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Zitiervorschlag

Der Bildungsauftrag des Kindergartens

Martin R. Textor

 

Derzeit werden in der Öffentlichkeit ganz unterschiedliche Aspekte des Themas "Kindertagesbetreuung" diskutiert. Aus arbeitsmarktpolitischer Perspektive geht es zum einen um die Erleichterung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Hilfe der Ausweitung von Kinderbetreuungsangeboten, und zwar hinsichtlich des Alters der Kinder auf unter Dreijährige und über Sechsjährige sowie hinsichtlich der Betreuungsdauer auf bis zu 10 Stunden. Beispielsweise sollen mehr Krippen- und Hortplätze geschaffen werden, soll die Betreuungsdauer eine ganztägige Beschäftigung der Eltern ermöglichen - aber auch unübliche Arbeitszeiten wie bei Halbtagsstellen am Nachmittag. Zum anderen soll durch die Ausweitung der Tagesbetreuungsangebote erreicht werden, dass (hoch-) qualifizierte Frauen dem Arbeitsmarkt nach der Geburt eines Kindes nicht für viele Jahre verloren gehen, sondern nach einer kurzen "Babypause" an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können. Dann sind ihre unter großen öffentlichen, betrieblichen und privaten Kosten erworbenen Qualifikationen noch up to date. Hinzu kommt, dass aufgrund der in den letzten zwei, drei Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangenen Geburtenzahlen immer weniger junge Arbeitnehmer/innen auf den Arbeitsmarkt kommen und es somit für Arbeitgeber zunehmend schwieriger wird, ausscheidende, Elternzeit nehmende oder aus familiären Gründen auf Teilzeit gehende Arbeitskräfte zu ersetzen - eine Entwicklung, die sich in den nächsten Jahren noch verschärfen wird.

Mit diesen Aussagen wurden schon vier weitere Gründe tangiert, weswegen derzeit so viel über Kindertagesbetreuung diskutiert wird: Bleiben mehr (junge) Mütter (voll-) erwerbstätig, so tragen sie aus wirtschaftspolitischer Perspektive weiter zum Bruttosozialprodukt bei - sie erhöhen das BSP durch ihre Arbeitsleistung. Gleichstellungspolitisch ermöglicht erst die vollständige Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie sie u.a. durch bedarfsdeckende Kinderbetreuungsangebote erreicht werden soll, die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Arbeitswelt. Aus sozialpolitischer Perspektive werden negative Folgekosten vermieden, wenn Mütter dank guter Kinderbetreuungsangebote berufstätig bleiben - beispielsweise werden dann viele Alleinerziehende nicht sozialhilfebedürftig. Auch zahlen die Mütter weiterhin Beiträge in die Sozialversicherungen ein. Und aus bevölkerungspolitischer Perspektive wird vermutet, dass die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf einen Einfluss auf die Geburtenfreudigkeit hat. Es wird erwartet, dass sich mehr Frauen bzw. Paare für ein Kind oder für weitere Kinder entscheiden, wenn sie diese vom ersten bis zum 10. Lebensjahr gut betreut wissen. So soll der Bevölkerungsrückgang in Deutschland mit den immer deutlicher werdenden negativen Folgen für Wirtschaft und Sozialstaat gebremst werden.

Ferner gibt es eine ethisch-religiöse Perspektive: Unerwünscht schwangeren Frauen - die ansonsten abtreiben würden - soll die Möglichkeit gegeben werden, ihr Kind zu gebären, indem dessen Fremdbetreuung von kurz nach der Geburt an sichergestellt wird. Sie erinnern sich wahrscheinlich: Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wurde im Jahr 1996 eingeführt, um die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren...

Stark tabuisiert ist die humangenetische Perspektive: Da vor allem (hoch) qualifizierte Frauen - und damit auch deren zumeist ebenfalls (hoch) qualifizierten Männer - keine Kinder mehr bekommen, gehe der Gesellschaft immer mehr Begabungspotenzial verloren. Wenn z.B. Menschen mit einem höheren IQ weniger Kinder zeugen als solche mit einem niedrigeren, sinke die intellektuelle Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft, da der IQ zu etwa 50% genetisch bedingt ist. Und dies sei eine fatale Situation für ein Land wie Deutschland, das mangels Bodenschätze auf die Begabungen ihrer Bürger/innen angewiesen ist, - oder für ein Land wie Singapur, wo vor einigen Jahren das Tabu gebrochen und über die humangenetische Perspektive gesprochen wurde - mit dem entsprechenden Aufschrei der Medien wegen dieses Verstoßes gegen political correctness. Hinsichtlich der Kindertagesbetreuung wird hier davon ausgegangen, dass durch besonders flexible Angebote, die auch abends oder an den Wochenenden zur Verfügung stehen, dem Lebens- und Arbeitsstil hoch begabter und hervorragend qualifizierter Personen entsprochen und die Entscheidung für ein Kind oder mehrere erleichtert werden könnte.

Last but not least ist auf die bildungspolitische Perspektive zu verweisen: Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist hinsichtlich seiner Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt in extrem hohem Maße auf die Bildung, Kreativität und Leistungsfähigkeit seiner Bürger/innen angewiesen. Spätestens seit Veröffentlichung der PISA-Studie haben Öffentlichkeit und Politik aber erkannt, dass das deutsche Bildungswesen nicht so leistungsfähig ist wie die Bildungssysteme in vielen anderen OECD-Ländern. Außerdem haben neuere Ergebnisse der Hirnforschung die Bedeutung der ersten Lebensjahre aufgezeigt und offensichtlich gemacht, wie viel durch eine gute Förderung von Kleinkindern erreicht werden kann (Shore 1997). Deshalb wird gefordert, dass Kindertagesstätten einen größeren Beitrag zur Qualifizierung von Kindern leisten und somit verstärkt als Bildungseinrichtungen fungieren sollten. In diesem Kontext wird auch eine bessere Qualität der pädagogischen Arbeit eingefordert.

Halten wir zunächst einmal fest: In der derzeitigen öffentlichen Diskussion um Kindertagesbetreuung spielen viele Gesichtspunkte eine Rolle. Die Bildungsfunktion ist nur einer von mehreren Aspekten; sie wird erst seit kurzem besonders betont. Es wird sich in den nächsten Jahren zeigen, ob es die Politik wirklich ernst meint, also die für eine Verbesserung der Bildungsqualität notwendigen Maßnahmen trifft und hierfür Mittel bereitstellt - oder ob der Politik die anderen Gesichtspunkte wichtiger sind...

Gesetzliche Grundlagen

Auf den ersten Blick scheint es eindeutig zu sein: Kindertageseinrichtungen haben einen Bildungsauftrag. Beispielsweise heißt es auf der Website des Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen: "Der Kindergarten wird seit langem als eine sozialpädagogische Einrichtung anerkannt, die als Elementarbereich unseres Bildungssystems einen wichtigen, eigenständigen Erziehungs- und Bildungsauftrag erfüllt." Und in § 2 des Gesetzes über Tageseinrichtungen für Kinder (GTK) steht:

(1) Der Kindergarten ist eine sozialpädagogische Einrichtung und hat neben der Betreuungsaufgabe einen eigenständigen Erziehungs- und Bildungsauftrag als Elementarbereich des Bildungssystems. Die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und die Beratung und die Information der Erziehungsberechtigten sind von wesentlicher Bedeutung; der Kindergarten ergänzt und unterstützt dadurch die Erziehung des Kindes in der Familie.

(2) Der Kindergarten hat seinen Erziehungs- und Bildungsauftrag im ständigen Kontakt mit der Familie und anderen Erziehungsberechtigten durchzuführen und insbesondere

    1. die Lebenssituation jedes Kindes zu berücksichtigen,
    2. dem Kind zur größtmöglichen Selbstständigkeit und Eigenaktivität zu verhelfen, seine Lernfreude anzuregen und zu verstärken,
    3. dem Kind zu ermöglichen, seine emotionalen Kräfte aufzubauen,
    4. die schöpferischen Kräfte des Kindes unter Berücksichtigung seiner individuellen Neigungen und Begabungen zu fördern,
    5. dem Kind Grundwissen über seinen Körper zu vermitteln und seine körperliche Entwicklung zu fördern,
    6. die Entfaltung der geistigen Fähigkeiten und der Interessen des Kindes zu unterstützen und ihm dabei durch ein breites Angebot von Erfahrungsmöglichkeiten elementare Kenntnisse von der Umwelt zu vermitteln.

(3) Der Kindergarten hat dabei die Aufgabe, das Kind unterschiedliche soziale Verhaltensweisen, Situationen und Probleme bewusst erleben zu lassen und jedem einzelnen Kind die Möglichkeit zu geben, seine eigene soziale Rolle innerhalb der Gruppe zu erfahren, wobei ein partnerschaftliches, gewaltfreies und gleichberechtigtes Miteinander, insbesondere auch der Geschlechter untereinander, erlernt werden soll. Die Integration behinderter Kinder soll besonders gefördert werden. Behinderte und nichtbehinderte Kinder sollen positive Wirkungsmöglichkeiten und Aufgaben innerhalb des Zusammenlebens erkennen und altersgemäße demokratische Verhaltensweisen einüben können. Auch gegenüber anderen Kulturen und Weltanschauungen soll Verständnis entwickelt und Toleranz gefördert werden.

In diesem Gesetzestext heißt es eindeutig, dass der Kindergarten der Elementarbereich unseres Bildungssystems ist und einen Bildungsauftrag hat. Aber würde dieser Text auch als § 2 in einem Schulgesetz stehen - also an vorderster, zentraler Stelle? Die Schule als sozialpädagogische Einrichtung? Betreuung als Aufgabe der Schule? Ständiger Kontakt zwischen Lehrer/innen und Eltern? Beratung und Information der Erziehungsberechtigten durch die Lehrkräfte von wesentlicher Bedeutung? Die Schule als eine die Familienerziehung ergänzende und unterstützende Einrichtung? Eine derartige Betonung von integrativer und Sozialerziehung?

Werfen wir noch einen Blick auf die bundesgesetzliche Grundlage: § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII legt für Tageseinrichtungen fest: "Die Aufgabe umfasst die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes." Aber halt: An erster Stelle im Gesetzestext steht Betreuung. Kommt hier eine Rangordnung zum Ausdruck? Der Grund dafür, weshalb nur in ganz wenigen Bundesländern das Kultusministerium für Kindertageseinrichtungen zuständig sind? Wecken Begriffe wie Kindertagesbetreuung, Kinderkrippe, Kindergarten, Kinderhort und Kindertagesstätte überhaupt Assoziationen an Bildung?

Die letzte Frage würde von den meisten Menschen sicherlich verneint werden: Für die Öffentlichkeit beginnt Bildung erst mit der Schule, wie der Dortmunder Professor Thomas Rauschenbach (2002, S. 18 f.) noch vor kurzem herausstellte:

Gleichwohl habe ich den Eindruck, dass durch die Erfindung der Schule und die Einführung der Schulpflicht im Laufe der letzten 150 Jahre eine eigentümliche Umdeutung und Verengung des Bildungsbegriffes eingeleitet worden ist. Und zwar in einem doppelten Sinne:

    • Auf der einen Seite wird Bildung auf Wissensvermittlung, auf überprüfbare Wissensbestände fokussiert, so dass gewissermaßen automatisch, im Umkehrschluss, alles andere als eine Art 'Nicht-Bildung', oder vielleicht vorsichtiger: als eine Art 'Bildung zweiter Wahl' erscheint. ... Mit anderen Worten: Das heimliche Bildungskonzept ist viel zu sehr fixiert auf die Inhalte, Formen und Verfahren schulischen Lernens, ...
    • Auf der anderen Seite scheinen Bildungsprozesse, scheinen systematisierte Lernprozesse, scheint 'echte Bildung' im Bewusstsein der Bevölkerung offenbar erst dann los zu gehen, wenn die Kinder einen Schulranzen auf dem Rücken tragen ... Das heißt: Erst eine bestimmte Form der Organisation, der curricularen Gestaltung, der inszenierten Wissensvermittlung und der Messung gibt Lernprozessen die Weihe eines 'richtigen' Bildungsprozesses. Alle davor liegenden Lern- und Bildungserfahrungen scheinen Larifari, scheinen eine schöne, aber unnütze Form des Spielens, scheinen in den Augen vieler letztlich verschenkte Zeit zu sein, stehen mithin unter dem Generalverdacht eines pädagogisch übertriebenen Schonraums für Kleinkinder.

Wenn für Öffentlichkeit und Politik Bildung erst mit der Schule beginnt, wenn in den gesetzlichen Grundlagen Bildung nur eine Aufgabe von Kindertageseinrichtungen neben anderen ist und in einem eher verwirrenden denn klärenden Kontext steht, wenn über viele Jahre hinweg arbeitsmarktpolitische, gleichstellungspolitische, sozialpolitische und ähnliche Perspektiven die Diskussion um Kindertageseinrichtungen bestimmten - dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Bildung zu kurz gekommen ist. Aber spielte Bildung überhaupt jemals eine größere Rolle bei der Diskussion um Kindertagesbetreuung? Begleiten Sie mich auf einem kurzen Ausflug in die Geschichte der Frühpädagogik...

Kindertagesbetreuung zwischen den Polen kompensatorischer Erziehung, Sozialerziehung und Bildung

Historisch gesehen, war Kindertagesbetreuung zunächst für vernachlässigte oder in ihrer Entwicklung ungenügend geförderte Kleinkinder gedacht, hatte also eine kompensatorische Funktion. In den Anfang des 19. Jahrhunderts gegründeten Kinderbewahranstalten wurden vor allem unbeaufsichtigte und von Verwahrlosung bedrohte Kinder aus den untersten sozialen Schichten aufgenommen. Da deren Mütter ihren Erziehungsaufgaben nicht nachkamen bzw. wegen ihrer 10 bis 12 Stunden am Tag dauernden Erwerbstätigkeit nicht nachkommen konnten, sollten die Kinder nun von "Ersatzmüttern" betreut, erzogen und sozialisiert werden.

Fröbels Kindergarten war hingegen für andere, eher aus dem Bürgertum stammende Kinder gedacht. Aber auch hier spielte die Vorstellung eine Rolle, dass diese Kinder zu Hause nicht die beste Erziehung erhalten würden. Friedrich Fröbel schrieb: "Der deutsche Kindergarten wurde aus dem tiefgefühlten Bedürfnis entsprechender Pflege der Kinder ... als ein gemeinsames deutsches Erziehungswerk gestiftet. Er ruht auf der Überzeugung, daß die Einzelerziehung der vorschulfähigen Kinder in der Familie, wie sie im Ganzen jetzt ist und unter den bestehenden Verhältnissen sein kann, für die Forderungen der Zeit nicht mehr ausreiche. Seine Absicht geht darum dahin, den Familien und den Gesammtheiten dafür die nöthige Hilfe zu bringen" (nach Textor 1990). Deutlich wird, dass Fröbel die Familienerziehung zu seiner Zeit als ergänzungsbedürftig ansah. So waren Kindergärten als familienunterstützende Einrichtungen gedacht. Letztlich sollten sie überwiegend der Mutterbildung dienen, sie "sollten ... nicht eigentlich die Mütter von der Erziehungsarbeit entlasten, sondern sie gerade an das rechte Erziehen heranführen" (Reble 1975, S. 230) - "Jede Mutter und jedes junge Mädchen sollte eine echte 'Kindergärtnerin' werden und sich ihres hohen Berufes als Pflegerin gerade der frühen Kindheit bewußt sein" (a.a.O.).

Rund 110 Jahre später hatte sich die Sozialisationsfunktion von Familien stark verbessert. In den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts waren die meisten Mütter Hausfrauen und kümmerten sich intensiv um ihre Kinder. Medizinische, psychologische und pädagogische Erkenntnisse über das Wesen und die Entwicklung von Kindern sowie eine gute Pflege und Erziehung waren in den vorausgegangenen Jahrzehnten Allgemeingut geworden und wurden nun von den Eltern berücksichtigt. So entwickelten sich die meisten Kinder in ihren Familien positiv.

In Westdeutschland setzte sich der Halbtagskindergarten durch, den die meisten Kinder nur ein Jahr oder zwei Jahre lang besuchten. Da Erziehung und Bildung in den meisten Familien "funktionierten", wurde dem Kindergarten als Hauptaufgabe zugeschrieben, Kinder gruppenfähig zu machen, so dass sie sich nach der Einschulung leichter in den Klassenverband integrieren können. Dementsprechend stand die Sozialerziehung im Vordergrund - und dies ist auch heute noch in den meisten Kindertageseinrichtungen der Fall.

Es gab in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts jedoch zwei gegenläufige Bewegungen, die allerdings nur von kurzer Dauer waren:

  1. Nach dem "Sputnik-Schock" wurde in Westdeutschland erstmals von einer "Bildungskatastrophe" gesprochen. In diesem Kontext wurde darüber diskutiert, ob nicht schon Fünfjährige eingeschult werden sollten, da sie an der Schule besser "gebildet" werden könnten - ein Thema, das heute wieder aktuell ist. Ferner wurden Maßnahmen der "basalen Bildungsförderung" wie das "Frühlesen" und die "Vorschuldidaktikprogramme" entwickelt. Schließlich wurde 1970 im "Strukturplan für das Bildungswesen" des Deutschen Bildungsrates die vorschulische Erziehung dem Bildungswesen zugeordnet und als "Elementarbereich" bezeichnet. Zehn Jahre später spielte aber all dies keine Rolle mehr...
  2. Im Zusammenhang mit der Problematisierung der "Klassengesellschaft" wurde nochmals die kompensatorische Funktion der Kindertagesbetreuung betont, wurden entsprechende Programme in Kindergärten eingeführt. Diese verloren aber schon Anfang der 70-er Jahre an Bedeutung und verschwanden bis zum Ende dieses Jahrzehnts aus den Einrichtungen.

Die großen pädagogischen Bewegungen der folgenden Jahrzehnte, insbesondere zur interkulturellen Erziehung und zur Integration Behinderter, fokussierten vor allem auf der Sozialerziehung. Auch der Situationsansatz, der sich ab den 70-er Jahren immer mehr in (West-) Deutschland durchsetzte und schließlich die frühpädagogische Landschaft dominierte, wurde weitgehend so (fehl-) interpretiert, dass insbesondere die Sozialkompetenz von Kleinkindern gefördert werden müsse. Das Freispiel wurde zum Königsweg der Kindergartenpädagogik.

Seit rund fünf Jahren wird die Bildungsfunktion von Kindertageseinrichtungen wieder thematisiert - allerdings unter negativen Vorzeichen: Vor allem Wissenschaftler/innen beklagen, dass Kleinkinder in Kindergärten zu wenig "gebildet" würden. Das Buch von Donata Elschenbroich (2001) über das, was Siebenjährige an Weltwissen haben sollten, wurde sogar zu einem Bestseller - und verdeutlichte der Öffentlichkeit, wie wenig davon Kinder im Kindergarten lernen. Auch wurden große Qualitätsunterschiede zwischen einzelnen Kindertagesstätten ermittelt. Beispielsweise stellte der Berliner Pädagogikprofessor Wolfgang Tietze (1998) in seiner Studie "Wie gut sind unsere Kindergärten?", bei der 103 Kindergartengruppen untersucht wurden, Folgendes fest: "Die globale pädagogische Prozeßqualität (KES) liegt im Durchschnitt der Kindergartengruppen im Bereich 'gehobener Mittelmäßigkeit'. Rund 30% der Gruppen erreichen gute Qualität, zwei Drittel eine mittlere, 2% genügen auch minimalen Standards nicht" (S. 351). Ganztagsgruppen schnitten schlechter als Halbtagsgruppen ab. Tietze ermittelte ferner, dass die Entwicklungsunterschiede bei Kindern, die auf die pädagogische Qualität im Kindergarten zurückgeführt werden können, im Extremfall einem Altersunterschied von einem Jahr entsprechen. Nach Veröffentlichung der PISA-Studie - die in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregte - fordern jetzt auch die meisten Politiker/innen "mehr Bildung" in Kindertageseinrichtungen.

Bildungsbegriff - Bildungsauftrag

Was heißt nun aber für den Kindergarten "Bildung"? Was umfasst sie? Was sollte sie beinhalten?

Diese Fragen können in Deutschland nicht zufrieden stellend beantwortet werden! Es ist noch nicht einmal der Bildungsbegriff in der Frühpädagogik annähernd geklärt, geschweige denn der Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Auch fehlen Curricula, in denen Bildungsziele, -inhalte und -methoden festgelegt sind. Das bedeutet, dass in Deutschland Bildung in das Belieben der einzelnen Erzieherin gestellt ist - es gibt für sie keine Richtlinien, an denen sie sich orientieren kann, und für die Gesellschaft keinen Maßstab, mit dem sie die bildende Leistung von Kindertagesstätten messen kann. Da hilft auch die vom Bundesfamilienministerium finanzierte Nationale Qualitätsinitiative nicht weiter, denn wie will man Bildungsqualität bestimmen, wenn der Bildungsauftrag nicht definiert ist und ein Curriculum fehlt?

Erst im Jahr 2000 erschien ein Buch für Erzieher/innen, in dem "Bildung" Teil des Titels ist: Irmgard Maria Burtschers "Mehr Spielraum für Bildung. Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen der Zukunft". Die Autorin will Erzieher/innen Argumentationshilfen liefern, damit diese "in der Öffentlichkeit mit Vehemenz ihren Bildungs-Kindergarten" (S. 8) vertreten können. Zunächst konstatiert Burtscher, dass Bildung im Elementarbereich nichts mit schulischer Wissensvermittlung zu tun habe. Vielmehr soll sie einen Beitrag zur Entwicklung von Persönlichkeit, Identität und Selbstbewusstsein leisten, "Lebensführungshaltungen", Einstellungen zum Lernen, soziale Umgangsformen, Schlüsselqualifikationen, Denkgewohnheiten, Wissensgrundlagen, Weltverständnis, Lebenssinn u.v.a.m. vermitteln. Dabei muss vom "frühkindlichen Lerncharakter" ausgegangen werden, der durch Neugier und vielfältige Interessen geprägt ist. Auch sollte die frühkindliche Wahrnehmungs- und Fantasiewelt berücksichtigt werden. Dann listet Burtscher kindgemäße Bildungsinhalte aus den Bereichen Naturwissenschaften, Arbeitsleben, Kunst und Gesellschaft auf. Ferner stellt sie dar, wie Erzieher/innen auf den Bildungserfahrungen der Kinder in ihren Familien aufbauen können. Jedoch wird der Begriff "Bildung" nicht definiert, fehlt eine Systematik der Bildungsziele und -inhalte ("Didaktik"), wird die Methodik kaum thematisiert. Auch wird davon ausgegangen, dass Kindertagesstätten bereits "Bildungs-Kindergärten" wären - was sicherlich so nicht zutreffend ist.

Inzwischen gibt es auch einige eher wissenschaftlich fundierte Ansätze, die vielleicht bei der Bestimmung eines frühpädagogischen Bildungsbegriffs und -auftrags weiterhelfen. Sie sollen im Folgenden kurz skizziert werden:

A. Der historische Ansatz

In einer früheren Publikation habe ich die Bildungsbegriffe berühmter und zumeist längst verstorbener Pädagog/innen analysiert und die folgenden zentralen Aspekte gefunden (Textor 1999):

    1. Bildung umfasst sowohl die Entwicklung und Schulung 'innerer Kräfte' (formale Bildung) als auch die Aneignung von Kenntnissen und Erschließung der Welt (materiale Bildung).
    2. Bildung beinhaltet sowohl Selbstbildung, einen Prozess der Selbstgestaltung und Eigenaktivität (der sich über das ganze Leben erstrecken kann), als auch einen Prozess der Bildung und Wissensvermittlung durch Dritte (insbesondere durch planmäßigen Unterricht; zumeist auf die ersten zwei oder drei Lebensjahrzehnte beschränkt).
    3. Bildung ist sowohl die Übernahme und der Erwerb von Bildungsgütern wie Sprache, Kulturtechniken, (Natur- und Geistes-) Wissenschaft, Technik (einschließlich neuer Informationstechnologien) und Kunst als auch die kritische Auseinandersetzung mit diesen, deren Veränderung und Abwandlung aufgrund eigener Denkprozesse und Handlungen.
    4. Bildung dient sowohl der Entfaltung des inneren Menschseins und der eigenen Individualität (Bildung als Selbstzweck) als auch zur gesellschaftlichen Nützlichkeit (was durchaus eine kritische Haltung zur Gesellschaft und die Handlungsbereitschaft zu deren Weiterentwicklung beinhaltet).
    5. Bildung umfasst sowohl Allgemein- als auch Berufsbildung, Schul- bzw. Hochschulbildung als auch betriebliche Ausbildung.
    6. Bildung bedeutet sowohl einen Prozess des kognitiven, moralischen, sozialen und emotionalen Lernens als auch das Resultat eigener 'Studien'.

Bildung im Kindergarten umfasst viele dieser Aspekte: In Bildungsprozessen erlernen Kleinkinder die Sprache und entwickeln immer mehr Verständnis für deren Begriffe, Symbole, Bedeutungen und Kategorien - eine differenzierte Sprache fördert ein differenziertes Verstehen. In Bildungsprozessen werden ihre körperlichen und geistigen Anlagen geweckt, Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgebildet. In Bildungsprozessen werden sie in Gesellschaft, Arbeitswelt und Wirtschaftsleben, Kunst und Kultur, Religion und Ethik, Sitten und Bräuche eingeführt - sie werden von den Erzieherinnen und anderen Menschen gebildet. In Bildungsprozessen setzen sie sich mit neuen Erfahrungen, Beobachtungen und Erkenntnissen auseinander, erkennen Zusammenhänge, nehmen kritisch Stellung und ziehen Folgerungen für ihr Handeln. Durch Eigenaktivität und Selbsttätigkeit, aus eigener Motivation heraus, erkunden und erschließen sie ihre Welt, nehmen Kontakt zu anderen Menschen auf und lernen von ihnen - sie bilden sich selbst. In Bildungsprozessen entwickeln sich ihre einzigartige Persönlichkeit, ihr Charakter, ihre Identität, ihre Individualität.

Dieser Textauszug verdeutlicht, dass uns ein Blick in die Geschichte der Pädagogik und auf die für andere Altersgruppen entwickelten Bildungsbegriffe durchaus bei der Definition des Bildungsauftrags von Kindertagesstätten weiterhelfen kann.

B. Frühkindliche Bildung als Kompetenzförderung

Das vom Bundesbildungsministerium geförderte Projekt "Konzeptionelle Neubestimmung von Bildungsqualität in Tageseinrichtungen für Kinder mit Blick auf den Übergang in die Grundschule" unter der Leitung von Professor Wassilios E. Fthenakis (in Vorb.) befasst sich mit dem Bildungsauftrag von Tagesstätten für Kinder von null bis etwa zehn Jahren. Kleinkinder werden als aktive, kompetente Wesen gesehen, die ihre eigene Entwicklung mitgestalten. Bildung wird nicht - wie bislang - primär als individuumzentrierter bzw. als Selbstbildungsansatz definiert, sondern als ein sozialer Prozess in einem bestimmten Kontext, an dem das Kind und andere Personen aktiv beteiligt sind. Bildung wird somit als ein ko-konstruktiver Prozess verstanden.

Im Rahmen dieses Projekts werden aber auch Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft an das Individuum berücksichtigt. Dementsprechend kommt dem Erwerb von Basiskompetenzen eine große Bedeutung zu: So sollen sich Kinder bereits im frühen Lebensalter lernmethodische Kompetenzen aneignen - also lernen, wie man lernt, wie man Wissen erwirbt, wie man es organisiert und wie man es zur Lösung komplexer Problemstellungen einsetzt. Andere zu fördernde Basiskompetenzen sind Resilienz als die Fähigkeit, sich an akut oder chronisch belastende Lebenssituationen effektiv anzupassen, und Transitionskompetenz, mit deren Hilfe Entwicklungsherausforderungen bewältigt werden können, die mit Übergangsprozessen im familiären oder institutionellen Bereich verbunden sind. Andere wichtige Kompetenzen sind Körperbewusstsein, Frustrationstoleranz, emotionale Stabilität, Autonomie, Selbstregulation, Selbstbewusstsein, Kreativität, Kommunikationsfähigkeit, Empathie, Medienkompetenz und Kooperationsfähigkeit.

Kritisch angemerkt: Der Ansatz erschöpft sich in der Aufzählung von Kompetenzen, ohne dass deutlich wird, wieso gerade diese Fähigkeiten ausgewählt wurden, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und welche wichtiger bzw. weniger wichtiger sind (Hierarchie). Es bleibt weitgehend offen, auf welche Weise die Kompetenzförderung erfolgen soll und an welchen Inhalten Fähigkeiten ausgebildet werden sollen - es fehlen also eine Methodik und Didaktik der Frühpädagogik.

C. Bildungskanon

Im bereits erwähnten Buch "Weltwissen der Siebenjährigen" geht Donata Elschenbroich (2001) einen anderen Weg: Sie hat nach Auswertung von 150 Gesprächen mit Menschen aller Schichten - Eltern, Hirnforschern, Pädagoginnen, Unternehmern, Psychologinnen, Arbeitslosen usw. - einen Bildungskanon zusammengestellt. Das Weltwissen, das sich Siebenjährige in Familie, Kindertageseinrichtung und anderen Lebensbereichen angeeignet haben sollten, umfasst lebenspraktische, soziale, motorische, kognitive und ästhetische Elemente. Einige Beispiele:

  • gewinnen wollen und verlieren können...
  • die Erfahrung machen können, dass Wasser den Körper trägt...
  • einen Schneemann gebaut haben. Eine Sandburg. Einen Damm im Bach. Ein Feuer im Freien anzünden und löschen können. Windlicht, Windrad erproben
  • Butter machen. Sahne schlagen. (Elementare Küchenchemie, Küchenphysik kennen: Schimmel, schädlicher und pikanter...
  • in einer anderen Familie übernachten. Mit anderen Familienkulturen, Codes in Berührung kommen. Einen Familienbrauch kennen, der nur in der eigenen Familie gilt...
  • Wunderkammer Museum: die Botschaft der Dinge. Ihre Aura, ihr Altern, ihr Fortbestehen nach unserem Tod. Eine Burg kennen. Ein Gefühl haben dafür, dass sich die Welt verändert. Dass die Großmutter anders aufgewachsen ist. Ein Ding aussondern zum Behalten und Weitergeben, an die eigenen Kinder
  • eine Sammlung angelegt haben (wollen)
  • eine Ahnung von Welträumigkeit, von anderen Kontinenten haben...
  • den Unterschied zwischen Markt und Supermarkt kennen...
  • in einem Streit vermittelt haben. Einem Streit aus dem Weg gegangen sein...
  • einige Blattformen kennen, wissen, was man in der Natur essen kann und was nicht

(Elschenbroich 2001, S. 28-32). Ein solcher Bildungskanon ist prinzipiell offen und unabgeschlossen. Er dient in erster Linie als Verständigungsbasis darüber, welche Bildungserfahrungen Kleinkinder machen sollten. Erst dann kann ein interessantes und anregendes Bildungsmilieu geschaffen, können entsprechende Anregungen gemacht und das Vorwissen, die Fähigkeiten und Stärken der Kinder gesteigert werden. Damit bekommt der Kindergarten einen Bildungsauftrag, den Elschenbroich (2001a) an anderer Stelle andeutet: "Zeit für Experimente, Zeit für Fehler, fürs Üben, für Wiederholungen - der Kindergarten bietet das alles. Elementare Zugänge zu Naturwissenschaften, der Schrift, den Künsten. Im Kindergarten kann ihnen die Welt ein Labor werden, ein Atelier, eine Werkstatt. Oder ein Wald. Oder der Mond."

Zu problematisieren ist, dass der von Elschenbroich vorgestellte Bildungskanon unsystematisch ist und letztlich willkürlich erscheint. Er kann Erzieher/innen nur begrenzt als Orientierung für ihre pädagogische Arbeit dienen. Hinzu kommt, dass diesem Bildungskanon jegliche Legitimation durch Ministerien, Kommunen und Trägerverbände fehlt.

D. Bildung als Selbstbildung

Von 1997 bis 2000 wurde das Projekt "Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen" durchgeführt, das seitens des Bundes und mehrerer Länder gefördert wurde und dessen Ergebnisse vor einigen Monaten veröffentlicht wurden. Der Projektleiter Hans-Joachim Laewen (2002) zeigt auf, dass Bildung bisher einseitig entweder als Wissenserwerb entsprechend eines "Wissenskanons" oder aber als Erwerb von Kompetenzen entsprechend eines "Kanons von Schlüsselkompetenzen" verstanden wurde. Bildung würde damit von außen, von der Seite der (Arbeits-) Welt aus definiert. Für Laewen hingegen ist Bildung Sache des Subjekts und damit Selbstbildung. So geht er vom Kind aus, von dessen Eigenaktivität und Selbsttätigkeit, dessen Bemühen um Weltverständnis und Handlungskompetenz. Auf diese Weise rückt Laewen den Eigenanteil des Kindes an der eigenen Bildung ins Zentrum, wobei Bildung sowohl Welt-Konstruktionen - d.h. Weltaneignung durch Erforschen, Erfahren, Nachdenken usw. - als auch Selbst-Konstruktionen - d.h. Bildung des Selbst als Kern der Persönlichkeit - umfasst. Letztlich können Kinder nicht gebildet werden, sondern müssen sich selbst bilden, wobei sie aber auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen sind. Bildung wird somit zu einem kooperativen Projekt zwischen Kindern und Erwachsenen, wobei letztere vor allem über die Gestaltung der Umwelt der Kinder - z.B. räumliche Umgebung, Situationen, Zeitstrukturen - und der Interaktionen mit ihnen - z.B. Förderung von dialoghafter Kommunikation, Auswahl von Themen, Eingehen auf die Themen der Kinder - erzieherisch wirken. "Erziehung" wird damit zu einer Tätigkeit von Erwachsenen, durch die die Bildungsprozesse beim Kind gefördert werden.

Zusammenfassend schreibt Laewen (2002): "Bildung als Selbstbildung der Kinder und Erziehung als Aktivität der Erwachsenen stehen so in einem Wechselverhältnis zueinander. Die auf den frühen Bindungen der Kinder basierende Bereitschaft zur wechselseitigen Anerkennung bildet die Brücke, über die Erziehungsziele der Erwachsenen zu Bildungszielen der Kinder werden können. ... Der Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen würde in seiner allgemeinsten Formulierung also lauten, die Bildungsprozesse der Kinder durch Erziehung zu beantworten und herauszufordern und durch Betreuung zu sichern" (S. 92). Wichtige Rahmenbedingungen für gelingende Bildungsprozesse sind der Zugang zu komplexen Sinneswahrnehmungen und damit verbundenen Erfahrungen einerseits und die Entwicklung sicherer Bindungen an Erwachsene andererseits.

Auch der Kölner Professor Gerd E. Schäfer vertritt diesen Ansatz. Er spricht sich dagegen aus, dass frühkindliche Bildung sich an den Anforderungen der Gesellschaft oder Schule orientieren und bestimmte Kompetenzen vermitteln sollte. Schäfer (2002, S. 25) schreibt: "Teilen wir die Kinder in Kompetenzen auf - sinnliche, soziale, kognitive, emotionale, moralische usw. - dann ignorieren wir, dass die Alltagserfahrungen nicht nach solchen Kompetenzbereichen geordnet vorliegen. Keine Alltagssituation trägt die Aufschrift: Hier handelt es sich um eine soziale, emotionale oder ästhetische Lernaufgabe. Jeder muss selbst herausfinden, welche Fähigkeiten er einsetzen kann, um Lösungen für alltägliche Aufgaben zu finden". Schäfer kritisiert, dass der Kompetenz-Ansatz von einem defizitären Bild vom Kind ausgehen würde - nicht aber von dem Bild des Kindes als "Forscher" bzw. als "Entwerfer und Gestalter seines Weltbildes in der Auseinandersetzung mit der Kultur". Kleinkinder erforschen ihre Um- und Mitwelt; sie lernen, indem sie ihre Umgebung zu "begreifen" versuchen, nachdenken, sich selbst und anderen Fragen stellen, Probleme lösen, konkrete Erfahrungen auf der Grundlage eigener Wahrnehmungen machen, kreativ sind usw.. "In diesem Sinne muss man sagen, dass frühkindliche Bildung in erster Linie Selbst-Bildung ist und dass diese Bildung entlang den Erfahrungen gewonnen wird, die Kinder in ihren Lebenszusammenhängen machen. Und die wichtigste Erfahrung, die Kinder dabei machen, ist die, welche Bedeutung das hat, was sie da erleben oder erfahren" (Schäfer 2002, S. 24). Daraus ergeben sich für Schäfer (2002, S. 27-28) folgende Bildungsziele:

Inhaltlich gesehen umfasst Bildung in den ersten drei Lebensjahren vier grundlegende Bereiche:

    • Bildung der Sinne,
    • Bildung von Imagination, Phantasie und szenischem Spiel,
    • Bildung einer symbolischen Welt, insbesondere einer Sprachwelt.
    • Dies alles ist eingebettet und unmittelbar verknüpft mit einer Bildung der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Darauf bauen drei weitere Bildungsbereiche auf, die ab dem dritten Lebensjahr zunehmend an Bedeutung gewinnen:

    • Der Bereich der ästhetischen Bildung. Er setzt die Bildung der Sinne, der Imagination, der Phantasie und des Spiels fort. Dieser Bereich darf nicht als Basteln oder Kinderkunst missverstanden werden, sondern ist als Schule des differenzierten und sensiblen Wahrnehmens zu begreifen. Er umfasst die Bereiche der Außen- und der Innen- (Körper-) Wahrnehmung sowie der emotionalen Wahrnehmung.
    • Der Bereich von Sprache(n) und Kultur(en). Dabei geht es nicht in erster Linie um Sprachkompetenzen oder den Ausgleich von Defiziten, sondern vornehmlich darum, dass Kinder über das sprechen können, was ihnen etwas bedeutet; sodann um Gelegenheiten, mit Sprache zu spielen, um ihre Möglichkeiten und Grenzen zu erfassen. Mit der Sprache gewinnt das Kind einen Zutritt zu den kulturellen Mustern, die eine Gesellschaft zur Deutung der Wirklichkeit angesammelt hat. Der Erwerb einer zweiten Sprache setzt eine gelungene Qualität im Erwerb der Muttersprache voraus. Diese dient dazu, in einer zweiten Sprache über Bedeutungen sprechen zu lernen und Zutritt zu einer anderen (Sprach-) Kultur zu gewinnen.
    • Die Welt der Natur, zu der man eine Beziehung aufbauen, die man kennenlernen muss, bevor man sie in physikalische, chemische, biologische oder technische Zusammenhänge aufspalten kann. Das ist die Voraussetzung, dass der Bereich Natur für ein Kind subjektive Bedeutung gewinnen kann. Die Zeit vor der Schule ist wichtig für dieses Kennenlernen und für die Entwicklung erster (kindlicher) 'Weltbilder'.

Aber - so möchte ich kritisch fragen - geht es bei Sinnesschulung, emotionaler Wahrnehmung, Spracherwerb, Ausbildung zwischenmenschlicher Beziehungen, Kennenlernen kultureller Muster und Entwicklung von Weltbildern nicht um den Erwerb von Kompetenzen und Kenntnissen? Ist das Kleinkind nicht überfordert, wenn Bildung als Selbstbildung nur in seine eigene Verantwortung fällt? Ist die Diskrepanz zur Schule mit ihrem ganz anderen Bildungsbegriff (s.o.) nicht zu groß? Darf man wirklich die Anforderungen von Schule, Familie und Gesellschaft ignorieren?

E. Der zukunftsorientierte Ansatz

In einer früheren Publikation (Textor 2001) habe ich versucht, den Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen davon abzuleiten, wie Kleinkinder von heute in ca. 20 Jahren leben werden, - also von den zukünftigen Anforderungen. Werfen Sie zunächst mit mir einen Blick in die Zukunft:

Morgens weckte ihn leise Musik, die der Radiosender nach seinen Vorlieben speziell für ihn zusammengestellt hatte. Die Jalousie ging in die Höhe, und das erste Sonnenlicht schien in das Zimmer. Er blieb noch einige Minuten liegen und hörte, wie sich die Kaffeemaschine einschaltete. Köstlicher Kaffeeduft kam aus der Küche. Er stand auf und ging in das Badezimmer. Als er Wasser ließ, meldete die Toilette: 'Urin in Ordnung; keine Keime'. Nachdem er den Schlafanzug ausgezogen hatte, trat er in die Körperwaschmaschine und schloss sie hinter sich. Warmes Wasser, zuerst mit Schaum versetzt, glitt an seinem Körper herunter. Dann trocknete ihn warme Luft, die aus vielen kleinen Düsen kam. 'Schade, dass das Gerät mich noch nicht rasieren kann', dachte er, als er erfrischt aus der Körperwaschmaschine trat. Im Bademantel betrat er die Küche, wo Hausi, sein Haushaltsroboter, schon den Tisch gedeckt und das Frühstück vorbereitet hatte. Er setzte sich und schaltete mit der Fernbedienung den großen flachen Bildschirm an der Wand ein. 'Heute hätte ich Lust auf die Süddeutsche', dachte er und wählte sie aus der Liste aus. Titelseite und Seite 2 erschienen auf dem Bildschirm. Während er frühstückte, 'blätterte' er gelangweilt die Zeitung durch. Dann ließ er sich noch die E-Mails zeigen, die in der Nacht eingetroffen waren. Es schellte. An der Tür stand ein Bote mit einem Pappkarton voller Lebensmitteln und sagte nach dem Gruß: 'Ihr Kühlschrank hat durchgegeben, welche Lebensmittel ausgegangen sind und dass Sie jetzt zu Hause angetroffen werden können'. Er nahm den Karton, brachte ihn in die Küche und kehrte mit seiner Geldkarte zurück. Der Betrag für die Lebensmittel wurde sofort abgezogen. Nachdem er sich angezogen und Hausi beauftragt hatte, Schlafzimmer, Bad und Küche zu putzen, fuhr er mit dem Lift in die Tiefgarage. Die Tür seines Autos öffnete sich, nachdem sein Fingerabdruck überprüft worden war. Er ließ sich auf den Sitz fallen und gab in den Bordcomputer 'Arbeit' ein. Der Wasserstoffmotor sprang leise an, und das Auto fuhr los. Der Sitz begann, leicht zu vibrieren und seinen Rücken zu massieren. Der Bordcomputer kannte den Weg, und die Sensoren sorgten dafür, dass er sicher ankommen würde. So hatte er Zeit, in seinem Organizer die Termine für den heutigen Arbeitstag aufzurufen und gedanklich durchzugehen. In der Tiefgarage seiner Firma angekommen, stieg er aus seinem Auto aus, dessen Tür sich automatisch schloss und verriegelte. 'Mein Schreibtisch müsste noch in 7A stehen', dachte er und fuhr mit dem Lift bis in den siebten Stock. Im Großraumbüro ließ er sich auf einem Stuhl fallen, der sich automatisch seiner Sitzhaltung anpasste. Er roch den Frühlingsduft, der über die Klimaanlage in den Raum strömte. Der Computer schaltete sich erst ein, nachdem sein Fingerabdruck überprüft wurde. Die Zeit reichte gerade, um die eingegangenen E-Mails zu lesen. Dann traf er sich mit zwei Kollegen in Besprechungsraum 7F; ein anderer Mitarbeiter war per Videokonferenz zugeschaltet. Sie riefen auf dem die halbe Wand verdeckenden Bildschirm die Arbeitsergebnisse vom Vortag auf - die Pläne für eine neue Fabrikhalle. Zunächst wurde die Position der Pfeiler überprüft. Einige Tastendrucke genügten, um das Innere der Halle dreidimensional auf der einen Hälfte des Bildschirms abzubilden. Auf der anderen erschienen die Roboter und Fertigungsbänder. Mit dem Finger wurden die Objekte verschoben und in der Halle platziert. Bald wurde deutlich, dass der Abstand zwischen den Pfeilern vergrößert werden musste. Dem Computer wurden die neuen Vorgaben diktiert, und er veränderte die Pläne in Sekunden. ... Nach fünf Stunden verließ er ausgelaugt seinen Arbeitsplatz. 'Nur gut, dass die 25-Stunden-Woche eingeführt wurde, länger hätte ich diesen Stress nicht ausgehalten', dachte er. Sein Auto brachte ihn zu den Skilanglaufhallen auf dem alten Fabrikgelände. Hier war eine künstliche Skipiste von fünf Kilometer Länge entstanden. Bildschirme entlang der Wände zeigten immer wieder neue Berglandschaften, und so war die Strecke nie langweilig. 'Ob ich am Wochenende nach Katmandu jetten soll?', dachte er. In vier Stunden wäre er mit dem Überschallflugzeug dort und könnte schon am Samstagmittag mit der Treckingtour beginnen...

Kindertageseinrichtungen sollten ihren Beitrag dazu leisten, dass Kinder die für ein derartiges Leben benötigten Kompetenzen erwerben. Je rasanter der technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel wird, umso wichtiger wird die Vorbereitung auf die Zukunft. Wir sollten deshalb solche Szenarien wie das gerade vorgestellte entwickeln und daraus die von Kindern benötigten Qualifikationen ableiten - Fähigkeiten wie lernmethodische Kompetenz, Kommunikationsfertigkeiten, Technikverständnis, Medienkompetenz, Teamfähigkeit, Selbstmanagement usw., Persönlichkeitscharakteristika wie Selbstbewusstsein, Neugier und Offenheit, Kenntnisse wie Allgemeinwissen und Fremdsprachen, Einstellungen wie Toleranz und Wertorientierung. Bildung für die Zukunft darf aber nicht bedeuten, dass auf Kindorientierung verzichtet wird - und natürlich müssen Kindertageseinrichtungen weiterhin familien-, lebenswelt- und gegenwartsorientiert sein. Aber es muss mehr als bisher an die Zukunft der Kinder und unserer Gesellschaft gedacht werden: Die Welt wird immer komplexer, schwieriger und stressiger werden, und unsere Kinder müssen dafür gewappnet sein.

Wenn wir die fünf skizzierten Ansätze reflektieren, fällt auf, dass sowohl aus historischer als auch aus zukunftsorientierter Sicht die Notwendigkeit von Selbst- und Fremdbildung sowie der Entwicklung und Vermittlung von Kompetenzen, Kenntnissen, Einstellungen und Eigenschaften (von formaler und materialer Bildung) deutlich wird. Bildung sollte immer sowohl dem Individuum (Bildung als Selbstzweck) als auch der Gesellschaft dienen (Berücksichtigung der Anforderungen von Wirtschaft, Politik usw.) und zu deren positiven Weiterentwicklung beitragen. Die anderen drei Ansätze verdeutlichen, dass viele Wissenschaftler/innen zu Einseitigkeit und Scheingefechten tendieren - wovor sich Praktiker/innen hüten sollten...

Frühkindliche Bildung und Politik

Das neue Interesse der Öffentlichkeit an der Bildungsfunktion von Kindertageseinrichtungen soll in den kommenden zwei, drei Jahren zu einigen Veränderungen führen. So wurde im Koalitionsvertrag von SPD und GRÜNEN vom 16. Oktober 2002 Folgendes angekündigt: "Wir werden alle an Fragen der Kinderbetreuung Beteiligten - Bund, Länder, Kommunen, Freie Träger, Unternehmen - zu einem Gipfel für Bildung und Betreuung einladen, auf dem wir gemeinsam Vereinbarungen über die bedarfsgerechte und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung treffen werden. Dabei werden wir auch prüfen, ob durch nachfrageorientierte Finanzierungsinstrumente (beispielsweise Betreuungsgutscheine) die Interessen von Eltern und Kindern in der Kinderbetreuung besser berücksichtigt werden können. Wir werden dafür sorgen, dass die Kindertageseinrichtungen mehr als bisher zu Einrichtungen der frühkindlichen Bildung werden. Bund und Länder werden sich umgehend über Wege und Ziele frühkindlicher Bildung verständigen und für Deutschland allgemein verbindliche Bildungsziele aufstellen. Wir wollen, dass in der frühkindlichen Bildung die Vermittlung von Normen und Werten, die musische und motorische Erziehung und die Hinführung zum Lernen zum Standard werden."

Die Bundesjugendministerin Bergmann sagte im Juli 2002: "Wir brauchen auch im Vorschulbereich Bildungsstandards und ein zeitgemäßes Erziehungs- und Bildungskonzept für Kinder unter sechs Jahren. Dazu gehört, entsprechende Qualitätskriterien zu entwickeln und verbindlich zu machen. Wir werden im Herbst einen ersten Entwurf eines solchen Qualitätskriterienkatalogs vorlegen. Außerdem werden wir, um das Thema Qualität noch stärker in die Kindertageseinrichtungen zu tragen, in Kürze einen Wettbewerb 'Deutschlands beste Kita' starten. Da wird es um das beste Bildungskonzept und dessen Umsetzung in der Praxis gehen" (Pressemitteilung des BMFSFJ vom 4. Juli 2002). Inhaltlich hob Bundesministerin Bergmann hervor, dass in der frühkindlichen Bildung besondere Akzente gesetzt werden müssen:

  • bei der Sprachförderung deutscher wie ausländischer Kinder,
  • bei der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund,
  • bei der Förderung von Kindern aus benachteiligten Familien,
  • bei der Vermittlung von elementarem naturwissenschaftlichen Lernen,
  • bei der Förderung von Bewegung und musisch-ästhetischer Bildung,
  • und bei der Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtung, Eltern und Schule.

Derzeit werden im Auftrag der Bundesregierung oder von einzelnen Landesregierungen Leitlinien für Bildung in Kindertageseinrichtungen entwickelt. Beispielsweise hat das Staatsinstitut für Frühpädagogik vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Frauen den Auftrag erhalten, einen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder unter sechs Jahren zu entwickeln. Er besteht in seiner gegenwärtigen Fassung aus drei Teilen (vgl. Fthenakis 2002): Im Allgemeinen Teil werden z.B. die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, das Bild vom Kind, das Verständnis von Bildung, die Dimensionen von pädagogischer Qualität und die wichtigsten Prinzipien erläutert, denen sich der bayerische Erziehungs- und Bildungsplan verpflichtet fühlt (z.B. das Prinzip der Demokratie, die Berücksichtigung der kulturellen Diversität, das Verhältnis von Spielen und Lernen). Im II. Teil werden die bei Kleinkindern zu fördernden personalen, kognitiven, lernmethodischen, motivationalen, sozialen und Orientierungskompetenzen beschrieben. Zudem werden die klassischen und die neuen thematischen Schwerpunkte frühpädagogischer Förderung detailliert dargestellt - von der Sprachförderung über die Medien-, Musik-, Gesundheits- und Bewegungserziehung bis hin zur ästhetischen, religiösen, mathematisch-naturwissenschaftlichen und Umweltbildung. Im III. Teil werden strukturell-organisatorische Rahmenbedingungen wie z.B. das Verhältnis zwischen Einrichtung und Eltern, der Führungsstil der Leitung, die Kooperation mit dem Träger und die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen wie Schulen und psychosozialen Diensten beschrieben. Ferner werden Fragen der Steuerung des Elementarbereichs, der Aus- und Fortbildung der Fachkräfte, der Fachberatung, der frühpädagogischen Forschung sowie der Evaluation erörtert.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Die Leitlinien und Bildungspläne, die derzeit entwickelt werden, sind nicht vergleichbar mit den Lehrplänen von Schulen. Es werden also keine Inhalte festgelegt, die Erzieher/innen innerhalb einer bestimmten Zeit zu vermitteln haben. Auch fehlen Angaben über einzusetzende Methoden. Das mag auch damit zusammenhängen, dass für Kindertageseinrichtungen keine Didaktik und Methodik entwickelt wurden - im Gegensatz zur Schule. So besteht die Gefahr, dass diese Pläne relativ allgemein, praxisfern und unverbindlich bleiben. Das dürfte aber durchaus im Sinne von Rauschenbach (2002, S. 21) sein, der auf einen Vorteil des Kindergartens verweist, "der ihm als Stärke gegenwärtig gerade auszureden versucht wird: das Konzept der informellen Bildung. Es gibt im Grunde genommen für eine kluge Pädagogik nichts besseres als ein Lern- und Bildungsszenario, dem man dieses nicht sofort ansieht, dem es gelingt, spielerisch, offen, situativ, an den Eigeninteressen der Lernenden ausgerichtet Wissen, Kenntnisse, Kompetenzen zu vermitteln. Das zumeist nicht zu erreichen ist die große Last und das Legitimationsdilemma der Schule. Dies zu können, zumindest anders zu ermöglichen als die Schule, könnte die große Chance und Herausforderung für den Bildungsauftrag des Kindergartens sein. Gleichwohl müsste man dann am Ende das Ergebnis dieser informellen Bildungsprozesse dennoch dokumentieren können, soll das Ganze nicht nur eine vollmundige Versprechung sein."

Fraglich ist, ob zu Letzterem die Nationale Qualitätsinitiative viel zu sagen haben wird, die im kommenden Jahr ihre Forschungsergebnisse vorstellen soll. Der bundesweite Projektverbund besteht aus fünf Teilprojekten, die Ende 1999 bzw. im Januar 2000 angelaufen sind. Jedes Projekt befasst sich mit einem jeweils anderen thematischen Schwerpunkt. Projekte 1 und 2 entwickeln Qualitätskriterien für die Arbeit mit null- bis sechsjährigen Kindern. Projekt 3 befasst sich mit der Tagesbetreuung für Schulkinder. Im vierten Projekt geht es um die Erarbeitung von Qualitätskriterien der Basis des Situationsansatzes, und Projekt 5 stellt die Qualität der Träger von Tageseinrichtungen in den Mittelpunkt. Es ist zu vermuten, dass auf der Grundlage der hier entwickelten Kriterien und Messinstrumente viele Bundesländer landesweite Qualitätssicherungssysteme einführen werden. Eher unwahrscheinlich ist, dass dabei auch die Bildungsfunktion von Kindertageseinrichtungen berücksichtigt wird, da individuelle Bildungsprozesse nur schwer erfasst und evaluiert werden können.

Zur Reformierbarkeit des Elementarbereichs

Bei all diesen Büchern, Projekten und Bildungsplänen muss man somit provokativ fragen, ob sie wirklich zu "mehr Bildung" in Kindertageseinrichtungen führen werden. Hinzu kommen einige noch nicht angesprochene Probleme. Beispielsweise dürften meines Erachtens Erzieher/innen kaum in der Lage sein, die Bildungsfunktion ihrer Einrichtungen zu verbessern:

  1. Sie sind selbst wenig gebildet - in Westeuropa und Nordamerika sind nur noch die österreichischen Erzieher/innen schlechter qualifiziert. In den anderen hoch entwickelten Ländern werden Fachkräfte für vorschulische Einrichtungen an Universitäten oder auf Fachhochschulniveau ausgebildet, haben sie zumeist den Status von Lehrer/innen. Deutschen Erzieher/innen mangelt es an relevantem Fachwissen aus den Bereichen Hirnforschung, Psychologie und Frühpädagogik; sie verfügen nicht über eine ausdifferenzierte Methodik und Didaktik. Allerdings sind sie auch keine "Basteltanten", wie sie noch manchmal verunglimpft werden.
  2. Erzieher/innen müssen nahezu ihre gesamte Arbeitszeit in der Kindergruppe verbringen. Die knappe Verfügungszeit reicht schon längst nicht mehr für Teamsitzungen, Elterngespräche, Büroarbeit und die Vorbereitung von Beschäftigungsangeboten aus. So mangelt es schlichtweg an Zeit, um Bildungsangebote zu planen und zu evaluieren, die Entwicklungsfortschritte einzelner Kinder zu erfassen und zu dokumentieren, sich neue Kompetenzen wie z.B. den Umgang mit Lernprogrammen anzueignen usw.
  3. Erzieher/innen sind mit vielen zusätzlichen Aufgaben belastet, die z.B. Lehrer/innen nie übernehmen würden: Sie müssen Jahres-, Monats- bzw. Wochenpläne entwickeln, da es im Gegensatz zur Schule keine Curricula und Lehrbücher gibt. Sie haben Kindergartenkonzeptionen erstellt und schreiben diese fort. Die gesamte Verwaltungsarbeit muss nebenbei erledigt werden, ohne Freistellung oder Reduzierung der Stundenzahl in der Kindergruppe. Die Anforderungen an die Elternarbeit haben zugenommen: Es reichen nicht wie an der Schule ein oder zwei Elternabende im Halbjahr, sondern vielfältige Angebote werden verlangt. Diese und andere Aufgaben kosten viel Zeit und Energie, die schon jetzt für bildende Aktivitäten fehlen.

Aber auch die Rahmenbedingungen sind sehr ungünstig. Vier Beispiele:

  1. Wegen der zurückgehenden Kinderzahl müssen Kindergärten vermehrt Säuglinge, Ein- bzw. Zweijährige oder Schulkinder aufnehmen. Dementsprechend gibt es immer mehr Kindertagesstätten mit einer breiten Altersmischung, also mit Ein- bis Sechsjährigen oder gar mit Ein- bis 12-Jährigen in den Gruppen. Dies dürfte ein pädagogisches Arbeiten sehr erschweren. Welcher Lehrer wäre bereit und in der Lage, eine Klasse mit acht Altersjahrgängen zu "bilden"? Selbst in den aus gutem Grund abgeschafften Dorfschulen war die Altersspanne nicht so groß. So sagte m.E. Professor Gerd E. Schäfer (2002, S. 29) zu Recht: "Ein Bildungskonzept ist mit einer großen Altersmischung nicht vereinbar".
  2. Viele Kindergärten haben einen Ausländeranteil von 25% und mehr. Hier erschweren mangelnde Sprachkenntnisse die pädagogische Arbeit mit den Kindern. Hinzu kommt, dass sich die Deutschkenntnisse ausländischer Kleinkinder in den letzten Jahren verschlechtert haben und durch ihre Massierung in einzelnen Kindertageseinrichtungen die Gefahr größer geworden ist, dass sie dort miteinander in ihrer Muttersprache sprechen.
  3. Ein Großteil der Kindertagesstätten ist in freigemeinnütziger Trägerschaft. Sie sind damit relativ unabhängig. Viele Träger, insbesondere Pfarrer, sind wenig an ihren Kindergärten interessiert und im Bereich der Frühpädagogik nicht kompetent. So fehlt ein System wie z.B. die Schulverwaltung, über das alle Kindertagesstätten erreicht, beeinflusst und kontrolliert werden können.
  4. In den letzten Jahren sind die Standards in vielen Bundesländern verschlechtert worden. Beispielsweise wurde die maximale Zahl der Kinder pro Gruppe erhöht oder wurden die Qualifikationsanforderungen für Zweitkräfte gesenkt. Ist Bildung überhaupt möglich, wenn wie in Nordrhein-Westfalen Kindergartengruppen 25 Kinder und Kindertagesstätten- und altersgemischte Gruppen 20 Kinder umfassen? Und wenn der überörtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe sogar eine Überschreitung der Gruppengröße um bis zu fünf Kinder befristet zulassen kann? (§ 3 Abs. 1 Betriebskostenverordnung - BKVO) Wenn Ergänzungskräfte keine formale Qualifikation mehr benötigen, sondern nur in der Lage sein müssen, die Gruppenleiter/innen in der pädagogischen Arbeit zu unterstützen? (§ 4 Vereinbarung über die Eignungsvoraussetzungen der in Tageseinrichtungen für Kinder tätigen Kräfte; Protokollnotiz Nr. 2 zu § 4 der Vereinbarung)

Dies bedeutet letztlich, dass der Elementarbereich derzeit wenig zur Bewältigung der Bildungskatastrophe beitragen kann - es sei denn, es werden neben der Aus- und Fortbildung von Erzieher/innen auch die Rahmenbedingungen verbessert: Beispielsweise sollte die Gruppengröße reduziert, die Verfügungszeit verlängert, die Fachkraft von nicht pädagogischen Arbeiten entlastet und ein Unterstützungssystem für Kindertagesstätten geschaffen werden. Auch müsste die pädagogische Arbeit von außen evaluiert werden, um die Qualität von Bildung, Erziehung und Betreuung zu sichern.

Natürlich werden die Verbesserung der Qualität von Fremdbetreuung und die Intensivierung der Bildungsfunktion von Kindertagesstätten Geld kosten, und so wäre zu überlegen, ob nicht ein kleiner Teil der von der neuen Bundesregierung für den Ausbau der Ganztagsbetreuung vorgesehenen Mittel hierfür ausgegeben werden sollte. In diesem Zusammenhang soll auch an die Forderung des Netzwerks Kinderbetreuung der Europäischen Kommission (1996) erinnert werden, dass die Mitgliedsstaaten der EU mindestens 1% des Bruttoinlandprodukts zur Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Kindertagesbetreuung bereitstellen sollten - in Deutschland werden derzeit weniger als 0,5% des BIP hierfür ausgegeben. In einer Zeit sinkender Steuereinnahmen wäre es aber ein kleines Wunder, wenn wirklich mehr Geld für Elementarbildung zur Verfügung gestellt würde...

Literatur

Burtscher, I.M.: Mehr Spielraum für Bildung. Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen der Zukunft. München: Don Bosco 2000

Elschenbroich, D.: Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. München: A. Kunstmann 2001

Elschenbroich, D.: Verwandelt Kindergärten in Labors, Ateliers, Wälder. Kinder können und wollen mehr lernen, als wir ihnen zutrauen. Ein Plädoyer gegen Langeweile und Monotonie in deutschen Kindergärten. DIE ZEIT 2001a, Heft 44, Rubrik "Wissen"

Fthenakis, W.E.: Bildung und Erziehung für Kinder unter sechs Jahren: Der bayerische Bildungs- und Erziehungsplan. Bildung, Erziehung, Betreuung von Kindern in Bayern 2002, 7 (1), S. 4-6

Fthenakis, W.E. (Hrsg.): Konzeptionelle Neubestimmung von Bildungsqualität in Tageseinrichtungen für Kinder mit Blick auf den Übergang in die Grundschule. In Vorb.

Laewen, H.-J.: Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. In: Laewen, H.-J./Andres, B. (Hrsg.): Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit. Bausteine zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 2002, S. 16-102

Netzwerk Kinderbetreuung und andere Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen und Männer der Europäischen Kommission: Qualitätsziele in Einrichtungen für kleine Kinder. Vorschläge für ein zehnjähriges Aktionsprogramm. Ohne Ort: Selbstverlag, Januar 1996

Rauschenbach, T.: Der Bildungsauftrag des Kindergartens. In: Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen/ Sozialpädagogisches Institut des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Lebensort Kindertageseinrichtung. Bilden - Erziehen - Fördern. Frühkindliche Bildung im Kindergarten. Chancen und Möglichkeiten nach der PISA-Studie. Dokumentation. http://www.tageseinrichtungen.nrw.de/diskurs/doku_ws5.pdf, S. 13-21

Reble, A.: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart: Klett, 12. Aufl. 1975

Schäfer, G.E.: Bildung beginnt vor der Schule. In: Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen/ Sozialpädagogisches Institut des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Lebensort Kindertageseinrichtung. Bilden - Erziehen - Fördern. Frühkindliche Bildung im Kindergarten. Chancen und Möglichkeiten nach der PISA-Studie. Dokumentation. http://www.tageseinrichtungen.nrw.de/diskurs/doku_ws5.pdf, S. 23-30

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Textor, M.R.: Jede Mutter eine Kindergärtnerin. Elternbildung bei Fröbel. Welt des Kindes 1990, 68 (6), S. 55-37

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Tietze, W. (Hrsg.): Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag 1998

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de