Ganzheitliche Entwicklungsförderung durch Naturerfahrungen

Martin R. Textor

Über Jahrtausende hinweg waren Wälder, Bäche, Felder, Wiesen, Gärten und andere natürliche Flächen der ausschließliche außerhäusliche Lebensraum von Kindern. Dort spielten sie mit Naturmaterialien wie Erde, Wasser, Steinen und Stöcken, mit Hunden, Katzen und anderen Tieren. Die Kinder wuchsen somit weitgehend in der Natur auf.

Selbst in den 1960er und 1970er Jahren hielten sich Kinder noch viel draußen auf, spielten im Wald und auf der Wiese und erlebten so die Natur mit allen Sinnen. Heute verbringen Kinder hingegen die weitaus meiste Zeit in Gebäuden: in der elterlichen Wohnung, in der Kindertagesstätte oder in der (Ganztags-) Schule. Nur noch wenige Kinder kommen zu Fuß in die Kita bzw. Schule - beim Transport im elterlichen PKW oder im Bus wird jedoch kaum noch das "Draußen" wahrgenommen. In vielen Kindertageseinrichtungen wird der Tag weitgehend in den Innenräumen zugebracht, da sonst das in den Bildungsplänen der Bundesländer vorgesehene Bildungsprogramm nach Meinung der Erzieher/innen (und Eltern) nicht abgearbeitet werden kann. Und die Funktionsräume sind doch mit so vielen Lernmaterialien ausgestattet! Die Außenspielflächen von Kitas, die Schulhöfe und sogar die meisten öffentlichen Spielplätze enthalten wenig Natur. In Großstädten haben viele Kindertagesstätten nur noch ein kleines und mit Spielgeräten zugestelltes Außengelände.

Auch an Wochenenden wird der außerhäusliche Aktionsradius von Kindern stark eingeschränkt: In den Augen vieler Eltern ist das unbeaufsichtigte Spielen auf naturnahen Flächen, auf Spielplätzen oder auf der Straße zu gefährlich - sie haben Angst vor Unfällen, Verletzungen, Zecken und durch zuviel Sonne bedingtem Hautkrebs. Und dann wird ja immer wieder von Kindern berichtet, die von Fremden sexuell missbraucht oder gar getötet wurden...

Inzwischen ziehen die meisten älteren Kinder und Jugendliche Fernsehen, Computer und neue Medien dem Spielen auf naturnahen Flächen vor. Bei längeren Fahrten außerhalb der Städte wird die vorübergleitende Natur nicht mehr wahrgenommen, da die Kinder auf Bildschirme starren oder Musik hören. Und immer mehr naturferne Freizeitaktivitäten und -angebote haben den "klassischen" Familienausflug in den Wald oder an den See verdrängt. Hinzu kommt, dass die Eltern von heute bereits zu einer Generation gehören, die während der Kindheit kaum Naturerfahrungen gesammelt hat. So kennen sie nur wenige Spiele und Aktivitäten für draußen, nehmen "kleine Dinge" wie Insekten, Kräuter oder unscheinbare Blüten nicht wahr und können Bäume, Pflanzen und Pilze nicht benennen.

Älteren Kindern und Jugendlichen wird die Natur als etwas präsentiert, was man wissenschaftlich erforscht, was durch Umweltzerstörung und -verschmutzung bedroht ist und man schützen sollte oder was das Leben von Menschen gefährdet (durch Erdbeben, Überschwemmungen, Orkane, Waldbrände, Bergrutsche usw.). Sie erwerben in der Schule naturwissenschaftliche Kenntnisse, wissen vom Klimawandel und sind sich der Konsequenzen der fortschreitenden Abholzung der Regenwälder bewusst. Aber ein Kind kann nicht mehr davon erzählen, "wann es das letzte Mal allein im Wald herumgestreift oder in einer Wiese gelegen ist und dem Wind gelauscht und den Wolken hinterhergeschaut hat" (Louv 2011, S. 15 f.).

Bedingt durch die rasant voranschreitende Urbanisierung - im Jahr 2050 werden ca. 70% der Menschen in Städten wohnen - entfremden sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene immer mehr der Natur. Dies dürfte negative Konsequenzen für Gesundheit, Lebensqualität und Umweltschutz haben. So fragt der Kinderarzt Herbert Renz-Polster: "Ob nicht seelische Störungen auch durch zerbrochene oder belastete Beziehungen zur natürlichen Umwelt entstehen? Ob nicht die äußere Natur und unsere innere Natur irgendwie zusammenhängen?" (Renz-Polster/ Hüther 2013, S. 59). Wie sein Koautor, der Hirnforscher Gerald Hüther, und wie Richard Louv (2011) macht er die Verhäuslichung der Kindheit und die mangelnde Naturerfahrung mitverantwortlich für die Zunahme von Fettleibigkeit, Immunschwäche, Allergien und motorischen Defiziten, aber auch von ADHS, Ängstlichkeit und Depressivität. Und wer die Natur nicht kennt, wird sich wohl kaum für den Umweltschutz einsetzen, seinen "ökologischen Fußabdruck" zu verringern versuchen oder Maßnahmen unterstützen, die zu einer Reduzierung der CO2-Emissionen führen.

Kinder haben ein Recht auf Naturerfahrungen

Da Menschen während 99% ihrer Geschichte in, mit und von der Natur lebten, sind Naturerfahrungen - evolutionshistorisch und anthropologisch gesehen - Grundbedingung für ein gesundes Aufwachsen: "Natur ist für Kinder so essenziell wie gute Ernährung. Sie ist ihr angestammter Entwicklungsraum" (Renz-Polster/ Hüther 2013, S. 9). Deshalb gilt es, den Trend hin zu einer zunehmend "denaturierten Kindheit" (Louv) bzw. einer "immer schneller voranschreitenden Domestizierung der Kinder" (Renz-Polster) umzukehren: Kinder haben ein Recht darauf, die Natur mit allen Sinnen zu erleben, sich dort körperlich zu betätigen und mit selbst gesammelten Naturmaterialien zu spielen.

Insbesondere die frühkindliche Bildung sollte mit der Natur beginnen - mit dem Erkunden naturnaher Flächen, dem Erforschen von Flora und Fauna, dem Kennenlernen der vier Elemente, dem bewussten Erleben der Jahreszeiten und der Analyse unserer Lebensgrundlagen (z.B. der Herkunft unserer Nahrungsmittel und Kleidung). Dies ist nichts Neues - alle Klassiker der Frühpädagogik befassten sich mit solchen Themen. Sie sind nur in Vergessenheit geraten - und das wirkt sich auf die Entwicklung von Kleinkindern negativ aus.

Von der Sinnesschulung über den Kompetenzerwerb bis hin zur Spiritualität

Kleinkinder erleben die Natur mit allen Sinnen - und viel intensiver als Erwachsene, weil das meiste für sie neu und damit interessant ist. Da sie dem Boden näher sind, sehen sie auch mehr kleine Dinge (z.B. Käfer, Spinnen, Würmer und Schnecken, Kräuter, Pilze und Flechten). Elementare Naturerfahrungen sind somit schon auf einer kleinen Fläche möglich: Die unterschiedliche Beschaffenheit des Untergrunds wird beim Krabbeln oder Befühlen wahrgenommen; auf einem kleinen Wiesenstück werden viele verschiedene Pflänzchen und Insekten entdeckt; kleinste Blüten (z.B. von Moosen) werden betrachtet; Steine werden miteinander verglichen; die Windstärke wird im Gesicht gespürt; Wolkenarten und -gebilde werden auf dem Rücken liegend unterschieden; Nutztiere werden auf der Weide und Vögel auf dem Feld beobachtet; durch die Jahreszeiten bedingte Veränderungen auf Äckern und Beeten sowie bei den Tätigkeiten von Landwirten und Gärtnern werden bemerkt; Sonnenstand und Mondphasen werden verfolgt.

Kleinkinder brauchen viel Zeit für Naturerfahrungen - und Erzieher/innen dementsprechend viel Geduld. Zudem kann konzentrierter alleine oder in einer Kleinstgruppe beobachtet und geforscht werden - ideal ist also, wenn sich die Kinder über eine überschaubare naturnahe Fläche verteilen können. Kleinkinder haben keine Scheu vor Würmern, Schnecken, Hundertfüßern, Kellerasseln, Spinnen usw.; sie fassen solche Lebewesen an und lassen sie sogar über ihre Arme kriechen - manche Fachkräfte müssen hier zunächst einmal Angst- und Ekelgefühle überwinden, bevor sie die Erfahrungen der Kinder teilen können.

Erzieher/innen können gelegentlich die Sinneswahrnehmungen der Kinder erweitern, indem sie z.B. Ferngläser und (Becher-) Lupen mitnehmen, im Wald einen Barfußpfad anlegen, auf der Wiese Kinder einige Minuten schweigend und mit geschlossenen Augen verharren und dann berichten lassen, was sie gehört haben, oder (im Spätherbst) Futterstellen anlegen, sodass mehr Vögel beobachtet werden können.

Bedenkt man, dass Naturwissenschaften die Wissenschaften über die Natur sind und dass die Natur "draußen" ist, wird offensichtlich, dass Kleinkinder im Wald und auf der Wiese, an Äckern und Weiden, an Bächen und Seen viele naturwissenschaftliche Kenntnisse und Kompetenzen erwerben - rein durch Beobachten, Erkunden, Erforschen usw. Damit sind besondere Herausforderungen für Erzieher/innen verbunden: Während sie in den Kita-Räumen ein Experiment anhand einer Beschreibung vorbereiten können und in dem jeweiligen Fachbuch alle relevanten Informationen finden, sind sie draußen in der Natur einer wahren Frageflut der Kinder ausgeliefert. Und diese Fragen können sich auf Biologie und Physik, Chemie und Geologie, Ökologie und Astronomie beziehen!

Während noch vor 60, 70 Jahren Kinder viel Zeit in der Natur verbrachten und von ihren Eltern Fachbegriffe und Hintergrundinformationen erhielten, konnten sich viele jüngere Erzieher/innen in ihrer Kindheit nicht mehr ein entsprechendes Alltagswissen aneignen - und im naturwissenschaftlichen Unterricht wurde nicht die Natur "vor den Schultüren" behandelt. Sie müssen also relevante Grundlagenkenntnisse während der Berufstätigkeit erwerben, wenn sie unvorhersehbare Fragen von Kindern beantworten wollen. Oder sie müssen bei Aufenthalten in der Natur Fachbücher mitnehmen, mit deren Hilfe sie Bäume, Pflanzen, Pilze, Insekten und Vögel, Gesteine und Mineralien identifizieren können.

Die Natur ist aber auch ein Ort, an dem Kinder ihren Bewegungsdrang ausleben, rennen, springen und klettern, mit gesammelten Materialien (Ästen, Steinen, Zapfen, Blättern usw.) basteln und sich "abarbeiten" können (z.B. beim Bau von Hütten, Baumhäusern oder Höhlen). So werden nicht nur grob- und feinmotorische Kompetenzen geschult, sondern auch Gesundheit und Wohlbefinden gefördert: Die Kinder bleiben eher schlank, haben ein besseres Immunsystem, neigen weniger zu Vitamin-D-Mangel und schlafen tiefer als Kinder, die sich zumeist in Räumen aufhalten. Da sie bei Springen und Klettern kontrollierte Risiken eingehen, lernen sie, Gefahren einzuschätzen und ihre Grenzen zu erkennen. Sie überwinden Ängste, werden mutig und entwickeln Selbstvertrauen. Wenn sie etwas bauen oder basteln, entfalten sie ihre Kreativität und erleben Selbstwirksamkeit.

Bei Aufenthalten in der Natur müssen Kinder ihre Aktivitäten weitgehend selbst organisieren (Bildungsangebote und angeleitete Spiele seitens der Fachkräfte sollten Ausnahmen sein - diese setzen aber Regeln, um ihrer Aufsichtspflicht zu genügen und Lebendiges zu schützen). So sind Kinder darauf angewiesen, mit anderen etwas zu planen, zu besprechen und auszuführen. Da das Materialangebot begrenzter ist als dasjenige in den Kita-Räumen, müssen sie es vielfältiger und fantasievoller einsetzen. Dementsprechend gestalten sie ihre Aktivitäten stärker aus, die somit länger dauern. All dies fördert soziale und kommunikative Kompetenzen - aber auch die Kooperationsfähigkeit und den Zusammenhalt in der Gruppe.

Schließlich führt das Erfahren von "Mutter Natur" zu Urvertrauen: Die Umgebung wird zur Heimat, in der sich die Kinder sicher und geborgen fühlen. Sie entwickeln Liebe zur Natur bzw. zur Schöpfung Gottes - wichtige Voraussetzungen für die ökologische bzw. religiöse Erziehung. Das Staunen über die Wunder der Natur, die Beobachtung von Werden und Vergehen, die Freunde am Wachsen und Reifen, die Auseinandersetzung mit Geburt und Tod fördern die spirituelle Entwicklung.

Das "große Draußen"

In der Natur können somit alle Kompetenzen gefördert werden, die in den Bildungsplänen der Bundesländer aufgelistet sind. Kindertageseinrichtungen auf dem Land oder am Stadtrand können selbstverständlich leichter Naturerfahrungen vermitteln als Kitas im Innenbereich von (Groß-) Städten. Aber auch dort lassen sich im Umkreis der Tagesstätte Parks und andere naturnahe Flächen finden. Schließlich gibt es noch das Außengelände der Kita, in dem Beete angelegt, Obstbäume und -sträucher gepflanzt sowie Vögel und Insekten durch entsprechende Nistgelegenheiten und Futterplätze angelockt werden können (siehe Textor 2014).

Die Natur ist aber nur ein Teil des Draußen: Das "große Draußen" umfasst auch die "bebaute" Welt. Kleinkinder sind von allem fasziniert, was außerhalb der Wohnungs- und Kita-Mauern liegt: von Baustellen, Handwerksbetrieben, Geschäften, Banken, Krankenhäusern, Bahnhöfen, Tankstellen, Seniorenheimen, Museen, Kirchen, Denkmälern, Rathäusern, Schlössern, Burgen, Schulen, Märkten usw. Sie freuen sich, wenn sie mit Nachbarn, Passanten, Hundebesitzern und Menschen mit ganz unterschiedlichen Berufen in Kontakt kommen. Im "großen Draußen" finden Kinder Realsituationen vor (und keine künstlichen, "kindgemäßen" und pädagogisch besetzten Welten), in denen es Sinn macht, zu beobachten, zu fragen, zu forschen, zu lernen. Und deshalb sollten Erzieher/innen viel öfters als bisher mit einer (Klein-) Gruppe nach draußen gehen, sich von den Interessen der Kinder leiten lassen und mit ihnen zusammen das "echte Leben" erkunden!

Literatur

Louv, Richard: Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück! Weinheim, Basel: Beltz 2011

Renz-Polster, Herbert/Hüther, Gerald: Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen. Weinheim, Basel: Beltz 2013

Textor, Martin R.: Der Garten des Kindergartens. http://www.kindergartenpaedagogik.de/2304.pdf (20.12.2014)

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