube", 1955; "So wachsen Kinder in die Welt", 1968; oder "Spiel ist keine Spielerei", o.J.) und zahlreiche Aufsätze in psychologischen und sozialpädagogischen Fachzeitschriften. Seit der Gründung des "Staatsinstituts für Frühpädagogik" (1972) wirkte sie auch dort bei Veranstaltungen und in Veröffentlichungen mit. Bis Anfang der 1980er Jahre war Ilse Pichottka in Wort und Schrift aber auch noch als Kindertherapeutin praktisch tätig. Sie starb nach längerer schwerer Krankheit am 11. September 1986 in München.

Literatur

Berger M.: Ilse Pichottka - Ein Leben für "schwererziehbare" Kinder, in: Spielmittel 1995/H. 1

Ders.: Pichottka, Ilse, in: Maier, H. (Hrsg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg 1998

Pichottka, I.: Bildaussagen als Ausdruck kindlichen Erlebens, München 1946 (unveröffentl. Dissertation)

Dies.: Das Kleinkind lernt auf seine Weise, in: Unsere Jugend 1967/H. 6

Dies.: Was heißt Vorschulerziehung?, in: Blätter des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes 1979/H. 3

Zorell, E.: Gedenken für Dr. Ilse Pichottka, in: Sozial-pädagogische Blätter 1987/H. 1