Michael Jojade
Kreativräume und Kreativbereiche schießen seit Jahren in den Kindergärten aus dem Boden. Es gibt kaum eine Kita, die keinen hat. Schaut man sich die Räume an, findet man alles, von kleinen Malecken bis zu komplett ausgestatteten Bastelstuben. Hier wird effektiv die Kreativität der nächsten Generation gefördert. Aber, stimmt das so wirklich? Auf der Suche nach kreativfördernden Bereichen in den Kitas.
Kreativräume und Kreativbereiche werden in den meisten Einrichtungen als Synonym für Kunsträume gebraucht. In diesen Bereichen finden im Kindergarten Aktivitäten wie Basteln und Malen statt. Fördern diese Beschäftigungen die Kreativität? Wenn man das Wort Kreativität nach seinem lateinischen Ursprung „creare“ untersucht, so kommt man auf die Bedeutung „erzeugen, schöpfen“ (vgl. Boos, S.6). Demnach ist es völlig korrekt von Kreativität zu sprechen, wenn Kinder Dinge basteln und Bilder malen, denn sie erzeugen, erschaffen sie. In der Konsequenz sind alle Malecken, in denen Stifte und Papier vorhanden sind, Kreativräume. Doch diese Logik ist nicht schlüssig. Nicht immer, wenn ich etwas erzeuge, bin ich automatisch kreativ. Arbeiter am Fließband erzeugen neue Autoteile. Von einer kreativen Arbeitsstelle kann man deshalb noch lange nicht reden. Kreativität ist also mehr als nur etwas zu erschaffen.
Ein kleiner, dörflich gelegener, zweigruppiger Beispielkindergarten. Max wird von der Mutter abgeholt. Laut der Erzieherin befindet er sich mit einer Kollegin im Kreativraum. Was Max dort wohl gerade entwickelt und erforscht? Was er gerade für Ideen und Fantasien versucht umzusetzen? Die Tür des Kreativraumes, an der in akkurat ausgeschnittenen Buchstaben der Raumname steht, öffnet sich. Man hätte es da vielleicht schon erahnen können. Max sitzt mit einer Erzieherin am Tisch. Beide schneiden zusammen mit einer Schere einen vorgezeichneten Igel aus. Igel scheinen gerade modern zu sein, jedenfalls hängen Dutzende im Raum. Max ist gerade fertig. Er springt auf und geht sich nach der Begrüßung anziehen. Stolz präsentiert die Erzieherin das Werk von Max, nachdem sie noch schnell ein paar Kanten fein nachgeschnitten hat. Morgen kann Max den Igel kreativ gestalten und auf die braune Pappe mit einem schwarzen Stift Augen malen. Förderlich für die Feinmotorik und die Ausdauer ist die Aktion in dieser Kita definitiv. Erzeugt hat Max auch etwas. Aber wo steckt die Kreativität? „Kreativität ist Problemlösen; um ein Problem lösen zu können, muss ich jedoch zunächst wissen, was überhaupt das Problem ist.“ (Koop, S.12). Den Igel auszuschneiden war die Aufgabe von Max. Aber es war nicht sein Problem. Er musste auch kein Problem lösen, denn es gab keines. Max brauchte nur die Anweisungen der Erzieherin befolgen und konnte sich die anderen Igel als Beispiel nehmen. Somit lässt sich schließen, dass das Befolgen von Anweisungen keine Kreativität benötigt. Es kommt also auch auf den Freiraum an, den ihm die Erzieherin lässt.
Unter Kreativität versteht man „völlig neue Ideen hervorzubringen“ (Boos, S.7). Max hatte in der Situation keine Chance eigene Ideen zu verwirklichen. Daraus lässt sich schließen, dass es eines gewissen Freiraumes bedarf um kreativ zu werden. Wäre die Sache anders, wenn Max einen Igel an der Wand sieht und den Wunsch hat, selbst einen Igel zu basteln und sich mit Papier, Schere und Stiften aufmacht einen selbst zu erschaffen? Somit hätte Max nur alleine auf die Idee kommen müssen, einen Igel wie an der Wand zu basteln. Dann wäre Max kreativ. Andererseits hätte Max nur eine Kopie hergestellt, sich die Ideen eines anderen zu eigen gemacht und kaum selbst etwas entwickelt. Abschreiben bei einem Mathetest kann auch nicht als kreativ angesehen werden. Doch besteht hier ein gravierender Unterschied. Max wird den Igel nicht einfach kopieren können. Er wird ihn verändern. Er wird vor dem Problem stehen, eine Form aus dem Papier zu erschaffen. Dies muss er lösen, wenn die Erzieherin es ihm nicht vorzeichnet. Dazu braucht Max kreative Ideen. Sein Igel wird nicht so aussehen, wie die an der Wand. Er wird neue Ideen hervorbringen, um das Problem zu lösen. „Eine neue Problemlösung kann auch dadurch entstehen, dass bereits bestehende Komponenten neu arrangiert werden“ (Boos, S.7). Doch nur bestehende Komponenten neu zu arrangieren, wie die Materialien beim Igelbasteln, kann Kreativität wohl nicht im Ganzen erfassen. Kreativität ist nach Braun (S.23) durch Neuartigkeit und Originalität gekennzeichnet. Nur durch die Neuordnung bestehender Komponenten ist der Kreativität sonst schnell Grenzen gesetzt.
Kreativität benötigt neben Freiraum somit auch eine Vielfältigkeit an Materialien um Neues und Originelles erschaffen zu können. In den meisten Kitas bieten Kreativräume den Kindern eine Fülle von Material, das ihnen meist frei zur Verfügung steht. Beste Voraussetzungen, um kreativ in diesem Raum zu werden. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, werden die Räume ihrem Namen gerecht. Die Igelsituation von Max wäre durch die Anweisungen der Erzieherin nur eine Ausnahme, denn die meisten Kitas lassen die Kinder in den Kreativräumen frei entscheiden, was sie erschaffen wollen und welche Materialien sie beim Basteln und Malen verwenden möchten. So gelingt die Förderung der Kreativität. – Aber, ist das wirklich so?
Auch eine Bauecke ist voll von verschiedenen Materialien wie Holzbausteinen, Eisenbahn, Lego, Autos, usw. Auch hier gibt die Erzieherin meist nicht vor, was zu erschaffen ist. Die Voraussetzungen sind somit dieselben wie im Kreativraum. Auch ein Rollenspielbereich ist meist voll mit verschiedenen Materialien wie Geschirr, Handtaschen, Kleidungsstücke und vielem mehr. Vorgaben und Anweisungen der Erzieherin finden auch hier eher selten statt. Wo liegt also der Unterschied zum Kreativraum? Sollte es dann nicht besser „Kreativ-Kita“ heißen? - Nein, denn nicht in allen Bereichen einer Kita wird den Kindern eine Fülle von Material zur freien Verfügung gestellt. Im Außengelände beispielsweise gibt es relativ wenig Spielmaterial. Ein paar Fahrzeuge, ein Klettergerüst mit Rutsche und einen Sandkasten mit Schaufeln sind meist alles, was die Kinder dort zur Verfügung haben. Und dennoch, hier geschieht oft Unglaubliches. Eine Schaufel und der Sandkasten reichen, um unendliche Möglichkeiten für die Kreativität der Kinder zu schaffen. Es entstehen Burgen, Städte, Kuchen, Männchen, Löcher, Tunnel und vieles mehr. Macht man mit den Kindern einen Waldausflug, wird kein vielfältiges Material mitgenommen. Und dennoch fangen sie schnell an Dinge zu sammeln und zusammenzubauen. Eine Kette aus Blumen oder ein Waldbett können entstehen. Stöcke können beispielsweise die Wände eines Hauses bilden. Nur an der freien Verwendung von vielfältigem Material ist Kreativitätsförderung also nicht festzumachen.
Schaut man sich das Material in den genannten Situationen an, so wird schnell klar, dass es immer eine Fülle davon gibt. Kinder sind immer von hunderten Dingen umgeben. Fast alle Dinge in der Kita haben einen bestimmten Zweck. Die Kinder lernen, wie man damit umgeht und wozu sie gedacht sind. Meistens werden sie bei einer Zweckentfremdung dazu ermahnt, zu der korrekten Benutzung zurückzukehren. Filzstifte sind zum Malen da, man darf sie nicht auseinander bauen und schauen, was drinnen ist. Kleber ist zur Benutzung am Tisch mit Pappe und Papier vorgesehen. Bausteine in der Bauecke zusammenzukleben ist verboten. Das Puppengeschirr im Rollenspielbereich ist leer. Wenn man die Figuren aus dem Brettspiel hineinlegt, hätte man einen Inhalt. Dies ist aber nicht erlaubt, dazu sind die Figuren nicht gedacht. Alles in der Umgebung der Kinder unterliegt also einem klaren Reglement. Im Wald nicht. Hier gelten ein paar Sicherheits- und Benimmregeln, was die Kinder allerdings mit gefundenen Gegenständen wie Blättern, Zweigen, etc. tun, ist nicht reglementiert. Auch im Sandkasten gibt es nur wenige Regeln. Eine Zweckvorgabe für den Sand gibt es nicht. Liegt es daran? Entsteht Kreativität durch die Freiheit, vielfältige Dinge auszuprobieren und frei nach den eigenen Ideen nutzen zu können?
Ein kreatives Produkt ist durch seine Ungewöhnlichkeit gekennzeichnet (vgl. Beitz, S.69). Ungewöhnlichkeit kann nur schwer durch die zweckmäßige und vorgegebene Nutzung eines Gegenstandes entstehen. Die meisten Spielzeuge im Umfeld der Kinder sind aber zweckgebunden. Oft liegt dem Spielzeug sogar eine detaillierte Gebrauchsanweisung bei. Um Kreativität fördern zu können, benötigen die Kinder also Gegenstände, die sie vorgabenfrei nutzen können. Gibt es überhaupt einen Raum mit solchen Gegenständen in einer Kita? Einen richtigen Kreativraum? Wohl nicht in der Standard- Kita.
Einzelne Aktionen, Programme und Projekte im Kindergartenbereich greifen, wenn auch aus anderen Zielvorstellungen, das Problem auf. Ein Beispiel hierfür ist der „Spielzeug-macht-Ferien-Tag“ als Teil des Papilio-Programms. Das Spielzeug wird hier für einen Tag in der Woche abgedeckt oder entfernt. Bleiben dürfen nur Alltagsgegenstände (Decken, Tische, Tesafilm, Becher, etc.) Die Erzieherin leistet nur auf Anfrage der Kinder Unterstützung und gibt weitere Gegenstände an die Kinder heraus, wenn sie danach fragen und sie die Dinge für ihr Spiel benötigen. Die Zielsetzung dieser Aktion ist die Förderung der Interaktion mit anderen Kindern, die Integration sowie das Einüben kommunikativer und sozialer Kompetenzen (vgl. Mayer, S. 117ff.). Ein solcher Raum, in dem das Spielzeug „Ferien macht“, bildet die optimale Voraussetzung zur Förderung von Kreativität. Wenn die Kinder dabei sind neue Dinge zu erschaffen, gibt es keine Vorgaben der Erzieherin, aber viele verschiedene Materialien ohne Zweckgebundenheit. Erfahrungsberichte dieses Programms zeigen deutlich, dass die Kinder sich länger und ausdauernder mit einem Spiel beschäftigen und „tiefer“ eintauchen, als an normalen Tagen in der Kita (vgl. Mayer, S. 187ff.). Eine Auswirkung kreativen Schaffens beschreibt Braun (S. 21ff.) als „Flow“. Damit ist gemeint, dass man in seinem Tun versinkt. Man „brennt“ innerlich für eine Sache und erfährt Glücksgefühle dabei. Die Erfahrungsberichte des „Spielzeug-macht-Ferien-Tages“ über das Verhalten der Kinder decken sich mit diesen Voraussetzungen für Kreativität. Somit könnte man hier von einer effektiven Förderung sprechen.
Doch, zurück zu den Kreativräumen und Bereichen in den Kindergärten. Ist denn hier die Bezeichnung völlig irreführend? Wird hier den Eltern mit einem Titel etwas verkauft, was gar nicht drin ist? Nein, denn die Kinder können sich mit frei zugänglichen Materialien künstlerisch-kreativ ausdrücken. Sie können Bilder und Gegenstände erschaffen, die einzigartig sind. Die Kinder drücken ihre Fantasie in diesen Werken aus. Wenn die pädagogische Fachkraft keine klaren Vorgaben macht, wie bei Max, können Kinder hier ihrer ästhetischen Kreativität freien Lauf lassen. Sie können verschiedene Materialien kennen lernen und zweckentfremden (Strohhalme, Kork, Federn, etc.). Kreativräume halten somit, wenn die Haltung der Erzieher/innen und die Materialgegebenheiten stimmen, was sie versprechen.
Allerdings ist dabei zu beachten, dass Kreativität nicht nur aus einem künstlerischen Bereich besteht. Besser wäre also, die Malecken und Bastelstuben als künstlerischen Kreativbereich zu betiteln. Handhabbar wäre dieser Titel im Alltag mit den Kindern wohl kaum. Dennoch ist es wichtig sich vor Augen zu halten, dass die Förderung der Kreativität in den Kreativräumen nur einen kleinen Teil abdeckt. Auch in Bauecken, in Rollenspielbereichen, ja in der gesamten Kita finden kreative Prozesse bei den Kindern statt. Wichtig ist es, dass die pädagogischen Fachkräfte sich damit auseinandersetzen und vor Augen haben, was Kreativität ist und welche Gegebenheiten kreative Prozesse fördern.
Wird in einer Kita nach Möglichkeiten der Kreativförderung gesucht, so würde sich ein Raum oder Bereich anbieten, der ähnlich aufgebaut ist wie im „Spielzeug-macht-Ferien“ Programm. Ein Raum, indem viele Alltagsmaterialien zweckfrei genutzt werden können und die Erzieherin eine neugierige Haltung als Lernende einnimmt, statt Vorgaben zu machen. In diesem Raum dürften auch Spielzeuge genutzt werden, wenn die Kinder sie aus anderen Räumen mitbringen und für ihr Spiel dort, vielleicht auch zu einem anderen Zweck als eigentlich vorgesehen, einbinden möchten. Ein solcher Raum würde zurecht den Namen „Kreativraum“ tragen.
Literaturverzeichnis
Beitz, L.: Schlüsselqualifikation Kreativität. Hamburg: S+W Steuer- und Wirtschaftsverlag 1996
Boos, E.: Kreativitätstechniken; 5. Auflage. München: Compact Verlag GmbH 2014
Braun, D.: Kreativität in Theorie und Praxis. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder GmbH 2011
Koop, C.; Steenbuck, O. (Hrsg): Kreativität. Zufall oder harte Arbeit?; 1. Auflage; Berlin: Druckhaus Berlin-Mitte GmbH 2011
Mayer, H.; Heim, P.; Scheithauer, H.: Papilio. Augsburg: beta Instituts Verlag 2007
Autor:
Michael Jojade ist Student an der Hochschule Koblenz im berufsbegleitenden Studiengang „Bildungs- und Sozialmanagement frühe Kindheit“ und Kitaleitung einer sechsgruppigen Einrichtung in Frankfurt am Main.