Petra Wagner
Kleine Kinder haben doch noch keine Vorurteile, heißt es. Oder: Lasst die Kleinen spielen und belastet sie nicht mit so etwas, der Ernst des Lebens kommt noch früh genug! Oder: Erst indem man darüber spricht, bekommen die Kinder die Idee, dass es so etwas wie Vorurteile gibt! Also ist es doch viel besser, darüber Stillschweigen zu bewahren!
Solche und ähnliche Äußerungen sind sicher schonend und rücksichtsvoll gemeint. Aber das Abwehren des Themas "Vorurteile und Diskriminierung" führt dazu, dass Kinder mit unangenehmen Erfahrungen allein bleiben, die sie bereits im Kindergarten machen:
- Jana darf nicht mitspielen, weil sie ein Mädchen ist.
- Benjamin will nicht, dass die anderen "Schokokeks" zu ihm sagen, aber sie tun es trotzdem.
- Songül und Murat werden aus der Puppenecke verdrängt, weil sie "so komisch reden".
- Zu Dim sagen manche "Schlitzauge".
- Über Carlottas Mama haben neulich ein paar Kinder gelacht, weil sie dick ist.
- Robert wurde noch nie zum Geburtstag eingeladen. Er leidet an Muskelschwäche.
Es sind Erfahrungen, mit dem Verweis auf ein bestimmtes, meist äußeres Merkmal abgewertet, gehänselt oder ausgegrenzt zu werden. Dabei ist es kein Zufall, welche Merkmale hervorgehoben werden. Sie spiegeln gesellschaftliche Bewertungen wider, die entlang der Unterscheidung nach Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Sprache, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung, sozialer Schicht oder körperlicher Besonderheit existieren. Diese Bewertungen sagen etwas über den gesellschaftlichen Status von Menschen oder Menschengruppen aus, über Privilegien oder Benachteiligungen in bestimmten Konstellationen und Situationen.
Kinder sind vor diesen Realitäten nicht abzuschirmen. Wach und aktiv, wie sie sind, entnehmen sie ihrer Umgebung ständig Informationen über die Beschaffenheit dieser Welt, auch der sozialen Welt. Ihre "Vor-Vorurteile" bringen die eigensinnigen Schlussfolgerungen zum Ausdruck, die sie je nach ihrem kognitiven Entwicklungsstand aus Erfahrungen mit ihrem Körper und aus Beobachtungen ihrer sozialen und materiellen Umgebung ziehen. Beobachtungen zeigen, dass bereits Kleinkinder Unterschiede wahrnehmen und sich bereits im dritten Lebensjahr beeinflusst zeigen von den gesellschaftlichen Bewertungen dieser Unterschiede.
Was wissen wir über Vorurteile bei Kindern?
Im deutschsprachigen Raum fehlt es bislang an Untersuchungen, wann und wie Kinder damit beginnen, sich auf Unterschiede bei Menschen zu beziehen wie ihre Hautfarbe, ihre Herkunft, ihr Geschlecht, Behinderungen und sozialer Status. Die meisten der vorliegenden Untersuchungen stammen aus den USA (Mac Naughton 2006, S. 3). Glenda Mac Naughton, Erziehungswissenschaftlerin in Australien, hat in einem aktuellen Überblick die Untersuchungsergebnisse nach den Bereichen Herkunftskultur/ Hautfarbe, Gender, Behinderung und sozioökonomische Vielfalt systematisiert und ebenfalls zusammengetragen, welche Erkenntnisse zur Wirksamkeit pädagogischer Interventionen vorliegen:
Hautfarbe/ Herkunft (1)
- Bereits mit 9 Monaten beginnen Kinder, unterschiedliche Hautfarben wahrzunehmen. Im Alter von drei Jahren haben sie ein Bewusstsein davon, dass sich Menschen nach Hautfarbe und Haarstruktur unterscheiden.
- Sowohl Kinder der Weißen Mehrheit als auch von Nicht-Weißen Minderheitengruppen haben bereits mit drei Jahren ein positives Bild von Weißen und ein negatives Bild von Schwarzen (ebd., S. 4).
- Kinder zwischen 5 und 8 Jahren äußern Ablehnung gegenüber Menschen, die eine andere Sprache sprechen als sie selbst, und sie verbinden anerkannte Berufe mit heller Hautfarbe (ebd., S. 6).
- Einseitigkeiten und Vorurteile müssen direkt angesprochen und kontinuierlich zum Thema gemacht werden.
- Das Zusammensein in einer Gruppe mit Kindern, die unterschiedliche äußere Merkmale haben, ändert alleine nichts an den Vor-Vorurteilen der Drei- bis Fünfjährigen.
- Ist das gemeinsame Lernen nicht verbunden mit dem expliziten In-Frage-Stellen von Einseitigkeiten und Vorurteilen, so kann es sogar dazu führen, dass sich Vorurteile unter den Kindern verstärken.
Behinderungen/ körperliche Besonderheiten
- Kinder ab drei Jahren reagieren auf Behinderungen je nachdem, wie offensichtlich sie sind. Je offensichtlicher die Behinderung, desto bewusster sind sie sich des Unterschieds.
- Bei Kindern zwischen drei und acht Jahren sind positive wie auch negative Haltungen gegenüber Behinderungen festzustellen.
- Kinder mit Behinderungen haben weitaus eher mit Ablehnung durch die Gleichaltrigen zu kämpfen als Kinder ohne Behinderung (2).
- Zwischen fünf und acht Jahren äußern Kinder Vorurteile und stereotype Vorstellungen gegenüber Behinderten und bezeichnen sie als "nicht normal".
- In Einrichtungen, in denen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam lernen, kommt es nicht automatisch zu guten Kontakten zwischen ihnen.
- Das Zusammensein kann bei den behinderten Kindern zu einem negativen Selbstwertgefühl führen, wenn sie häufig die Erfahrung machen, abgelehnt zu werden und sich ständig als weniger kompetent erleben.
- Wenn Erzieher/innen die Kontakte bewusst fördern und Respekt für die Kinder mit Behinderung explizit zum Thema machen, zeigen nichtbehinderte Kinder eine positive Haltung gegenüber den Gleichaltrigen mit Behinderung.
- Ist es den Kindern vollkommen selbst überlassen, mit wem sie spielen wollen, so bleiben nichtbehinderte Kinder unter sich und behinderte Kinder werden nicht in ihr Spiel einbezogen. (ebd., S. 12)
- Das Vorbild der Erzieher/innen ist wichtig: Wenn sich Erzieher/innen gegenüber Behinderten respektvoll und verhalten und sie einbeziehen, so ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass auch die Kinder Behinderte respektieren.
Geschlecht
- Mit drei Jahren verfügen Kinder über ein Bewusstsein ihrer geschlechtlichen Identität. Gemeint ist damit das Wissen darum, biologisch weiblich oder männlich zu sein und diese Tatsache zu akzeptieren (ebd., S. 16). Dazu gehört die Wahrnehmung anatomischer Merkmale und ihre Zuordnung zu Geschlecht.
- Mit drei Jahren wissen Kinder auch, welche Spielvorlieben, Verhaltensweisen und Erwartungen die Erwachsenen in ihrem Nahraum mit ihrem Geschlecht verbinden.
- Kinder entwickeln früh geschlechtsstereotype Verhaltensweisen und Gefühle. Sie halten zunehmend daran fest und verhalten sich in Übereinstimmung mit den stereotypen Vorstellungen davon, wie Jungen und Mädchen sich zu verhalten haben.
- Im Alter zwischen drei und acht Jahren zeigen Kinder Vorurteile und eine deutliche Abgrenzung gegen die Kinder des jeweils anderen Geschlechts.
- Kinder sehen die männliche Rolle tendenziell eher als wünschenswert an und bewerten "männliche Aktivitäten" höher.
- Erzieher/innen in Kindertageseinrichtungen reagieren unterschiedlich auf Mädchen und Jungen. Sie tun es auf eine Weise, die stereotype Geschlechterrollen festigt.
- Werden Geschlechterstereotype im Kindergarten bewusst in Frage gestellt, so zeigen sich leichte Veränderungen nur nach monatelanger Intervention und sind selbst dann nicht von Dauer.
- Geschlechterstereotype Verhaltensweisen und Einstellungen haben Auswirkungen auf Berufswahl und Bildungschancen. Die daraus resultierende Benachteiligung trifft noch immer insbesondere Mädchen und Frauen (ebd., S. 18).
Sozio-ökonomischer Status
- Hierzu ist die Datenlage sehr dünn. Die wenigen Untersuchungen deuten darauf hin, dass Kinder bereits im Kindergartenalter sozio-ökonomische Unterschiede wahrnehmen und stereotype Vorstellungen auszubilden beginnen (ebd., S. 22).
- Im Kindergartenalter unterscheiden Kinder "arm" und "reich".
- "Arm" und "reich" sind die Gegensätze in ihren ersten Vorstellungen von sozio-ökonomischer Gruppenzugehörigkeit.
- Grundschulkinder akzeptieren ökonomische Ungleichheit. Sie äußern stereotype Vorstellungen zu sozialer Mobilität und Klassenaufstieg/ -abstieg.
- Freundschaftsbeziehungen sind häufig innerhalb derselben sozio-ökonomischen Gruppe angesiedelt.
- Kinder mit höherem sozialen Status sind besser angesehen als Kinder mit niedrigem sozio-ökonomischen Status. Letztere werden als Spielpartner häufiger abgelehnt.
Soziale Ungleichheit, Vorurteile und Diskriminierung sind also von einem frühen Alter an auch Angelegenheiten der Kinder. Die Botschaften, aus denen sie sich die Welt erklären, erhalten sie von ihren Bezugspersonen, aus den Medien, aus ihrem Umfeld. Darunter sind Ideologisierungen, Fehlinformationen und Verzerrungen der Wirklichkeit. Kinder entnehmen sie dem, was ihre Bezugspersonen sagen, tun oder unterlassen. Auch das Nicht-Handeln von Erwachsenen hilft ihnen bei der Einordnung: Wenn Erwachsene beispielsweise Hänseleien oder Ausschluss geschehen lassen, keinen Widerstand dagegen leisten, keine Beispiele von Solidarisierung und zivilgesellschaftlichem Engagement erfahrbar sind, so können Kinder schlussfolgern, Ungerechtigkeiten wie die Abwertung und Ausgrenzung von Menschen seien in dieser Welt "normal" und müssten hingenommen werden.
Dabei sind die Auswirkungen unterschiedlich je nachdem, welcher sozialen Gruppe ein Kind angehört. Trifft sie die Abwertung auf Grund bestimmter äußerer Merkmale und korrespondiert dies mit Marginalisierung und Nicht-Akzeptanz ihrer Familie oder Bezugsgruppe in der Gesellschaft, so haben sie mit dieser Zuschreibung von Minderwertigkeit zu kämpfen. Aber auch für Kinder der in einem bestimmten Merkmal privilegierten und sozial anerkannten Gruppe sind die stereotypen und abwertenden Botschaften über andere eine problematische Grundlage für ihr soziales Lernen und Handeln. Der Glaube an die eigene Höherwertigkeit verbunden mit der Vorstellung von Minderwertigkeit der anderen setzt auf die Unterschiede und ignoriert die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen. Empathie für andere kann sich nur schwer entwickeln, Solidarisierung mit anderen gegen Ungerechtigkeiten ist unwahrscheinlich. Empathie und Solidarität sind aber notwendig, um zivilgesellschaftliche Verantwortung für menschenwürdige und gerechte Verhältnisse zu übernehmen. Sie zu übernehmen ist auch ein Gebot der Vernunft, denn Ungerechtigkeit und Ausgrenzung bedrohen letzten Endes alle.
Die mit Ausgrenzung und Diskriminierung verbundene Gefahr der Einschränkung und Begrenzung der Bildungsansprüche und Entwicklungspotenziale von Kindern muss Erwachsene - insbesondere pädagogische Fachkräfte - alarmieren. Und auffordern, sich damit zu beschäftigen und sich des Vorhandenseins und der Auswirkungen von Vorurteilen und Diskriminierung bewusst zu werden.
Die eigene Praxis auf Vorurteile und deren Auswirkungen hin reflektieren
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung setzt bei den Erwachsenen an, die mit den jüngsten Kindern zu tun haben: Erzieher/innen in Kindertageseinrichtungen (3). Dabei geht ausdrücklich nicht darum, dass sie als "Vorbilder" von Kindern und Eltern vorurteilsfrei zu sein hätten, denn dies ist schlicht unmöglich.
Niemand ist frei von Vorurteilen. Jeder und jede denkt in Verallgemeinerungen, bewertet eine ganze Gruppe auf der Grundlage einer einzelnen Erfahrung oder auch ohne jegliche persönliche Erfahrung. Häufig wird die Meinung vertreten, dass Vorurteile "positiv" seien in dem Sinne, dass sie die vielen Eindrücke sortieren helfen, denen man täglich ausgesetzt sei. Dass Kategorisierungen helfen, Erfahrungen und Sinnesreize zu ordnen, ist nicht zu bestreiten. Sie sind notwendige kognitive Strategien zur Regulation von Wahrnehmung: Man kann nicht nicht kategorisieren.
Doch damit können Vorurteile nicht legitimiert werden. Sie müssen in ihren Auswirkungen reflektiert werden. Zu unterscheiden sind die Auswirkungen von Vorurteilen im persönlich-privaten oder im beruflich-öffentlichen Rahmen. "Private" Vorurteile haben insbesondere Konsequenzen für einen selbst: Man meidet bestimmte Gruppen oder sucht sie, man lernt sie nicht kennen oder ist nur mit ihresgleichen zusammen. Die eigenen Vorurteile können den Radius sehr eng machen, innerhalb dessen man Erfahrungen macht.
Ganz anders sind die Konsequenzen von Vorurteilen, die im öffentlichen Rahmen zum Tragen kommen, insbesondere von Personen, die eine Machtposition bekleiden und deren Vorstellungen über andere Menschen einen großen Einfluss auf Entscheidungen und Abläufe haben, z.B. in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Lehrer/innen und Erzieher/innen gehören zu den Personen, die im Verhältnis zu Kindern mehr Macht haben und deren Wertvorstellungen und Normorientierungen einen großen Einfluss auf die Kinder ausüben, mit denen sie zu tun haben, insbesondere auf kleine Kinder. Positive Vorurteile gegenüber der sozialen Gruppe, der ein Kind angehört, können das Kind ermutigen, sich anzustrengen und viel zu leisten. Umgekehrt können negative und abwertende Vorurteile gegenüber der sozialen Bezugsgruppe von Kindern dazu führen, dass sich diese selbst nichts zutrauen und das negative Bild, das die Erzieher/innen von ihnen haben, in ihr Selbstbild übernehmen. Aus diesem Grund ist es für Erzieher/innen wichtig, kontinuierlich sich selbst als pädagogisch Handelnde zu reflektieren. Eine Fragestellung ist dabei, wie sich das eigene "kulturelle Gepäck" mit all seinen tradierten stereotypen und abwertenden Vorstellungen über bestimmte Gruppen auf das heutige berufliche Handeln auswirkt. Und auch, welche Zwänge und Widersprüche im beruflichen Alltag dazu verleiten, kindliches Handeln abzuwerten, Ausgrenzung zu rechtfertigen, Hänseleien zu verharmlosen, für bestimmte Kinder und Familien wenig Verständnis und Empathie aufzubringen usw. Ist der Zusammenhang erkannt, so kann wirklich an Problemlösungen gearbeitet werden - und Schuldzuweisungen an Kinder und Eltern können unterbleiben.
Beispiel
In einem Workshop zum Thema Diskriminierung sammeln Erzieher/innen die in ihrer Kindertageseinrichtung geläufigen Etikettierungen für Kinder. Es finden sich einige: "Stänkerfritze", "Kicherliese", "Schlaftablette", "Prinzessin auf der Erbse", "Heulsuse", "Luftikus", "Trampeltier" - häufig liebevoll gesagt. Aber als Sammlung wird deutlich, dass die Etikettierungen immer auch etwas Kränkendes haben, weil sie einem Kind bestimmte Eigenschaften zuschreiben und automatisch andere Seiten seiner Person ignorieren. Bei der Auswertung machen die Erzieher/innen eine interessante Entdeckung: Solche Etikettierungen werden dann in Anschlag gebracht, wenn Kinder mit einer "Besonderheit" in Erscheinung treten und dadurch den Ablauf "stören". Die Abläufe sind so an ein bestimmtes Tun in einem bestimmten Tempo gebunden, dass Kinder "stören", wenn sie langsamer oder schneller sind, wenn sie weinen oder kichern, wenn sie etwas nicht oder ganz anders machen wollen. Welche Funktion haben also die Etikettierungen? "Alle Kinder auf ein bestimmtes Mittelmaß zu drücken", sagen die Erzieher/innen und erkennen darin ein zentrales Bewegungsgesetz von Schule: Die Homogenisierung der Lerngruppen. Es ist ein Gesetz, auf das in Kindertageseinrichtungen verzichtet werden kann, denn hier gibt es glücklicherweise weder Noten noch Sitzenbleiben. Außerdem steht es unseren Bemühungen um "Respekt für die Vielfalt" diametral entgegen. Warum schleicht es sich dennoch ein? Es ist ein wichtiger Punkt, hier die Praxisreflexion weiterzutreiben: Was bringt uns dazu, ohne erkennbaren institutionellen Druck auf Homogenität zu drängen? Ist es eine Vorwegnahme schulischen Drucks, den wir bereits verinnerlicht haben? Warum bemerken wir nicht, dass Homogenisierung im Widerspruch zu unserem Anspruch steht, jedes einzelne Kind ernst zu nehmen? Und wie steht es mit der Anerkennung von Unterschieden im Team? Darf man sich im Team zu "außergewöhnlichen" Ideen oder Leistungen bekennen oder zu Meinungen, die von der Mehrheitsmeinung abweichen? (Beispiel aus dem Projekt KINDERWELTEN, www.kinderwelten.net).
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Solche Selbstreflexion als Reflexion der eigenen Praxis kann man nicht für sich alleine durchführen, sie muss im Kolleg/innen-Team erfolgen. Durch das Einbeziehen unterschiedlicher Sichtweisen kann die Reflektion differenzierter und vor allem handlungswirksam werden, indem sie dazu beiträgt, Teamentscheidungen zur Veränderung der Praxis zu begründen und verbindlich zu machen. Allerdings geht das nur, wenn es eine fachliche Verständigung im Team gibt. Sie steht im Kern von Prozessen der Teamentwicklung und darf nicht verwechselt werden mit einem freundschaftlichen Umgang untereinander. Eine fachliche Verständigung entwickelt sich durch die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Zielen und Vorgehensweisen, durch das Beleuchten von Theorien und Begriffen, die dazu beitragen, dass im Team zunehmend eine gemeinsame Sprache gesprochen wird.
Bildungs-Benachteiligung beginnt früh
Wovon hängen gelingende Bildungsprozesse ab? Bildung verstanden als der subjektive Aneignungsprozess, in dem sich der Mensch ein Bild von der Welt macht, meint die Prozesse, in denen man ein Bild von sich selbst, von anderen und vom umfassenderen Weltgeschehen macht. Diese Prozesse vollziehen sich immer in einem bestimmten sozial-kulturellen Kontext, in dem es einen tradierten Umgang mit Unterschieden gibt, eben den Unterschieden nach Geschlecht, Herkunft, Behinderung und sozio-ökonomischem Status. Der Kontext verweist auf die unterschiedlichen Ausgangslagen von Kindern, die ihren Zugang zur Welt beeinflussen. Die Hirnforschung betont die Wichtigkeit Sicherheit und Orientierung gebender Bindungsbeziehungen als Grundlage für Neugier, Aktivität und das Erforschen der Umgebung.
Aber nicht alle Kinder wachsen in sicheren Bindungsbeziehungen und in einer anregungsreichen Umgebung auf. Es gibt erhebliche Unterschiede, wie Kinder in sprachliche Kommunikation eingebettet sind. Wenn sie wenige Bezugspersonen haben, die zudem in einer engen, geschlossenen Welt leben und sich nur Wenigem interessiert zuwenden, bleibt auch die Kommunikation arm. Kindern entgeht dann eine Menge. Sie können viele Erfahrungen nicht machen, weil sie unsicher sind und ihre Neugier nicht herausgefordert wird. Ihr Gehirn erhält wenig "Futter", um die komplexen Verschaltungen auszubilden. Ihre Chancen steigen, wenn sie Bindungen zu Menschen aufbauen können, die weitere Aspekte der gegenständlichen und sozialen Welt erschließen helfen.
Anregungsreiche Kindergärten und Beziehungen zu Erzieher/innen, die ihre Fähigkeiten, Interessen und Grundhaltungen erfahrbar machen, können insbesondere diese Kinder zu Bildungsprozessen anregen. Vorausgesetzt, sie vermitteln jedem Kind, an diesem Ort willkommen, geschützt und anerkannt zu sein. Der Besuch eines Kindergartens ist für die meisten kleinen Kinder nicht nur die erste Erfahrung mit einer fremden, öffentlichen Einrichtung, die in Vielem anders funktioniert als das Familienleben. Der Besuch des Kindergartens ist für kleine Kinder immer auch mit Trennungserfahrungen von den nächsten und wichtigsten Bezugspersonen verbunden. Diese "Krise" können sie meistern, wenn der Kindergarten ein Ort ist, der ihnen positive Resonanz gibt, auch auf ihre Herkunft und auf ihre Familie: "Du bist hier richtig, du bist hier sicher, du hast hier deinen Platz. Wir sehen dich, wir wollen, dass es dir gut geht, wir interessieren uns für das, was du schon weißt und kannst. Und wir geben dir etwas, das dich interessieren könnte."
Finden Kinder im Kindergarten nichts, woran sie mit ihren Vorerfahrungen anknüpfen können, bleiben sie passiv. Bekommen sie zudem die Botschaft, ihre häusliche Kultur sei "unnormal" oder nicht wichtig, so sind sie verunsichert und gehemmt und können ihre Fähigkeiten kaum zeigen. Dann können sie die Möglichkeiten im Kindergarten kaum nutzen und entwickeln sich nicht weiter. Werden Kinder hingegen bestärkt in dem, wer sie sind und was sie mitbringen, so werden sie eher aktiv. Erleben sie Respekt und Zustimmung auch für ihre Familie und für ihre Familienkultur, so können sie eine Verbindung zwischen sich und der Lernumgebung Kindergarten herstellen. Sie beteiligen sich mit Selbstsicherheit und Freude und zeigen Lust am Lernen.
Gefragt sind also Bildungskonzepte, die unterschiedliche Ausgangslagen und Lebensverhältnisse berücksichtigen, ohne die Kinder zu stigmatisieren und ohne ihre Bildungsansprüche zu ermäßigen: "Alle Kinder sind gleich", was ihre Rechte auf Entfaltung und Bildung, auf Identität und Schutz angeht. "Und jedes Kind ist besonders", was seine Voraussetzungen, seinen Weltzugang, seine Erfahrungen, seine Familienkultur angeht.
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung ist ein pädagogischer Ansatz, der in Kalifornien entwickelt und im Rahmen des Projekts KINDERWELTEN für die Verhältnisse in Deutschland adaptiert wurde (Preissing/ Wagner 2003). Der "Anti-Bias Approach" von Louise Derman-Sparks und ihren Kolleg/innen (1989) setzt auf die bewusste Auseinandersetzung mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten und gleichzeitig auf eine deutliche Positionierung gegen Vorurteile, Diskriminierung und Einseitigkeiten. Dieses Praxiskonzept für Kindertageseinrichtungen orientiert auf vier Ziele, die aufeinander aufbauen:
- Im ersten Ziel geht es darum, alle Kinder in ihrer Identität zu stärken, wozu die Anerkennung ihrer Vorerfahrungen und Familienkulturen gehört.
- Das zweite Ziel ist, allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt zu ermöglichen, indem sie sie aktiv und bewusst erleben.
- Das dritte Ziel ist, kritisches Denken über Vorurteile, Einseitigkeiten und Diskriminierung anzuregen.
- Im vierten Ziel geht es darum, Kinder darin zu unterstützen, sich gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung zu wehren.
Die Arbeit am ersten Ziel "Kinder in ihrer Identität stärken" wird zunächst eher als einfach eingeschätzt, handelt es sich hier doch um Ansprüche, die man aus der Kindergartenpädagogik kennt. Das Ziel der Stärkung von Identität geht jedoch über das hinaus, was man gemeinhin mit der Stärkung persönlicher Ressourcen meint. Die Identifikationen des Kindes mit seinen sozialen Bezugsgruppen, allen voran mit seiner Familie als primäre Bezugsgruppe, werden als untrennbarer Teil seiner persönlichen Identität verstanden. Um ihre Anerkennung geht es, denn kleine Kinder konstruieren ihr Bild von sich und von anderen auch aus den Bewertungen von sozialen Bezugsgruppen, die sie in ihrem Umfeld wahrnehmen.
Pädagogische Fachkräfte müssen darüber Bescheid wissen. Und sie müssen wissen, wie sie in Erfahrung bringen können, welche Bezugsgruppen für das jeweilige Kind Bedeutung haben und was die Lebenswirklichkeit dieser Bezugsgruppen kennzeichnet. Sofern diese sich sehr von ihrer eigenen unterscheidet, müssen pädagogische Fachkräfte ihre "blinden Flecken" eingestehen: Wer nicht allein erziehend ist, braucht Informationen von allein erziehenden Eltern, um nicht seinen stereotypen Bildern aufzusitzen, die sich eventuell an der unreflektierten Vorstellung von "Idealfamilien" (Vater - Mutter - Kind) orientieren. Wer gut ausgebildet ist und (noch) eine Arbeitsstelle hat, kann sich u.U. schwer vorstellen, wie es ist, über beides nicht zu verfügen. Wer einsprachig ist, weiß wenig davon, wie es ist, sein Leben in mehreren Sprachen zu organisieren.
Praxisbeispiel
Familienwände enthalten großformatige Fotos der Familien der Kinder, angebracht auf Augenhöhe, an einer gut einsehbaren Stelle des Kindergartens. Die Auswahl und Zusammenstellung geschieht mit den Familien gemeinsam. Sie definieren, wer zu den Bezugspersonen ihres Kindes gehört, wer alles ihre Familie ausmacht. Dominiert die Erzieherin die Definition mit ihrer Normvorstellung von Familie, so haben Eltern und Kinder, deren Familie von dieser Norm abweicht, kein Zutrauen. Sind wirklich die Personen abgebildet, die dem Kind nahestehen, so schafft die Familienwand eine wichtige Verbindung zwischen Familie und Kindergarten. Sie repräsentieren die Familien als primäre Bezugsgruppen von jedem einzelnen Kind: "Das bin ich und das ist meine Familie!" Diese Repräsentation erleichtert wiederum die Identifikation des Kindes mit dem Kindergarten: "Ich und meine Familie sind an diesem Ort willkommen!" Die Familienwand kann für Kinder ein Ort des Trostes sein, und sie ist häufig der Anlass für Gespräche unter Kindern, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
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Im zweiten Ziel vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung geht es darum, allen Kindern "Erfahrungen mit Vielfalt zu ermöglichen". Es wird bewusst eine Quelle von Vielfalt genutzt, die in jeder Gruppe vorhanden ist und zu der folglich jedes Kind Zugang haben kann, unabhängig von seinen sonstigen Lernchancen und Voraussetzungen: Dass Menschen sich unterscheiden, nach Aussehen, Kleidung, Verhalten, Sprache, Fähigkeiten und Gewohnheiten. Dass sie mit unterschiedlichen Gegenständen hantieren und Unterschiedliches hervorbringen. Dass ihnen Unterschiedliches wichtig ist und sie die Welt unterschiedlich erklären. Auf der Grundlage von Respekt und Anerkennung für die Eigenheiten jedes einzelnen Kindes und seiner Familie (Ziel 1: Stärkung von Ich- und Bezugsgruppenidentität) werden Erfahrungen mit Menschen, die anders aussehen und sich anders verhalten als sie selbst, gezielt ermöglicht und thematisiert. Kinder sollen sich mit ihnen wohl fühlen, sowie Empathie und Respekt für Vielfalt entwickeln können.
Kontakt alleine reicht nicht aus. Es gibt heterogene Gruppen, die jahrelang zusammen sind und in denen es dennoch kaum Annäherung gibt. Vielfalt muss aktiv erlebt werden. Erzieher/innen müssen ganz bewusst Aspekte von Vielfalt in die Aufmerksamkeit der Kinder bringen. Dazu kann gehören, was und wie jemand isst, wo die Großeltern leben, wie jemand mit Rollstuhl eine Treppe überwindet, womit man gerne spielt, wer welche Augenfarbe hat und wie viele Augenfarben es wohl gibt, wie man in unterschiedlichen Sprachen "Ei" sagt. Kinder müssen tätige und sinnliche Erfahrungen mit Unterschieden machen: Gemeinsam mit Mouniras Mama Fladenbrot backen, sich mit einem Rollstuhl fortbewegen, sich die Haare frisieren wie Bens Bruder. Unterschiede müssen so thematisiert werden, dass sie Kinder kognitiv und sprachlich herausfordern, indem sie zum Vergleichen, Aufeinanderbeziehen, Differenzieren anregen. Gespräche darüber sollen in einer Sprache geschehen, die respektvoll, einfach, sachlich, nüchtern und direkt ist.
Gerade dann, wenn Äußerungen der Kinder über andere Menschen drastisch, abwertend oder unhöflich erscheinen, ist es wichtig, respektvolle Worte für ihre Beobachtungen und Gefühle zu finden. Und gleichzeitig deutlich zu machen, dass es Menschen weh tut, wenn man abfällig über sie spricht. Um dies zu können, müssen Erwachsene verstehen, wo ihr eigenes Unbehagen in Bezug auf Unterschiede liegt. Vorurteilsbewusste Erwachsene ermutigen Kinder, sich unbefangen zu Unterschieden zu äußern. Sie helfen ihnen, sich mit Unterschieden wohl zu fühlen.
Praxisbeispiel
Eltern sind eingeladen, zum mehrsprachigen Lesefest beizutragen, indem sie in bestimmten Ecken des Kindergartens ein Buch in ihrer Familiensprache vorlesen oder eine Geschichte erzählen. Für alle Kinder ist es anregend: Die einen erleben, dass ihre Eltern etwas Wichtiges im Kindergarten tun und haben auch Stoff für Gespräche zuhause. Die anderen hören Geschichten in einer Sprache, die sie nicht verstehen, aber sie bekommen etwas mit vom Klang, von der Konzentration der Zuhörenden. Und auch sie erleben, dass die Eltern von Kindern, die bisher nicht so aktiv in Erscheinung getreten sind, etwas Wichtiges beitragen können.
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Das dritte Ziel, kritisches Nachdenken über Vorurteile, Einseitigkeiten und Diskriminierung anzuregen, erscheint pädagogischen Fachkräften spontan schwierig. Sie können aber darauf bauen, dass Kinder ab etwa 4 Jahren in der Lage sind, Bilder und Verhaltensweisen als "unfair" oder "unwahr" zu erkennen, die Menschen stereotypisieren oder diskriminieren. Von Erwachsenen brauchen sie Unterstützung in Form von Beistand und sachlicher Information, wenn sie selbst diskriminiert werden. Sie müssen ausdrücken können, was es ihnen ausmacht, wenn sie gehänselt oder ausgeschlossen werden. Sie müssen dafür Worte finden. Nur dann können sie auch unfaires Verhalten gegenüber anderen als solches benennen und zurückweisen. Von Erzieherinnen und Lehrer/innen verlangt dies eine Gesprächsführung, die Kindern hilft, ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken. Eine Gesprächsführung, die nach Gemeinsamkeiten fragt, nach etwas, wozu alle Kinder etwas zu sagen haben.
Um bei Vorurteilen und Diskriminierung eingreifen zu können, müssen Erwachsene von deren Schädlichkeit und Unrechtmäßigkeit überzeugt sein. Die kritische Auseinandersetzung mit Einseitigkeiten und Vorurteilen fordert also zu einer Klärung des eigenen moralischen "Navigationssystems" auf: Welche Werte sind mir aus welchen Gründen wichtig - und wodurch werden sie verletzt? Kritisches Denken lässt die Rechtfertigungen und Abwiegelungen erkennen, mit denen man die Folgen von Diskriminierung und Unrecht abschwächen möchte - um sich das Eingreifen zu ersparen. Kinder brauchen aber Erwachsene, deren Eintreten für Gerechtigkeit deutlich erkennbar ist. Sie müssen Kindern Schutz und Sicherheit zusichern.
Die Kommunikation in der Einrichtung und die Lernumgebung müssen immer wieder genau überprüft und untersucht werden: Ist das fair? Ist das gerecht? Entspricht das der Wahrheit oder ist es eine Verzerrung, um sich über Menschen lustig zu machen? Wie steht es um unsere Bücher? Finden hier alle Kinder Identifikationsangebote? Welche Erfahrungen und äußeren Merkmale tauchen auf, welche nicht?
Praxisbeispiel
Persona Dolls sind ganz besondere Puppen, denn sie haben wie Kinder eine Biographie, einen Namen, eine Familiengeschichte. Wie die Kinder auch sprechen sie zuhause Deutsch oder eine andere Sprache, sie haben helle oder dunkel Haut, gelocktes oder glattes Haar, sind blond oder dunkelhaarig... Sie kommen zu Besuch in die Kindergruppe und werden zu Freunden der Kinder. Sie berichten von ihren Erlebnissen, von schönen und auch von weniger schönen, wie Anna:
"Das ist Anna. Sie ist fünf Jahre alt. Sie lebt in Berlin mit ihrer Mama Tine. Annas Lieblingsfarbe ist rot. Deswegen hat sie sich rote Schuhe ausgesucht. Zum Geburtstag hat sie ein rotes Fahrrad bekommen. Damit fährt sie so gerne. Und schnell wie der Wind! Anna hat braune Augen. Und braune Haut. Genau wie ihr Papa, der hat auch braune Haut. Annas Mama sagt, die braune Haut hat sie von ihrem Papa bekommen, und die kleinen Öhrchen, die hat sie von ihrer Mama bekommen. Und dann kitzelt sie Anna am Ohr und Anna muss lachen. Da ist etwas, was Anna überhaupt nicht mag: Wenn Leute sie fragen: "Woher kommst du?" Und dann auch noch ihre Haare anfassen wollen. Anna findet das nicht schön, weil die Leute das nur bei ihr machen und nicht bei den anderen Kindern. Sie will nicht, dass fremde Leute ihre Haare anfassen. Was könnte Anna ihnen denn sagen, wenn das wieder passiert? Habt ihr eine Idee?"
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Das vierte Ziel fordert dazu auf, auch über die Wände des Gruppenraumes hinaus aktiv zu werden gegen Einseitigkeiten, Vorurteile und Diskriminierung. Kinder müssen die Erfahrung machen können, dass es sich lohnt, kritisch zu sein und konkrete Aktionen gegen Ungerechtigkeit zu unternehmen. Hier ist die Gefahr groß, dass Standpunkte und Ehrgeiz der Erwachsenen dominieren und man darüber das Ziel der Aktionen aus den Augen verliert: die Stärkung der Kinder ("empowerment"), indem sie sich als fähig und solidarisch mit anderen erleben, weil sie sich gemeinsam für eine gerechte Sache einsetzen.
Unfaire und ungerechte Vorfälle in der Kita sind Anlässe, aktiv zu werden. Das heißt in erster Linie, sie aus der Grauzone des Verschweigens ans Tageslicht zu bringen. Mit dem Öffentlichmachen zeigt man, dass man nicht einverstanden ist und etwas nicht hinnehmen will. Es steht der Neigung entgegen, Missstände eher abzuschwächen, zu rechtfertigen oder zu ignorieren, und ist daher ein mutiger Schritt. Hat die ungerechte Handlung erst einmal einen Namen, so kann sie nicht mehr so leicht abgetan werden.
Kinder entwickeln ihr Verständnis von Fairness und Gerechtigkeit auch über Erlebnisse und Beobachtungen außerhalb der Kita. Ein Bettler auf der Straße, jemand der betrunken ist, die Frau im Rollstuhl - das provoziert viele Fragen der Kinder. Warum hat der kein Geld? Was, wenn der Betrunkene gar nicht merkt, dass da ein Auto kommt? Wie soll die Frau mit dem Rollstuhl U-Bahn fahren, die Treppe ist ja so hoch? Mit den Antworten und Informationen, die sie bekommen, erweitern sie ihre Wissensbasis. Sie setzen sich selbst in Beziehung dazu, stellen Vergleiche an, entdecken Widersprüche und entrüsten sich: Manche Leute haben zwei Häuser und der Obdachlose hat keins! In diesem Film gibt es nur Jungen, keine Mädchen! Saliha kommt nicht mit zum Rummel, weil ihre Eltern kein Geld haben. Die Jugendlichen auf dem Spielplatz lassen die Kleinen nicht spielen und ärgern sie.
Kinder entrüsten sich über konkrete Fälle von Ungerechtigkeit, die sie gut verstehen und wenn sie sich in die Beteiligten gut hineinversetzen können. Dann entsteht bei ihnen der Wunsch, etwas zu tun, um die Ungerechtigkeit zu beenden. Ihre Ideen sind ebenfalls konkrete, kleine, direkte Schritte, die aus Erwachsenensicht vielleicht nicht viel bewirken: Für den Bettler etwas Taschengeld einsammeln, die Frau im Rollstuhl schieben, damit sie sich ausruhen kann. Es ist wichtig, sie bei diesen Vorhaben zu unterstützen und nicht durch eine komplexere Weltsicht zu bremsen. Kinder stellen nicht die Systemfrage und sind nicht eingeschüchtert durch Zweifel oder Misserfolge. Sie wollen helfen und damit etwas gegen Unfairness tun.
Praxisbeispiel
In einer Kindergruppe wird die Aufschrift "hautfarben" auf der Pflasterpackung zum Thema. "Was bedeutet das, was glaubt ihr?" fragt die Erzieherin. Dass dieses Pflaster zur Hautfarbe passt, meinen die Kinder. Es folgt eine kleine Untersuchung: Kinder vergleichen die Pflasterfarbe mit ihrer Hautfarbe, zuerst in der Gruppe, dann bei Kindern auf dem Schulhof, dann auch in ihren Familien. Sie stellen fest, dass die Bezeichnung "hautfarben" nicht korrekt und außerdem unfair ist, weil die meisten Kinder und Erwachsenen eine andere Hautfarbe haben. Sie schreiben dem Pflasterhersteller einen Brief und erhalten als Antwort eine Paket mit durchsichtigen Pflastern. Die Kinder sind erfreut, diese Pflaster finden sie fair! (berichtet in Derman-Sparks 1998, S. 11).
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Bildung und soziale Verantwortung
Erwachsene, die sich für Gerechtigkeit engagieren und gegen Ungerechtigkeit wehren, sind für Kinder wichtige Rollenmodelle. Sie lernen mit ihnen Menschen kennen, die auch widerstehen, zu manchem "nein" sagen und es nicht hinnehmen. Sie sind Vorbilder, die für Veränderung stehen und Kinder ermutigen, nicht alles hinzunehmen. Erleben Kinder in der Kita, dass ihre Erzieherin ungerechte und unfaire Handlungen anspricht, können sie lernen, dass man Hilflosigkeit und Ohnmacht überwinden kann. Dass es zum Impuls "Da kann man nichts machen!" doch Alternativen gibt.
Dies sind wichtige Lernerfahrungen, um in gesellschaftlichen Verhältnissen handlungsfähig zu sein, die von sozialer Ungleichheit, Ausgrenzung und Diskriminierung gekennzeichnet sind. In denen Menschen gefragt sind, die zivilgesellschaftliche Verantwortung übernehmen und Zivilcourage zeigen. Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung zielt auf Bildungsprozesse in genau diesem Sinne.
Vorurteilsbewusstes Arbeiten bedeutet, kritische Fragen an das eigene fachliche Handeln und dessen Auswirkungen zu stellen im Bewusstsein, dass Einseitigkeiten und diskriminierende Zuschreibungen das Lernen von Kindern behindern und damit zur Bildungsbenachteiligung beitragen.
Dies wird konkret in der Gestaltung der Lernumgebung und der Interaktion mit Kindern, auch der Zusammenarbeit mit Eltern und im Team. In einem bundesweiten Projekt beteiligen sich derzeit neben 40 Kindertageseinrichtungen erstmals auch Grundschulen und Erzieherfachschulen an der Implementation vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung (4). Sie übernehmen Verantwortung für eine vorurteilsbewusste Kultur des Aufwachsens, die das Recht auf Bildung mit dem Schutz vor Diskriminierung verbindet und beides für alle Kinder beansprucht.
Endnoten
- Das von Diehm/Kuhn (2005) geplante Projekt zu den Perspektiven von Kindergartenkindern auf Ethnizität könnte zu diesem Komplex erstmals Ergebnisse für den Kontext hier in Deutschland liefern.
- In einer Untersuchung gaben 30% der behinderten Kinder an, von den anderen abgelehnt und ausgeschlossen worden zu sein (Mac Naughton 2006, S. 11).
- Im Projekt KINDERWELTEN wurde ein Konzept zur Fortbildung und Praxisberatung entwickelt und mit Erzieher/innen in Projekteinrichtungen erprobt, die sich für die Teilnahme am Projekt und damit für eine dreijährige Praxisentwicklung unter fachlicher Begleitung beworben hatten (Wagner/Hahn/Enßlin 2006).
- "Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung". Das Projekt wird im Rahmen des Bundesprogramms "Vielfalt tut gut" (2007-2010) vom BMFSFJ und von der Bernard van Leer Foundation gefördert. Träger ist die Internationale Akademie an der Freien Universität Berlin.
Anmerkung zur Arbeit mit Persona Dolls
Fortbildungsangebote auf www.kinderwelten.net
Projekt Kinderwelten/INA gGmbH an der FU Berlin (Hrsg.) (2008): Mit Kindern ins Gespräch kommen. Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Ein Film von Roswitha Weck (DVD), gegen Porto im Projektbüro Kinderwelten erhältlich
Enßlin, Ute: Persona Dolls. Puppen erzählen, fragen und hören zu. In: Betrifft Kinder 2004, Heft 1, S. 24-26
Müller, Heike: Konstantin entsteht. Die Arbeit mit Persona Dolls. In: TPS 2007, Heft 2, S. 32-34
Krause, Anke: Magie mit Methode. Persona Dolls unterstützen Dialoge mit Kindern. In: Betrifft Kinder 2007, Heft 3, S. 13-17
Literatur
Derman-Sparks, Louise/A.B.C. Task Force: Anti-Bias-Curriculum: Tools for empowering young children. Washington D.C.: NAEYC 1989
Diehm, Isabell/Kuhn, Melanie: Ethnische Unterscheidungen in der frühen Kindheit. In: Hamburger, Franz/Badawia, Tarek/Hummrich, Merle (Hrsg.): Migration und Bildung. Über das Verhältnis von Anerkennung und Zumutung in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 221-231
Mac Naughton, Glenda M.: Respect for diversity. An international overview. Den Haag: Bernard van Leer Foundation 2006
Preissing, Christa/Wagner, Petra (Hrsg.): Kleine Kinder, keine Vorurteile? Interkulturelle und vorurteilsbewusste Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Freiburg: Herder 2003
Wagner, Petra/Hahn, Stefani/Enßlin, Ute (Hrsg.): Macker, Zicke, Trampeltier... Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Handbuch für die Fortbildung. Berlin: verlag das netz 2006
Wagner, Petra (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance - Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder 2008
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Kinderwelten
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Schlesische Str. 3-4
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