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Zitiervorschlag

Bildung durch Bilder, Musik, Phantasie oder Wissen? - Über die Bedeutung des konstruktivistischen Bildungsverständnisses für eine einheitliche Handlungsdidaktik in der Pädagogik der frühen Kindheit. Eine Praxisstudie

Anke König

 

Die Bildungsdiskussion in unserer Gesellschaft lässt die Frage offen, wie sich der Mensch letztendlich bildet. In welchem Maße dafür Bilder, Musik, Phantasie oder Wissen ausschlaggebend sind, scheint ungewiss und wird von verschiedenen Fachdisziplinen unterschiedlich beantwortet.

Übereinstimmung herrschte bei der Befragung der Experten (1) verschiedener Disziplinen am Ende des 20. Jahrhunderts darüber, dass das "Wissen" als eine der entscheidenden Kompetenzen in der Gesellschaft der Zukunft gilt. Wie jedoch die Anforderungen einer Wissensgesellschaft im Bildungssystem zu erfüllen sind, wird auch nicht in den Diskussionen, die die TIMSS- (2) und PISA-Studie (3) nach sich ziehen, geklärt. Das Problem beginnt bereits mit der Definition des Bildungsbegriffs. Denn während seiner 200-jährigen Geschichte wurden dem Begriff "Bildung" mannigfaltige Bedeutungen zugeschrieben.

Werden wir vor die Aufgabe gestellt, unsere Vorstellung von "Bildung" zu definieren, so stellt sich schnell heraus, dass wir unterschiedliche Schwerpunkte setzen. So stellt der Eine eine komplexe Liste über das "Basiswissen" zusammen, während die Andere dazu tendiert, Fähig- und Fertigkeiten aufzuzählen, die zur Bildung gehören.

Derzeit wird in den einzelnen Bundesländern an der Ausformulierung von Bildungsplänen bzw. Bildungsvereinbarungen für den vorschulischen Bildungsbereich gearbeitet. Die Bildungspläne gelten als Konsequenz, die die Bundesländer aus den Befunden der PISA Studie gezogen haben. Die Modalitäten der Bildungspläne fallen auf Grund der föderalen Struktur in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich aus. Gemeinsam ist den Bildungsplänen die Ausrichtung auf die "Selbst-Bildung" des Subjekts bzw. der Bezug zu konstruktivistischen Lerntheorien sowie auf die einzelnen Bildungsbereiche (4), mit denen Kinder im Vorschulalter konfrontiert werden sollen.

Demnach wird in der Pädagogik der frühen Kindheit die Selbsttätigkeit des Kindes zum Ausgangspunkt für das pädagogische Handeln. Die Frage, die sich derzeit stellt, ist: Wie lässt sich der Anspruch auf "Selbstbildung" mit den einzelnen Bildungsbereichen verquicken?

Das derzeitige Bildungsverständnis orientiert sich an der Dynamik von Entwicklungsprozessen. Die Begriffe "Selbstaktivität", "Eigenaktivität", "Selbstbildung" oder kurz die "selbstinitiierten Bildungsprozesse" stehen hier im Zentrum der Bildungsdiskussion. Dieser Bildungsbegriff könnte heute die "normative" Bildungsvorstellung ablösen und durch ein dynamisches Bildungsverständnis (s.u.) ersetzen.

In einer Beobachtungsstudie im Kindergarten habe ich versucht zu ergründen, was mit der Eigenaktivität gemeint sein könnte. Im Folgenden soll anhand dieser Beobachtungen der oben genannte Bildungsbegriff mit den Situationen im Kindergarten verknüpft werden. Bei der Beobachtung des Kindergartenalltags haben sich mir vielfältige Situationen geboten, die verdeutlichen, was "Eigenaktivität" sein kann. Das Wollknäuel wird im Rollenspiel zum Hund an der Leine, die Keksverpackung auf dem Bauteppich zu einem Leuchtturm, Kisten und Matratzen werden arrangiert zu einem Wettlaufparcours - unterschiedlichste Gegenstände werden im Spiel zur Verwirklichung der eigenen Projekte miteinander verbunden.

Die Dynamik der Selbsttätigkeit speist sich aus Phantasie und Wissen (5). Besonders deutlich wird dies in den Bereichen der ästhetischen Erziehung. Hier werden für das erwachsene Auge die "hundert Sprachen" des Kindes sichtbar, die in jedem Interaktionsprozess stecken und nur über das bewusste Handeln der Pädagog/innen zu einem Teil des Alltags werden können.

Was in der Pädagogik der frühen Kindheit als "Selbstbildung" bezeichnet wird, gestaltet sich in der schulischen Didaktik durch eine "neue Lernkultur" und in der Berufsschulbildung in der Diskussion über das "lebenslange Lernen". Der Rote Faden, der hier die Pädagogik durchzieht, führt nicht zum Minotaurus, sondern öffnet den Weg zum handelnden Individuum. Das heißt, nicht mehr die Frage nach dem "Was" - ob ein Museumsbesuch, die Musik, das Lesen oder das mathematisches Verständnis die Gesellschaft am besten zu bilden vermag -, sondern vielmehr das "Wie" wird zukünftig entscheidend sein für die Auseinandersetzungen mit der Bildung jedes einzelnen Kindes.

In Anschluss an die differenzierten Arbeiten zur Selbstbildung (vgl. u.a. Schäfer 1997; Laewen und Andres 2002 (6)) stellt sich die Frage, wodurch das Handeln der Pädagog/innen in Zukunft bestimmt sein muss. Denn Selbstbildung verwirklicht sich erst durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt und dabei auch in der Interaktionsstruktur zwischen Erzieherin und Kind.

Die Theorie des Konstruktivismus (7) hat dieses Bildungsverständnis entscheidend beeinflusst. Das Kind wird dabei als Akteur seiner Entwicklung gesehen. Über die eigene Wahrnehmung konstruiert es sich sein Verständnis von der Welt, welches sich in ständiger Wechselwirkung durch Erfahrungen verändert und neu geformt wird. Dabei stellt sich für die Pädagog/innen die Frage, wie sie das Kind auf seinem Weg zur "Erkenntnis" am besten unterstützen können. Wie oben bereits beschrieben, bilden Phantasie und Wissen die Grundlage für eine interessierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Phänomenen, die uns der Alltag bietet. Das Interesse, welches die Kinder an den Gegenstand fesselt, wird durch die Dynamik des bereits erworbenen Wissens und der Suche nach Erklärungen für das Wahrgenommene vorangetrieben. Hier müsste auch das Handeln der Pädagog/innen anknüpfen, um Interesse aufrecht zu erhalten und der Selbstbildung Vorschub zu leisten.

Im folgenden Beispiel wird deutlich, wie die Kinder über die Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt ihr Wissen erweitern (vgl. Fried & Büttner 2004). Die Wissenserweiterung in dieser Spielsituation findet statt, da das Kind an Wissen über den Umgang mit Nägeln und Schrauben anknüpfen kann. Hier wird veranschaulicht, was mit dem Begriff der "entwicklungsgemäßen Erziehung" gemeint sein könnte.

Beispiel: Zwei Kinder haben am Tontisch verschiedene Werkzeuge geformt und unterstützen nun die Anderen beim Handwerken von neuen Projekten. Dabei konnte folgendes Gespräch aufgezeichnet werden:

K1: "So jetzt brauchen wir eine Schraube."

K2: "Hier rein!"

K1: "Wo ist der Hammer?"

K2: "Da."

K3: "Ich bohr das Loch!"

K1: "Nee, ist doch eine Schraube!"

K3: "Ja, da muss man ein Loch bohren!"

K1: "Ach ja und dann brauchen wir aber auch einen Dübel."

Dieses Gespräch zeigt, wie die Kinder im Phantasiespiel ihr spezielles Wissen über das Handwerk einfließen lassen. Die Sequenz verweist auf einen komplexen Spielverlauf, welcher bereits über das Gestalten von Werkzeugen hinausreicht und eine Interaktion zwischen den Kindern ermöglicht, welche vom eigenen Vorhaben zu einem gemeinsamen Interesse am Handeln wechselt.

Mit Hilfe der Theorie des Konstruktivismus scheint es heute möglich, eine einheitliche Bildungstheorie für die frühe Kindheit zu formulieren, welche die Selbsttätigkeit des Individuums in das Zentrum des pädagogischen Handelns stellt. Damit kann ein pädagogisch-didaktischer Diskurs für diese Entwicklungsphase begründet werden, der das pädagogische Handeln für die Entwicklungsprozesse der Kinder sensibilisiert. Die pädagogische Arbeit mit jungen Kindern ist damit nicht mehr in erster Linie institutionsgebunden und von den jeweiligen normativen Bildungszielen bzw. speziellen Programmen bestimmt. Das Bestreben von unterschiedlichen Disziplinen wie musikalischer Früherziehung, Rhythmik, Prävention, Museumspädagogik, Kindergartenarbeit u.v.m. finden über diese Bildungstheorie gemeinsame Anknüpfungspunkte. Damit wird die interdisziplinäre Arbeit möglich, die seit Jahren von unterschiedlicher Seite propagiert wird.

Das Potenzial einer einheitlichen Bildungstheorie kann in einen vielfältigen pädagogischen Diskurs münden, welcher die Bildungsanreize bzw. Bildungsbereiche in der frühen Kindheit entscheidend professionalisieren könnte. So kann der Besuch im Museum wesentlich die Arbeit im Kindergarten beeinflussen, wenn dort Wissen und Phantasie des Kindes als Anlass genommen werden, neue Impulse und Erfahrungsebenen zu eröffnen. Während meiner Beobachtungen im Kindergarten hat sich mir gezeigt, wie die Betrachtung z.B. eines Stilllebens im Museum im Kindergartenalltag vielfältig fortgesetzt werden kann. Der Gedanke, wie der Maler an der Staffelei arbeitet und unterschiedliche Gegenstände aus seinem Alltag zu einem Stillleben arrangiert, hat auch die Kinder angeregt, im Kindergarten so zu arbeiten, Malerin zu spielen und als Malerin zu praktizieren. Die Arbeit an der Staffelei und das Arrangement von verschiedenen Gegenständen zu einem Bild führt zur Sensibilisierung für ästhetische Prozesse und lässt die Kinder die Welt der einzelnen Bilder in der Kultur besser verstehen.

Solche Erfahrungen tragen wesentlich dazu bei, in den Kindern Bewusstsein für ihren Alltag bzw. für die sie umgebenden Dinge und Ordnungen zu wecken. Ob aus einem Museumsbesuch die Maltechnik der Bilder als Anlass genommen wird für eigene Experimente oder die Architektur der herrschaftlichen Gebäude Auslöser wird für Rollenspiele am königlichen Hof (8), wird davon abhängen, was von der Pädagog/in in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wird und ob dadurch das Interesse des Kindes geweckt werden kann. Die Kinder lernen, dass mit Bildern Gefühle, Erlebnisse, Geschichten und vieles mehr verbunden sind und die Betrachterin und der Betrachter darin vieles entdeckt, was auf den ersten Blick häufig verborgen bleibt. Das aufmerksame Betrachten und der Dialog über den Gegenstand kann vielfältige Lernprozesse auslösen, die nicht nur in der ästhetischen Erziehung angesiedelt sind.

Die Auseinandersetzung durch intensive Gespräche regt die Differenzierung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten an und fördert die Kommunikation in der Gruppe, welche nicht nur im Dialog von Erzieher/in und Kind stehen bleibt. Die Kinder werden dadurch angeregt, sich über ihre Vorhaben auszutauschen und üben sich darin, anderen ihre eigene Position verständlich zu machen.

Wie könnte nun eine Handlungsdidaktik aussehen, die Interesse weckt und zur Erweiterung von Wissen führt?

Das pädagogische Handeln und die Aktivität des Kindes, welche die konstruktivistische Bildungstheorie ins Zentrum der Pädagogik stellt, müssen für ein solches Handlungskonzept miteinander verknüpft werden. Das pädagogische Handeln ist damit unmittelbar an die Aktivität des einzelnen Kindes gebunden. Für die Pädagog/innen ist daher ein dynamisches Handlungskonzept, welches mit der Aktivität des Individuums interagiert, die Basis, um die Bildungsprozesse des einzelnen Kindes zu ermöglichen. Diese Kenntnis verlangt nach einer entwicklungsgemäßen Erziehung (developmentally appropriate practice) (vgl. Bredekamp 1997) im Sinne Vygotskys, die das Kind als "Akteur seiner Entwicklung" in der "Zone der nächsten Entwicklung" fördert.

Welche Rolle spielt hier die Erzieher/in? Um diese Frage zu beantworten und den Prozess zwischen Pädagog/innen und Kindern besser zu verstehen, bedarf es, außer entwicklungspsychologischen Wissens, differenzierter Untersuchungen zur Interaktion. Bisher sind die Pädagog/innen im Alltag bei diesem Prozess weitgehend auf ihre Intuition angewiesen. Tietze et al. (1998) bezeichnen die Interaktion zwischen Erzieher/in und Kind als Prozessqualität. In dieser Untersuchung zeigte sich, dass eine gute Prozessqualität in den Kindertageseinrichtungen zu Entwicklungsunterschieden von bis zu einem Jahr führen kann.

Für die Pädagog/innen ist es daher von großem Interesse, mehr Wissen über diesen Prozess zu erlangen. Erst durch die Analyse der Interaktionen zwischen Erzieher/in und Kind und die Verknüpfung mit bereits erworbenen Erkenntnissen über eine förderliche Entwicklung kann ein Framework für eine Didaktik entworfen werden, die die Entwicklungsprozesse in der frühen Kindheit in den unterschiedlichsten Disziplinen angemessen begleitet. Dabei kommt der Analyse der individuellen Handlungsmuster, die die pädagogische Praxis gestalten (vgl. Fried 2002), eine besondere Bedeutung zu.

Derzeit wird in einem Projekt an der Universität Dortmund an der Auswertung einer solchen Praxisstudie gearbeitet. Mit der Studie "Interaktion zwischen Erzieher/in und Kind_2003" wird der Versuch unternommen, dem pädagogischen Handeln näher zu kommen.

Anmerkungen

  1. Delphi-Befragung: Die Delphi-Befragung ist eine Methode, die eingesetzt wird, um Experten unterschiedlicher Disziplinen über bevorstehende Entwicklungen in der Gesellschaft zu befragen. Hier wird Bezug genommen auf die 1996 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebene Untersuchung, die sich mit den Dimensionen der Wissensgesellschaft bzw. mit den damit zusammenhängenden Auswirkungen auf die Bildungsprozesse und Bildungsstrukturen beschäftigt.
  2. http://www.mpib-berlin.mpg.de/TIMSS-Germany/
  3. http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/
  4. z.B. sprachliche Bildung, Musik, bildnerisches Gestalten, mathematische Grunderfahrungen, Bewegungserziehung, Natur und kulturelle Umwelten u.a.
  5. Auf den Begriff "Vorwissen" wir hier bewusst verzichtet. Schließlich scheint es ungewiss, ob es eine Vorstufe von Wissen geben kann.
  6. Die Autor/innen et al. führten 1997-2000 ein Modellprojekt zum Bildungsbegriff im Vorschulalter durch. Dabei wurde der Begriff Bildung als die Aktivität des Kindes interpretiert.
  7. Der Konstruktivismus führte zu einem Paradigmenwechsel in der Pädagogik, welcher im Kern besagt, dass die Realität als Konstrukt jedes einzelnen anzusehen ist. Der radikale Konstruktivismus wird auf Theorien Glaserfelds und auf das Gedankengut von Maturana und Valera zurückgeführt. Heute hat sich in der Pädagogik ein gemäßigter Konstruktivismus etabliert, welcher davon ausgeht, dass sich das Individuum seine Wirklichkeit in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt ko-konstruiert. Diese Perspektive ermöglicht eine gemeinsame Verständigung über Interaktion.
  8. Für die Anregungen danke ich den Kindern und Pädagog/innen des Kindergartens Hagenstraße in Karlsruhe.

Literatur

Bredekamp, S. (1997). NAEYC issue revised position statement on developmentally appropriate practice in early childhood programs. Young Children, 52(2), 34-40.

Fried, L. (2002). Qualität von Kindergärten aus der Perspektive von Erzieherinnen. Eine Pilotuntersuchung. Empirische Pädagogik 16, 191-209.

Fried, L. et al. (2003). Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim: Beltz.

Fried, L./ Büttner, G. (2004). Weltwissen von Kindern. Zum Forschungsstand über die Aneignung sozialen Wissens bei Krippen- und Kindergartenkindern. Weinheim: Juventa.

Laewen, H.-J./ Andres, B. (2002). Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit. Weinheim: Beltz.

Neumann, K. (1999). Zur Restitution und Rekonstruktion des Bildungsbegriffs. Neue Sammlung, 39, 227-241.

Schäfer, G. (1999). Frühkindliche Bildungsprozesse. Herausforderungen einer Pädagogik der Frühen Kindheit. Neue Sammlung, 39, 213-226.

Tietze, W. (1998). Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten. Neuwied, Berlin: Luchterhand.

Autorin

Anke König, Dipl. Päd., ist Wissenschaftl. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pädagogik der frühen Kindheit der Universität Dortmund. Email: [email protected]