Essay „Kinder beobachten, ernstnehmen und unterstützen“

Saskia-Valentina Barriga

Förderprogramme, Diagnostikbögen, Schulfähigkeit, Pisa-Studie, Bildungspläne und viele weitere Anforderungen werden an die Kindertageseinrichtungen und somit an die Erzieherinnen und Kinder gestellt. Der Bildungsauftrag ist in den letzten Jahren immer mehr in den Vordergrund gerückt, denn Ergebnisse aus der Hirnforschung haben die Bedeutung der ersten Lebensjahre aufgezeigt und offensichtlich gemacht, wie viel durch eine gute Förderung von Kindern erreicht werden kann. Aus dem Kind soll das bestmögliche gemacht werden, ganz nach dem Motto „Survival of the fittest“ – die besten schaffen die höchsten Abschlüsse. Doch was macht das mit der pädagogischen Arbeit und müssen die Kinder überhaupt die höchsten Abschlüsse erreichen? Mit dieser Frage möchte sich das hier vorliegende Essay beschäftigen und stellt somit folgende These auf:

Durch den Kompetenzdruck geht das Wesentliche in der pädagogischen Arbeit verloren.

Zu Beginn sollte erst einmal definiert werden, was unter dem Wesentlichen verstanden wird. Dies ist ganz einfach, das Wesentliche liegt im Wort selbst – Wesen – also das Kind mit seinen Interessen und Bedürfnissen. Das Kind zu erziehen, zu bilden und zu betreuen, ist laut SGB VIII, KJHG der Auftrag der Erzieher/innen. Doch dies kann in vielen Variationen und Möglichkeiten stattfinden, meist wird dazu von den pädagigsichen Fachkräften erwartet, dass sie Expert/innen in jedem der verschiedenen Kompetenzbereiche sind und die Kinder so bestmöglich fördern können. Doch muss eine pädagogische Fachkraft allwissend sein und muss sie all ihr Wissen den Kindern übertragen? In den Bildungsplänen, wie beispielsweise in dem aus dem Bundesland Hessen, werden die Kompetenzen in Bereiche gegliedert:

1.) Starke Kinder (Emotionalität, soziale Beziehungen, Konflikte, Gesundheit, Bewegung, Sport und Lebenspraxis)
2.) Kommunikationsfreudige und medienkompetente Kinder (Sprache, Literacy und Medien)
3.) Kreative, fantasievolle und künstlerische Kinder (Bildnerische/darstellende Kunst, Musik und Tanz)
4.) Lernende, forschende und entdeckungsfreudige Kinder (Mathematik, Naturwissenschaften und Technik)
5.) Verantwortungsvoll und werteorientiert handelnde Kinder (Religiosität, Werteorientierung, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Umwelt, Demokratie und Politik)

All diese Kompetenzen sollte ein Kind während seiner Kindergartenzeit erwerben, damit es später gesellschaftsfähig, besonders aber schulfähig ist. Um den Schulen gerecht zu werden und ihnen die Arbeit zu „erleichtern“ sollten alle Kompetenzen ausgebildet und gefördert werden. Somit ist es die Aufgabe der Erzieherin, dass ein Kind während der Kindergartenzeit diese Kompetenzen erwirbt. Um zu überprüfen, ob das Kind diese Kompetenzen bereits erreicht hat und welche noch förderfähig sind, gibt es verschiedene Beobachtungsbögen wie Kippard, Kompik, KiSS etc. Dort wird festgestellt wo das Kind seine Stärken / Schwächen hat. Darauf aufbauend können pädagogische Angebote wie Zahlenland, Bewegungsbaustellen, Sprachförderung etc. angeboten werden. Zusätzlich gibt es allerlei andere Institutionen wie die Frühförderstelle, Ergotherapie etc., die das Kind bestmöglich fördern und unterstützen sollen. Jedoch ist eins ganz klar: Bei all diesen Programmen wird die Individualität der Kinder nicht ausreichend berücksichtigt! Schlimmstenfalls werden sie gar nicht von der vertrauten Erzieherin beobachtet und eingeschätzt, denn diese verschönert alles ja nur und dass die Kinder sich vor Fremdem anders verhalten ist undenkbar. Doch wieso gibt es all dies, wenn doch im heutigen Zeitalter klar ist, dass jedes Kind sein eigenes Tempo in der Entwicklung hat? Sicherlich benötigen einige Kinder eine gezielte Förderung, damit sie sich bestmöglich entwickeln können, aber wenn dabei ihre individuellen Voraussetzungen nicht beachtet werden, kann sich die vermeintliche Hilfestellung auch als Gegenteil herausstellen und beispielsweise zu Frustration, Angst oder Verweigerung seitens des Kindes führen. Da stellt sich die Frage, wieso entsteht überhaupt dieser Kompetenzdruck? Liegt es daran, weil Eltern ihre Kinder zunehmend miteinander vergleichen? Muss denn immer alles besser, weiter, höher, schneller sein? Sind die Kinder denn wirklich besser gebildet, wenn ihre Kompetenzen durch Programme ausgefeilt werden? Wenn sie also in der Kindertageseinrichtung einem Stundenplan folgen und am Nachmittag noch Kurse wie die Musikalische Früherziehung etc. besuchen?

Der griechische Philosoph Sokrates (470-399 v. Chr.) sagte einmal: „Der Kluge lernt aus allem und von jedem, der Normale aus seinen Erfahrungen und der Dumme weiß alles besser.“ Um auf die vielen Variationen und Möglichkeiten der Kompetenzbildung zurückzukommen, ist bei der Umsetzung die Haltung der Erzieherin gefragt, ebenso wie das Bild vom Kind. Dürfen Kinder es sich erlauben normal zu sein? Oder möchte die Erzieherin dem Druck der Gesellschaft und der Politik gerecht werden und die Kinder mit Programmen animieren? Oder sollte das Ganze einfach in das Freispiel gepackt werden? Im Freispiel erleben Kinder kostbare Bildungsprozesse, die sie nicht durch Vermittlung erfahren: sie setzen sich eigenaktiv und kreativ mit Dingen, Themen und Situationen auseinander und suchen selbstständig nach Antworten auf ihre Fragen. Daher ist es immer wieder schade mit anzusehen, wenn Erzieher/innen oder Eltern das freie Spiel abbrechen oder gar unterbinden, weil es ihnen zu laut und zu unstrukturiert erscheint oder weil die Zeit gekommen ist für Bildungs- bzw. Förderangebote. Dabei sollte dem Freispiel viel Zeit gegeben werden, denn in dieser Zeit kann jedes Kind sich seinem Interessenbereich widmen und die dortigen Lernmöglichkeiten nutzen. So können sie sich selbst Aktivitäten aussuchen, die sie weder über- noch unterfordern. Besonders in altersgemischten Gruppen ist dies sehr empfehlenswert um den verschiedenen Bedürfnissen zu entsprechen. Doch wie geht das, das freie Spiel für „Kompetenzbildung“ zu nutzen? Ganz einfach indem in der pädagogischen Arbeit wieder das Wesentliche, also das Kind genauer betrachtet wird. Kinder beobachten, ernst nehmen und unterstützen ist dafür die beste Voraussetzung und es hat den tollen Nebeneffekt, dass es die Bindung zwischen der pädagogischen Fachkraft und dem Kind stärkt. Bekanntlich ist eine gute Beziehung das Fundament des Explorierens. Die beste Art von Unterstützung der Bildung ist hierbei, wie schon benannt, das Beobachten und Dokumentieren. Doch genau dies wird in der Praxis oft als schwierig beschrieben, da die Zeit oder das Personal fehlt und beispielsweise auch die Anforderungen des Deutschen Jugendinstituts an Bildungs- und Lerngeschichten sehr umfangreich sind.

Jedoch reichen schon die alltäglichen Beobachtungen um dadurch die Interessen und Themen der Kinder zu erfahren und darauf aufbauend die Rahmenbedingungen sowie das Material zur Verfügung zu stellen oder auch ein offenes Bildungsangebot anzubieten. Die Interessen der Kinder ernst zu nehmen, gehört zur Partizipation, die heutzutage überall so groß geschrieben wird. Doch was ist Partizipation? Sie beinhaltet definitiv die Wertschätzung des freien Spiels und der Ideen der Kinder. Doch wieso ist es so unersichtlich, was in dieser Freispielzeit geschieht? Ein Pionier der Selbstbildung, welche in der Freispielzeit passiert, ist Gerd E. Schäfer und hierbei ist es immer wieder erschreckend, wie unbekannt dieser doch noch unter den Fachkräften ist, was vielleicht ein Indiz für die fehlende Anerkennung sein kann. Denn „Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren“ (Maria Montessori 1870-1952). Mit diesem Zitat bringt Montessori das Wesentliche auf den Punkt, ein Kind muss seine eigenen Erfahrungen machen, um die Welt zu begreifen und zu verstehen.

Für den Alltag bedeutet dies, dass die pädagogische Fachkraft sich bewusst ist, dass das Kind und die Umwelt aktiv sind und Bildung über Selbstbildung geschieht. Gerne dürfen die Erzieher/innen es dabei unterstützen. Wichtig bei der Gestaltung der Umwelt ist immer wieder neues Material auszulegen, welches die Neugier, Phantasie und Begeisterungsfähigkeit der Kinder entfalten. So ist der Lerneffekt garantiert größer und effektiver als wenn jedes Jahr zum Thema Herbst gesungen und gebastelt wird.

Somit hängt eine erfolgreiche Bildungsarbeit im hohen Maße von der Professionalität, dem Fachwissen, der Beobachtungsfähigkeit sowie der pädagogischen Haltung der Erzieherin ab.

Doch wieso kann das Freispiel und die Selbstbildung trotzdem meist nicht als Erfüllung des Bildungsauftrages angesehen werden? Fehlt eventuell die Definition, was Selbstbildung überhaupt bedeutet? Dass Selbstbildung die Wahrnehmung und das Verstehen der Welt über die Sinne beinhaltet? Denn hierbei findet sich die anfängliche These wieder, die den Blick darauf richten möchte, dass das Alltägliche und Selbstverständliche – wie die Sinne – so wichtig für die kindliche Entwicklung sind. Der Schlüssel für eine intensive Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt sind ganz einfach Neugier und Begeisterung – diese setzen einen Motor in Gange, so dass zum Beispiel beim Spielen im Sand alle Kompetenzbereiche zugleich abgedeckt werden. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Auseinandersetzung. Wieso also wird den Kindern nicht zugetraut, dass sie für sich selbst entscheiden können, womit sie sich gerade beschäftigen möchten? Es gibt tägliche Situationen bzw. Beweise in der Praxis die bestätigen, dass Kinder in ihrem freien Spiel lernen, eben weil sie sich dort mit Dingen und Situationen auseinandersetzen, die sie interessieren. Um diesen Aspekt genauer zu verdeutlichen, wird im Folgenden ein Praxisbeispiel beschrieben:

Ein Ausflug, ein gemeinsamer Spaziergang zur Bücherei war geplant. Nach kurzer Strecke fiel einem Kind sein Stein, den er zuvor aufgesammelt hatte, in den Gully. Laut machte er darauf aufmerksam und alle Kinder eilten zum Gully. Zuerst wurde dem Kind kein Glauben geschenkt, dass der Stein für immer verloren war. Also warfen die anderen Kinder Gegenstände in den Gully, die sie ebenfalls auf dem Weg fanden. Dabei beobachteten sie, wie diese fielen und versuchten durch das Aufprallgeräusch zu hören, wie weit sie hinunter fielen. Gemeinsam überlegten die Kinder, wie sie den Stein des Kindes retten konnten. Viele Ideen kamen auf und vieles wurde probiert, z. B. wurde versucht mit langen Stöcken den Stein zu erreichen. Nachdem jedoch alles erfolglos war, kam ihnen die neue Idee, dass sie zu einem Ort spazieren könnten, wo sich viele Steine befinden, damit das Kind sich einen neuen aussuchen konnte.

Nun hätten die Erzieherinnen in diese Situationen eingreifen und ihr Programm durchziehen können. Doch genauer betrachtet, haben die Kinder in dieser „Gullysituation“  etwas Essentielles für ihre weitere Entwicklung erfahren: Kreativität und Selbstwirksamkeit – beides Dinge, die sich nur schwer vermitteln lassen. Kreativität ist nicht nur im Bastelbereich zu finden, Kreativität hat viele Gesichter. Wenn Kinder die Möglichkeit bekommen kreativ zu sein, werden meist alle Bildungsbereiche gleichermaßen berücksichtigt, ohne dass vorher didaktische und methodische Prinzipien ausgewählt werden müssen. Jedoch ist Kreativität nicht etwas, das bewusst hergestellt werden kann. Sie ist als komplexe geistige Dimension zu verstehen, die unterschiedliche kognitive Fähigkeiten voraussetzt, wie etwa die Koppelung von Reizen. Somit eröffnet sie dem Kind neue Lernfelder / Erfahrungsbereiche, die in Handlungen münden. Denn Kreativität beinhaltet im Kern vor allem die Gestaltung von etwas Neuem und ist eine innovative Problemlösekompetenz. Daher besteht eine zentrale Bildungsaufgabe der Erzieherin darin, die Fragehaltung der Kinder zu erhalten, sie nicht mit Antworten zuzuschütten und, wenn beide keine Antwort wissen, gemeinsam zu überlegen, wie und wo sie die benötigten Informationen finden können. Denn die Quelle der Kreativität ist das alltägliche Leben mit seinen vielfältigen Beziehungen, Einflüssen, Motiven und Fähigkeiten.

Wissenschaftler und Forscher wie Matthias Horx sind sich einig, wer in der Zukunft bestehen will, benötigt Kreativität. Denn diese wird in der Literatur als Schlüsselkompetenz für das Leben beschrieben. Doch wie soll diese Kompetenz in Programme gepackt werden, wenn sie doch nicht „greifbar“ ist?

Abschließend kann mit Konfuzius (553-473 v. Chr.) Worten „Erkläre mir, und ich werde vergessen. Zeige mir, und ich werde mich erinnern. Beteilige mich, und ich werde verstehen“ noch einmal das Essay zusammengefasst werden. Dieses Zitat verdeutlicht die große Bedeutung von Selbstbildung und Partizipation. Kinder können sie nirgendwo so stark ausleben, wie in einer Kindertageseinrichtung. Um dieses Bildungsverständnis nach außen zu tragen, braucht es Erzieher/innen, die selbst der Auffassung sind, dass Kinder am besten eigenaktiv und im Rahmen ihrer Interessen und ihres Entwicklungsstandes lernen. Nur so können auch Außenstehende, besonders die Eltern ein modernes Verständnis von Lernen und Bildung entwickeln. Denn wenn die Eltern genau diesen Blick für sich gewinnen können, lässt sich ein Druckfeld abbauen und eventuell auch mit der Zeit die Politik überzeugen. Denn Bildung findet nicht nur in Institutionen und Programmen statt. Bildung ist ein lebenslanger Prozess, der immer dann stattfindet, wenn er zugelassen und eine aktive Auseinandersetzung mit der Thematik ermöglicht wird.

Literatur

Hessisches Sozialministerium/Hessisches Kultusministerium (2007): Bildung von Anfang an. Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen. Paderborn: Bonifatius GmbH, Druck Buch Verlag.

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