Zitiervorschlag

Sexuelle Bildung und Elternarbeit: Reflexionen am Beispiel der Elternarbeit in einer Kindertagesstätte

Torsten Linke

 

Einleitung

Der überwiegende Teil der Kinder und Jugendlichen in Deutschland wächst in einer Familie mit Eltern auf. In den Lebensphasen der Kindheit und Jugend, die stark in den familiären Kontext eingebettet sind, durchlaufen Kinder Entwicklungsprozesse und müssen Entwicklungsaufgaben bewältigen, die eine hohe Prägekraft haben. Die Familie ist somit auch für die sexuelle Entwicklung eine der bedeutendsten Sozialisationsinstanzen und Eltern sind in der Regel die ersten Ansprechpartner_innen für sexuelle Themen (vgl. Linke, 2015; 2020a).

In diesem Zusammenhang kann es bei Eltern zu Unsicherheiten kommen und es können sich Fragen ergeben, bspw. wie, wann und worüber spreche ich mit meinem Kind über sexuelle Themen? Ebenso kann es im Rahmen der professionellen erzieherischen Arbeit zur Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit kindlicher Sexualität kommen. Im Beitrag soll der Bereich der Kindertagesbetreuung als Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe in den Blick genommen werden, in dem eine Zusammenarbeit mit den Eltern aufgrund des Handlungsauftrags der Fachkräfte nötig ist.

Familie und Eltern als Bildungsadressat_innen                                        

Der besondere gesellschaftliche Stellenwert der Familie zeigt sich in Deutschland an der verfassungsrechtlichen Verortung. Der Staat stellt die Institutionen Ehe und Familie unter besonderen Schutz und schreibt die Pflege und Erziehung von Kindern als natürliches Recht den Eltern als Erziehungsberechtigte zu (GG Art. 6 Abs.1 und 2).

Diese Bedeutungszuschreibung findet sich auch in den Aufgaben und Funktionen die die Familie als Sozialisationsinstanz übernehmen soll. Mit Blick auf Sexualität umfassen diese u.a. die Befriedigung von Bedürfnissen, wie emotionaler Geborgenheit und Sicherheit; den Schutz und die Fürsorge von Säuglingen, Kleinkindern und von Schwangeren; die Regulierung der Sexualität innerhalb eines bestehenden Normen- und Wertekanons und daraus folgender rechtlicher Regelungen; Fragen der biologischen Reproduktion und Fragen der Sozialisation im Kontext der frühkindlichen Sozialisation, des Einübens von sozialen Rollen innerhalb der Gesellschaft und des Erlernens eines erwünschten sozialen Verhaltens (vgl. Nave-Herz/Onnen-Isemann, 2007, S. 314). Die Bedeutung der Familie für die sexuelle Sozialisation ist zum einen in dem zeitlichen Kontext begründet, dass Kinder und Jugendliche bis zu ihrer Volljährigkeit wichtige psychosexuelle Entwicklungsphasen durchlaufen und zum anderen, dass sie in diesen Entwicklungsphasen auf die Begleitung und Unterstützung Erwachsener angewiesen sind (vgl. Rohrmann, 2019, S. 1065ff.; Schuhrke, 2005; Volbert, 1998).

Der überwiegende Teil der Kinder und Jugendlichen in Deutschland lebt in einer Familienform mit leiblichen oder sozialen Eltern, für das Jahr 2018 gab das Statistische Bundesamt 11,4 Millionen Familien an, in denen Kinder leben (ebd., 2019). Die Bedeutung der Eltern als wichtige Wissensvermittler_innen und Vertrauenspersonen zu sexuellen Fragen für einen großen Teil der Jugendlichen, lässt sich auch an den Erhebungen der regelmäßig durchgeführten BZgA-Studie zu Jugendsexualität ableiten (vgl. Bode/Heßling, 2015). Für die professionelle erzieherische Arbeit lassen sich folgende Ableitungen vornehmen, es geht um ein Wahrnehmen, Ernstnehmen und eine grundsätzliche Anerkennung:

a) der Eltern als zentrale und wichtigste Sexualerzieher_innen im Kindesalter;

b) der Eltern als wichtige Wissensvermittler_innen und Vertrauenspersonen zu sexuellen Themen im Kindes- und Jugendalter;

c) der jeweiligen familiären Sexualkultur und

d) der vorhandenen gesellschaftlichen Pluralität von Familie und den sich daraus ergebenden Herausforderungen (vgl. Linke, 2020a, S. 11).

Im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe gibt es neben der Kindertagespflege (§§ 22 bis 25 SGB VIII) weitere, sich aus den gesetzlichen Aufträgen in den einzelnen Handlungsfeldern ergebende, Formen der Elternarbeit in denen sexuelle Themen eine Rolle als Bildungsthema spielen können. Sexuelle Themen können bspw. auch im Rahmen der Zusammenarbeit mit Eltern im Kinder- und Jugendschutz (§ 14 SGB VIII), in der Elternbildung (§ 16 SGB VIII), in der Partnerschaftsberatung (§ 17 SGB VIII), in den Erziehungshilfen (§§ 27 bis 35 SGB VIII), in der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VIII) oder auch im Kontext der Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) Teil des Arbeitsauftrages von Fachkräften werden. Mit Blick auf die Förderung von Kindern in der Kindertagespflege ergibt sich in Bezug auf die Eltern, dass Fachkräfte „die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützen und ergänzen“ sollen (§22 (2) SGB VIII).

Aus den o.g. Ausführungen kann abgeleitet werden, dass sexuelle Bildung als ein Querschnittsthema in der Kinder- und Jugendhilfe anerkannt werden sollte (vgl. Linke, 2017, S. 43ff.). Daraus ergibt sich nicht nur eine Vielfalt an möglichen Themen, sondern auch an vielfältigen Settings und Zielgruppen für Angebote sexueller Bildung. Folgende Fragen können allgemein für die Kinder- und Jugendhilfe gestellt werden:

a) Was wird im Kontext von Elternarbeit in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe unter Bildung verstanden und was demzufolge unter sexueller Bildung in der Elternarbeit?

und

b) Wer macht ein sexuelles Thema zu einem Arbeitsauftrag/ einem Bildungsauftrag bzw. wird Sexualität grundsätzlich von Einrichtungen und Fachkräften als Teil ihres Arbeitsauftrages betrachtet?

Die Kindertagesbetreuung stellt hinsichtlich ihres Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsauftrages ein spezielles Handlungsfeld innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe dar. Bildungsangebote in der Kinder- und Jugendhilfe erfolgen in der Regel als non-formale und informelle Bildung. Die Kindertagesbetreuung hat sich in den letzten Jahren von einer Betreuungs- zu einer vorschulischen Bildungsinstitution entwickelt und wird dadurch mit Blick auf die Entwicklung der Kinder zunehmend stärker an formalen Bildungsfaktoren ausgerichtet. Im Bereich der Kindertagesbetreuung kann somit eine grundsätzliche strukturelle und inhaltliche Ambivalenz beobachtet werden. Formal wird das Handlungsfeld in den Rechtsbereich der Kinder- und Jugendhilfe eingeordnet, inhaltlich aber zunehmend als eigenständiger Bildungsbereich in eine politische und gesellschaftliche Verantwortung genommen (wie die schulische Bildung, jedoch ohne die entsprechende formale Anerkennung als eigenständiger Bereich). Damit ist eine Entwicklung angeschoben, dass Konzepte mit einer lebenswelt- und adressat_innenorientierten Ausrichtung zugunsten eines stärker formalen vorschulischen Bildungssettings eingeschränkt werden könnten.

Zumindest in der Elternarbeit sind non-formal und informell ausgerichtete Konzepte nach wie vor von zentraler Bedeutung. Im non-formalen Bereich finden sich bspw. Angebote der Elternbildung als sehr strukturierte Konzepte, die in Form von Elternkursen und Elterntrainings durchgeführt werden (vgl. Tschöpe-Scheffler, 2005). Die Praxis erfordert jedoch aufgrund der Diversität und Komplexität in den Handlungsfeldern und in den Lebenswelten der Adressat_innen ein darüberhinausgehendes Bildungsverständnis, dass sich nicht nur an einem engen, an formalen Lernsettings, ausgerichteten Bildungsbegriff orientieren kann. Das heißt, gerade den informellen Lernsettings, bspw. in der Elternarbeit, sollte hier mehr Beachtung zu kommen. Eine Unterscheidung der Begriffe non-formal und informell kann anhand folgender Definitionen vorgenommen werden:

a) Als non-formale Bildung kann ein außerschulisches Lernen bezeichnet werden, was aber weniger strukturiert ist als formale Angebote und nicht zwingend mit einer abschließenden Zertifizierung verbunden ist. Non-formale Bildung erfolgt geplant, mit einer klaren Bildungsabsicht und ist inhaltlich fokussiert (vgl. Baumbast et al., 2012, S. 16ff.).

b) Informelle Bildung ist nicht an bestimmte Lernorte gebunden und in die Lebenswelt der Adressat_innen eingebettet. Informelle Bildung orientiert sich grundsätzlich an den Bedarfen und Interessen der Adressat_innen und findet in der Regel als unbewusstes Lernen statt oder es kommt zu unbeabsichtigten und nicht vorab geplanten Bildungsangeboten. Es kann somit auch als spontanes, anlassbezogenes und auf einzelne Situationen oder Probleme orientiertes Lernen stattfinden. Die zu erlangenden Kompetenzen stehen im Kontext mit Fähigkeiten und Handlungen in der Lebenswelt (ebd., S. 18ff.).

Sexuelle Bildung mit Eltern in der Kindertagesbetreuung

Ein Fallbeispiel

In einer Einrichtung kommt es zu einer Situation, die eine Auseinandersetzung mit der kindlichen Sexualentwicklung bei den Fachkräften anstößt und zu der Frage führt, wie dieses Thema mit den Eltern in Zukunft kommuniziert werden könnte. Folgender Fall wird von den Fachkräften geschildert:

In einer Kindertagesstätte meldet sich am Morgen die Mutter eines Kindes. Sie ist sehr aufgebracht und sagt, dass sie ihr Kind nicht mehr in die Einrichtung bringen und abmelden wird. Ihr Kind sei gestern von einem Jungen, den sie namentlich benennt, an den Geschlechtsteilen berührt worden und dieser habe ihre Tochter auch geküsst. Ihre Tochter habe ihr das am Abend erzählt und gesagt, dass sie dies nicht wollte. Der Vorfall habe sich kurz vor dem Mittag in der Garderobe ereignet, als die Kinder von draußen kamen und sich allein in der Garderobe aufhielten. Die Mutter wirft der Einrichtungsleitung vor, dass die Erzieher_innen ihre Aufsichtspflicht verletzt hätten. Sie habe kein Vertrauen mehr, dass diese die Sicherheit ihrer Tochter gewährleisten könnten, insbesondere da ihre Tochter auch Integrationskind ist. Im Laufe des Tages erfahren andere Eltern von der Mutter, dass ein Übergriff auf ihre Tochter stattgefunden hat und es erfolgt auch eine Meldung an das Jugendamt. Das betroffene Kind, fünf Jahre, seit zwei Jahren in der Einrichtung, kommt nicht wieder zurück in die Kindertagesstätte. Die Eltern lehnen alle Gesprächsangebote der Einrichtung ab. Die in der Einrichtung noch vorhandenen Sachen des Kindes nehmen andere Eltern mit. Die Einrichtung muss sich in der Folge gegenüber anderen Eltern und dem Jugendamt rechtfertigen. Die Mutter des anderen Kindes wird von einigen Eltern zur Rede gestellt, es wird in Frage gestellt, ob dieses Kind noch in der Einrichtung bleiben könne.

Im Gespräch mit den Fachkräften ergibt sich zum Umgang und den Kompetenzen folgendes Bild: Die Einrichtung hat kein sexualpädagogisches Konzept. Sexualität war bis zu diesem Zeitpunkt kein Thema im Kontext von Bildungsangeboten an die Kinder, im Rahmen von Elternabenden und bei den Fachkräften im Rahmen von kollegialen Beratungen und Supervisionen. In einigen Elterngesprächen zur Entwicklung der Kinder kommen sexuelle Themen dann vor, wenn diese von den Eltern angesprochen werden. Die Fachkräfte gehen individuell unterschiedlich und unter Nutzung ihres (vor allem lebenspraktischen) Wissens auf Fragen der Eltern und Kinder ein. Es gibt Kinderbücher in der Einrichtung die sich mit körperlichen Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen, Schwangerschaft und der Geburt von Geschwistern beschäftigen.

Aus den grundständigen Ausbildungen sind den Fachkräften die Phasen der psychosexuellen Sexualität nach Sigmund Freud grob bekannt. Sexualpädagogische Fort- und Weiterbildungen sind bisher nicht wahrgenommen wurden. Das heißt, sexuelle Bildung wurde im Einrichtungskontext nicht als Teil des Arbeits- und Bildungsauftrages betrachtet und demzufolge gab es keinen Raum des Sprechens (bspw. im Team) über sexuelle Themen wie Entwicklungsphasen der kindlichen Sexualität, Einordnung von sexuellen Aktivitäten wie Doktorspielen, Bewertung von und Umgang mit Handlungen von Kindern die als übergriffig wahrgenommen werden und damit zusammenhängende Bildungsaufgaben und nötige Kompetenzen von Fachkräften.

Reflexionen zum Fall

Kinder und Eltern können Fachkräfte aufgrund einer Nicht-Thematisierung sexueller Themen oder in einer Kultur, die eine Einrichtung als nicht-sexuell, als frei von Sexualität, definiert, folglich auch nicht als kompetente Ansprechpersonen zu diesem Themenbereich wahrnehmen und kennenlernen. Es kann dann mit den Kindern keine Aushandlung über Verhaltensregeln geben und auch kein entsprechendes Beschwerdemanagement etabliert werden, falls es zu Grenzüberschreitungen kommt. Mit den Eltern sind eine Kommunikation und eine Information über die psychosexuelle Entwicklung und damit verbundene kindliche Aktivitäten nicht möglich.

Dieses Beispiel verweist darauf, dass es ungünstig (oder nicht ausreichend professionell) ist, zu warten bis Sexualität durch einen Vorfall zum Thema und damit zum Arbeitsauftrag wird. Einrichtungen und Fachkräfte sollten im Rahmen ihres Auftrags offen für die Kommunikation über sexuelle Themen sein und diese Offenheit auch gegenüber Kindern und Eltern signalisieren.

Mit Blick auf die in den einzelnen Bundesländern existierenden Bildungs- und Orientierungspläne für den Bereich der Kindertagesbetreuung wird dieses Handlungsfeld insgesamt sehr stark mit einem Bildungsauftrag ausgestattet. In diesem Kontext wird in allen Bundesländern die körperliche und die sozial-emotionale Entwicklung in Verbindung mit der psycho-sexuellen Entwicklung, die mit sexuellen Bedürfnissen, der Entwicklung von sexueller Identität und dem Erlernen sozialer Geschlechterrollen verbunden ist, betrachtet (vgl. Denz, 2013; vgl. stellvertretend: Ministerium für Arbeit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt, 2013; Niedersächsisches Kulturministerium, 2018).

Ein Bildungsauftrag zu sexuellen Themen der sich an die Einrichtungen und die Fachkräfte richtet, und als Adressat_innen Kinder und Eltern umfasst, ist somit grundsätzlich vorhanden. Allerdings zeigen sich Unterschiede in den Plänen der einzelnen Länder. Die Gewichtung der Thematik und die Vertiefung einzelner Themenbereiche sind in den länderspezifischen Bildungsplänen sehr vielfältig ausgelegt. Lara Denz stellt in ihrem Vergleich der Bildungspläne fest, dass es wenig konkrete Anregungen und Vorschläge für Fachkräfte gibt, wie diese mit der Thematik in ihrer Praxis umgehen könnten (ebd., 2013, S. 68f.). Auch, dass es teilweise keine Zusammenfassung zum Thema kindliche Sexualität in einem Gliederungspunkt gebe, sondern die einzelnen Themenbereiche in verschiedenen Abschnitten auftauchen, könne eine inhaltliche und konzeptionelle Befassung mit kindlicher Sexualität erschweren. Fachkräfte müssten sich erst durch den gesamten Bildungsplan arbeiten, um einen Überblick zu erhalten (ebd.). Der Begriff Sexualität wird in einigen Bildungsplänen generell vermieden (ebd., S. 66f.). Das heißt, es bedarf, auch in Abhängigkeit des Bundeslandes, in dem die Einrichtung betrieben wird, einer Eigenmotivation sich diesem Thema zu zuwenden und ein sexualpädagogisches Konzept zu erarbeiten.

Die Schutzkonzepte, die im Rahmen des SGB VIII in Einrichtungen etabliert werden, greifen hier meist zu kurz. Die Thematisierung von Sexualität erfolgt auch in Schutzkonzepten, beschränkt sich in der Regel jedoch (neben anderen Risikothemen) auf Fragen der sexualisierten Gewalt und die Bewertung einer Gefährdung des Kindeswohls im Rahmen des SGB VIII (vgl. Empfehlungen des UBSKM). Die Flankierung eines Schutzkonzeptes durch ein sexualpädagogisches Konzept oder ein Bildungskonzept, welches sexuelle Themen integriert, scheint daher, auch in Bezug auf die Bildungspläne, nötig, um der Verantwortung mit Blick auf die Entwicklung von Kindern gerecht zu werden.

Durch die Arbeit an einem sexualpädagogischen Konzept ergibt sich für eine Einrichtung die Chance, eine Grundlage für mehr Handlungssicherheit und ein professionelleres Agieren bei den Fachkräften zu schaffen. Dafür ist eine ganzheitlichere Befassung mit kindlicher Sexualität unter Einbeziehung aller Fachkräfte (bspw. in kollegialen Beratungen und Supervisionen) und möglichst unter Einbindung weiterer Beteiligter (bspw. der Elternvertreter_innen) in angemessener Form während des Prozesses von Bedeutung. Eine Sensibilisierung aller Beteiligten (hier pädagogische und nicht-pädagogische Beschäftigte in der Einrichtung, Eltern, Kinder) für sexuelle Themen, die auch immer den Schutz vor Übergriffen einschließen muss, sind keine Gewähr, dass es nicht mehr zu Irritationen auf Erwachsenenseite aufgrund kindlicher Aktivitäten im Kontext der kindlichen Sexualentwicklung kommt oder es auch zu Formen sexualisierter Gewalt kommen kann. Sie können aber die Kommunikation, die Klärung, die Bearbeitung, die Intervention und auch die Offenlegung von Übergriffen im Rahmen einer angemessenen und sensiblen Gesprächskultur ermöglichen.

Da Bildung mit verbaler Kommunikation verbunden ist, es geht hier also konkret um das Sprechen über Sexualität, ist ein mögliches Bildungsangebot davon abhängig, ob es einen Diskursraum zu Sexualität in der Einrichtung gibt. Ausgehend von den Bildungsplänen zeigt sich, Sexualität wird als Thema nicht generell tabuisiert, aber auch nicht durchgängig als Bildungsthema zentral gesetzt und teilweise wird der Begriff Sexualität vermieden (vgl. Denz, 2013). Für die Umsetzung des Bildungsplans ist die Annahme des damit verbundenen Bildungsauftrags durch die Träger, die Einrichtungen und die Fachkräfte entscheidend. Wird Sexualität nicht zum Bildungsthema und damit zu einem Arbeitsthema innerhalb der konzeptionellen Arbeit, in der methodischen Umsetzung und der Auseinandersetzung zu erforderlichen professionellen Kompetenzen, wird der Diskursraum für eine Aushandlung stark verengt. Themen, die in Einrichtungen nicht zugelassen werden, nicht eingebracht werden können und die in Teams nicht besprochen werden, werden letztlich auch in der Arbeit mit den Adressat_innen (hier Kinder und deren Eltern) keinen Raum finden (vgl. Rommelspacher, 2012).

Ableitungen

Im o.g. Fall hätte eine sexualpädagogische Arbeit mit Kindern und Angebote sexueller Bildung an die Eltern die übergriffige Situation möglicherweise nicht verhindern können. Das Sprechen darüber und damit die Bearbeitung der Situation mit den Kindern und den Eltern hätte jedoch eine insgesamt besonnenere und für die Klärung der Situation angemessenere Atmosphäre unterstützen können. Bestenfalls mit dem Ergebnis, dass kein Kind abrupt und dauerhaft die Einrichtung verlassen muss und die Kinder (sowie alle weiteren Beteiligten) eine wichtige Lerngelegenheit zur Gestaltung des sozialen Miteinanders wahrnehmen können.

An dem Beispiel zeigen sich auch die Grenzen eines Schutzkonzeptes, welches sich auf sexualisierte Gewalt und Fragen der Kindeswohlgefährdung bezieht. In Situationen, in denen es zu sexuellen Aktivitäten von Kindern kommt, die übergriffig sein können, aber Kinder diese Grenzüberschreitung nicht beabsichtigen, braucht es eine pädagogisch angemessene Intervention. Diese kann als professionelles Handeln nur dann erfolgen und nur dann Handlungssicherheit für Fachkräfte bieten, wenn es ausreichendes Wissen gibt, um die Situation einzuschätzen; entsprechende (sexual-)pädagogische Kompetenzen vorhanden sind, um entsprechend zu handeln und ein (sexual-)pädagogisches Konzept die Grundlage des Handelns bildet.

Elternbildung in der Kindertagesbetreuung ist bspw. im non-formalen Bildungssetting von Elternabenden und Info-Veranstaltungen möglich, zu denen externe sexualpädagogische Expert_innen oder Mitarbeiter_innen von speziellen Beratungsstellen eingeladen werden können. Diese können sowohl die Aufgabe von Inputs zu einem sexuellen Thema übernehmen als auch Aufgaben der Moderation solcher Veranstaltungen. Die Einbeziehung Dritter, in Form von externen Expert_innen, schafft auch die Möglichkeit der Interaktion und Kommunikation auf einer anderen Ebene zwischen Fachkräften der Einrichtung und den Eltern. Fachkräfte können dadurch in ihrer Erziehungs- und Bildungsexpert_innenrolle von Eltern anders angenommen werden, eventuell zeitweise aus dieser Rolle heraustreten, die bei Eltern auch zu der Wahrnehmung führen kann, dass sie selbst nicht angemessen genug als Expert_innen für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder ernstgenommen werden.

Im informellen Bereich sind Elterngespräche ernstzunehmende Gelegenheiten, in denen im geschützten Rahmen ein Sprechen über Sexualität möglich ist, vor allem wenn eine ausreichende Vertrauensbeziehung besteht. Hier ist auch das informelle „Tür- und Angelgespräch“ von Bedeutung, welches Eltern nutzen können, um Themen die sie ungern in offiziellen und/oder größeren Kontexten ansprechen, mit einer Fachkraft des Vertrauens zu besprechen. Zudem besteht die Möglichkeit für die Eltern, diese Situation unkomplizierter zu beenden falls sie als unangenehm empfunden wird, als bspw. in einem regulären Elterngespräch. Hier spielen Machtaspekte in der kooperativen Erziehungs- und Verantwortungsgemeinschaft für Kinder zwischen Fachkräften und Eltern eine wichtige Rolle. Insbesondere bei Eltern, die in Ihrer Biografie Erfahrungen im Bildungssystem und mit der Kinder- und Jugendhilfe gemacht haben, die sie als negativ erlebt haben und einordnen. Sexuelle Bildung in der Kindertagesbetreuung bedarf grundlegend eines ausreichend reflektierten, achtsamen und sensiblen Vorgehens von Seiten der Fachkräfte in der Arbeit mit den Kindern und ebenso mit den Eltern.

Ausblick

Die Kommunikation über Sexualität stellt grundsätzlich für alle Beteiligten, vor allem die Erwachsenen, eine Herausforderung und auch eine mögliche Überforderung dar, da dieses Thema auf besondere Weise die menschliche Intimität und die Scham berührt.

Neben der grundsätzlichen Etablierung von Bildungsangeboten zu sexuellen Themen an Eltern sollten diese im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe vor allem hinsichtlich bestimmter Anforderungen und Bedingungen reflektiert werden (vgl. Deutscher Verein, 2009; Wittke, 2012). Aufgrund von Herausforderungen für Eltern, die mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen von den Eltern nicht bewältigt werden können, kann es zu Überforderungen im familiären System kommen. Diese Situationen können auch dazu führen, dass Eltern ihre Aufgaben, bspw. im Rahmen der Sexualerziehung, nicht wahrnehmen können und hier Unterstützung benötigen. Es kann im Kontext familiärer Überforderungen zu Formen der Vernachlässigung und auch zu Gewalt im Bereich der Sexualität kommen, die eine Intervention von Fachkräften erfordern (vgl. Tschöpe-Scheffler, 2009, S. 26f., 80f.). Ebenso ist die Arbeit mit sogenannten erschöpften Familien zu berücksichtigen. Das heißt, dass Eltern in bestimmten Lebensphasen und Lebenslagen aufgrund anderer (überfordernder) Anforderungen nicht offen für Bildungsangebote sein können (vgl. Wittke, 2012).

Es braucht somit ein sensibles und achtsames Herangehen von Seiten der Fachkräfte, um Eltern zu erreichen und zu motivieren. Ebenso grundlegendes sexualpädagogisches Fachwissen und entsprechende Kompetenzen um von Eltern als kompetente Ansprechpersonen zu diesem Thema wahrgenommen zu werden. Für die Fachkräfte ist eine entsprechende Handlungssicherheit durch eine konzeptionelle Grundlage, Weiterbildungen und ein Raum des Sprechens, um eine Reflexion des professionellen Handelns zu ermöglichen, im Kontext mit der Berücksichtigung des Schutzes der Intimität der Fachkräfte von Bedeutung (vgl. Linke, 2020b, S. 421ff.).

Literatur

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Autor

Torsten Linke, Dr. phil., Diplom-Sozialarbeiter, Sexualwissenschaftler (M.A.), Professor für Sozialarbeitswissenschaften an der Hochschule Zittau/Görlitz.

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In: Klax International GmbH: Das Kita-Handbuch.

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