Das Bewegungsprojekt: SpielRaum für Bewegung

Andrea v. Gosen

Wenn wir an spielende Kinder denken, tauchen wahrscheinlich folgende Assoziationen auf: lärmende Kinder, Durcheinander, Action und gestresste Erwachsene.

Im SpielRaum für Bewegung trifft man auf eine andere Atmosphäre. Der große Raum strahlt durch seine zurückhaltenden Farben Ruhe aus. Konzentriert probieren Kinder allein an verschiedenen Geräten. Die Erwachsenen stehen aufmerksam, aber abwartend im Hintergrund. Sie mischen sich nicht in das Geschehen ein.

Was ist das besondere an diesem Projekt?

Der SpielRaum für Bewegung ist ein Ort, an dem Kinder und Erwachsene lernen können, mit den vorhandenen Materialien so umzugehen, wie es ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entspricht. Die vorbereitete Umgebung- eine Entdeckungslandschaft lädt zu vielfältigen Bewegungsversuchen ein: freistehende Leitern, die zum Teil mit Brettern und Balancierstangen verbunden sind, Kriechtunnel, Holzrollen und Kippelscheiben u.ä.m.

Das Angebot unterscheidet sich zu dem von Turnvereinen, da den Kindern nichts vorgemacht oder erklärt wird. Kinder haben die Möglichkeit, selbständig zu entdecken und sich auszuprobieren. Die Initiative bleibt bei den Kindern. Sie kommen je nach Temperament und Neigung von selbst zum Klettern, Balancieren und Bauen. Ihre unterschiedlichen Versuche, mit den Materialien umzugehen, werden nicht bewertet.

Die SpielRaumleiterin ist mit ihrer Aufmerksamkeit ganz bei den probierenden Kindern, ohne sie in ihren Versuchen zu stören. Sie vertraut darauf, dass diese ihren Weg finden, mit den verschiedenartigen Hindernissen umzugehen. So entsteht kein Leistungsdruck, da sich jedes Kind in seinem Tempo entfalten kann.

Umgang mit zurückhaltenden Kindern

Die Erfahrung zeigt, dass jedes Kind irgendwann beginnt, etwas auszuprobieren. Es hat dann ein Erfolgserlebnis, wenn es das, was es sich vorgenommen hat allein, aus eigener Kraft schafft. Es ist wichtig, die Kinder nicht zu Aktivitäten zu drängen oder sie zu animieren. Ängstliche Kinder brauchen Zeit und unser Vertrauen. Sie werden initiativ, wenn sie soweit sind, die innere Sicherheit haben, um die selbstgestellten Aufgaben zu bewältigen.

Welche Idee steht hinter dieser Art von Arbeit?

Der SpielRaum für Bewegung ist ein Projekt, das sich an der französischen Psychomotorik (Aucouturier) und an den Impulsen von Emmi Pikler und Elfriede Hengstenberg orientiert.

Emmi Pikler, eine ungarische Kinderärztin, hat in ihrer Tätigkeit als Hausärztin und langjährige Leiterin des Säuglings- und Kleinkindheims "Lóczy" in Budapest die selbständige Bewegungsentwicklung von Kindern anschaulich beschrieben und dokumentiert. Sie fand heraus, dass alle Kinder - wenn sie gesund sind und Geborgenheit durch anteilnehmende Erwachsene erfahren - allein, ohne fremde Hilfe, zum freien Sitzen, Stehen und Gehen gelangen. Manche Kinder krabbeln lange, ehe sie sich aufrichten. Bei anderen ist diese Phase kurz. Jedes Kind nimmt eine andere Entwicklung. Wenn Kinder bei ihren Versuchen von respektvollen Erwachsenen begleitet werden und Raum für ihre Entdeckungen finden, entwickeln sie Selbstvertrauen, Initiative und innere Stärke.

Elfriede Hengstenberg hat als Gymnastiklehrerin 65 Jahre lang mit Kindern und Jugendlichen in Berlin gearbeitet. In ihren Stunden wirkten die Kinder harmonisch und frisch, voller Spannkraft. Die körperlichen Defizite, weshalb die Kinder zu ihr kamen, verschwanden in der Gymnastikstunde. Aber das hielt nicht lange an. Elfriede Hengstenbeg wurde bewusst, dass die Kinder die positiven Erfahrungen, die sie in ihren Stunden machten nicht in den Alltag integrieren konnten. Ihr wurde deutlich, dass Haltungsschäden ein Ausdruck der Gesamtpersönlichkeit sind. Sie lassen sich nicht nachhaltig "von außen" korrigieren. Ein Kind, das einen Rundrücken hat, ist eher ängstlich, seine gesamte psychische Entwicklung ist beeinträchtigt. Inneres und äußeres Gleichgewicht hängen miteinander zusammen.

Elfriede Hengstenberg veränderte ihre Vorgehensweise und entwickelte spezielle Geräte, die sog. "Hengstenberg-Geräte", die die Kinder zum selbständigen Ausprobieren anregten. Durch ihre begleitende Haltung unterstützte sie die Kinder in ihrer Probierfreude, und sie griff ihre Ideen auf, um neue Impulse zu geben.

Im Sinne der Arbeit von Elfriede Hengstenberg begann die Basisgemeinde "Wulfshagener Hütten" ab 1991 die "Hengstenberg-Bewegungsmaterialien" nachzubauen. Damit stehen heute Materialien zur Verfügung, die die Experimentierfreude der Kinder aufgreifen und sie - statt rigider Haltungskorrekturen - das Geheimnis der aktiven Aufrichtung aus eigenem Antrieb erleben lassen.

Zwischen Sicherheit und Risiko

Die Sorge vieler Erwachsener, dass Kinder verunglücken und vielleicht von der hohen Leiter fallen könnten, ist verständlich. Doch diese Sorge entsteht eigentlich nur dann, wenn man Kindern nicht von Anfang an eine selbständige Bewegung ermöglicht, sie auf die Geräte hebt und ihnen die Hand reicht, wenn sie nicht gleich wieder hinunter finden. Es ist eher hinderlich für die selbständige Bewegungsentwicklung, wenn der Erwachsene eingreift, sobald das Kind signalisiert: "Ich kann es nicht allein".

Kinder, die weder zu Aktivitäten gedrängt werden, noch die in ihren Versuchen, selbständig Hindernisse zu überwinden, gebremst werden, suchen und finden Lösungen, die ihrem Entwicklungsstand entsprechen. Dazu ist eine vertrauensvolle Grundhaltung notwendig. Wir sollten erst einmal abwarten, welchen Weg das Kind wählt und zuschauen, wie es mit den Schwierigkeiten umgeht. Wenn es zu gefährlich wird, kann man sich in die Nähe stellen und dem Kind durch unsere Anwesenheit Sicherheit signalisieren: "Im Notfall bin ich da und helfe dir, wenn du nicht mehr weiterkommst."

Kinder, die sich zuviel zutrauen, sollte man anregen, am Boden zu beginnen und nicht gleich von der höchsten Stufe der Leiter aus zu probieren. Man kann solche Kinder unterstützen, indem man sie fragt, wie sicher sie sich fühlen. Wenn ein Kind z.B. auf der obersten Sprosse der Leiter steht, wäre es ein Indiz für sein sicheres Gefühl, dass es frei stehen und sich ohne Angst umschauen kann, den anderen zuwinkt und sich vielleicht traut, den Pullover dort oben auszuziehen.

Begleitung durch Erwachsene

Viele Erwachsene - Eltern und ErzieherInnen - sind irritiert und stellen fest, dass es ihnen schwer fällt, nichts zu tun. Manche finden es ganz angenehm, das Kind nicht immer "bespielen" zu müssen. Andere merken, dass zu Hause nicht die richtigen Spielzeuge vorhanden sind. Zu Hause räumen die Kinder alles aus, die Sachen bleiben verstreut auf dem Boden liegen. Das Kind kann sich nicht ins Spiel vertiefen, es langweilt sich und will unterhalten werden.

Es ist wichtig, dass wir Erwachsenen eine andere Haltung gegenüber Kindern einnehmen. Jedes Kind hat sein eigenes Bewegungsmuster. Gefühle kommen durch Spiel und Bewegung zum Vorschein. Gerade in den ersten drei Lebensjahren ist Bewegung Motor der Entwicklung. Kinder brauchen Erwachsene, die sie begleiten, ohne vorschnell in ihre Aktivitäten einzugreifen. Sie brauchen Anteilnahme, kein übertriebenes Lob. Vertrauen, Geduld und Gelassenheit sind elementare Voraussetzungen, die wir als Erwachsene den Kindern entgegenbringen müssen.

Grenzen setzen

Grenzen sind im SpielRaum eindeutig geregelt. Sie ergeben sich schon aus der Gestaltung des Raumes und der Anordnung der Materialien. Die Kinder dürfen mit allen Dingen, die sie vorfinden, auf ihre Art umgehen. Der Raum ist altersentsprechend eingerichtet, so dass jedes Kind etwas findet, das es zum Ausprobieren anregt. Alle Materialien, mit denen sie nicht spielen sollen, weil sie für das entsprechende Alter zu gefährlich sind, oder manche Kinder zum Toben verleiten, befinden sich nicht im Raum.

Spielregeln werden vorab den Kindern vermittelt und im Spielverlauf wiederholt: "Wer an den Kletter- und Balanciergeräten ausprobiert, darf von den anderen nicht dabei gestört werden!" und: "Wer sich für ein Spielzeug entschieden hat, darf damit so lange spielen, wie er möchte!" Kommt es trotzdem zu Konflikten, werden die Kinder in ihrer Auseinandersetzung von einem Erwachsenen begleitet. Dabei ist es wichtig, nicht Partei zu ergreifen oder den Kindern eine Lösung vorzugeben. Der Konflikt ist erst dann gelöst, wenn die Kinder eine Lösung finden und beide Seiten damit einverstanden sind.

Die Atmosphäre des Raumes trägt maßgeblich dazu bei, dass Kinder zur Ruhe kommen und konzentriert spielen können. Es gibt viel Holz, und die Farbgestaltung vermeidet starke Reize. Die Aufmerksamkeit der Kinder wird damit auf den Boden und die vorhandenen Materialien gelenkt. Auf Dekorationen an Wand oder Decke wird verzichtet, da sie die Kinder von ihrer Aufmerksamkeit für die Materialien ablenken.

Ihre Aufmerksamkeit wird durch die flexiblen Bewegungsgeräte, die ständig ihr Gleichgewicht herausfordern, gebunden. Sie sind in jedem Augenblick für ihr eigenes Gleichgewicht verantwortlich. Die Geräte reagieren auf die feinsten Bewegungsunterschiede. So kommen Kinder und auch probierende Erwachsene wieder dazu, mehr auf ihren Körper und die eigene Reaktionsfähigkeit zu achten.

Rahmenbedingungen

Der SpielRaum für Bewegung steht Eltern mit Kindern ab 6 Monaten und für Kindergruppen aus den Kindertagesstätten als Experimentierfeld zur Verfügung. Darüber hinaus werden die MitarbeiterInnen aus den Kindertagesstätten durch ein breit gefächertes Fortbildungs- und Beratungsangebot unterstützt.

Die Idee der selbständigen Bewegungsentwicklung soll Eingang in Kitas und Familien finden. Durch das Kennenlernen des SpielRaumangebote können sich die Erwachsenen dem Thema "Bewegung" öffnen, Anregungen aufgreifen und ermutigt werden, selber Bewegungsräume zu schaffen.

Weitere Hinweise, Literatur- und Videobeispiele und Hospitationsmöglichkeit:

SpielRaum für Bewegung
Andrea v. Gosen
Körtestraße 9
10967 Berlin
Tel.: 030/61203651
Email: a.v.gosen@online.de

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