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Zitiervorschlag

Aus: Unsere Jugend 1999, 51 (12), S. 527-533; mit freundlicher Genehmigung des Ernst Reinhardt Verlages, München/Basel

Bildung, Erziehung, Betreuung

Martin R. Textor

 

Wenn wir gefragt werden, was die Aufgaben des Kindergartens sind, so lautet die Antwort meist: "Bildung, Erziehung und Betreuung" von Kindern (vgl. § 22 Abs. 3 SGB VIII). Sollen wir dann aber diese Begriffe erklären, tun wir uns schwer. Tröstlich ist, dass auch die Wissenschaft keine exakte bzw. eindeutige Antwort parat hat: Es gibt inzwischen Hunderte von Erziehungs- bzw. Bildungsbegriffen und -theorien; den Begriff "Betreuung" suchen wir hingegen zumeist vergebens in pädagogischen Wörterbüchern oder anderen wissenschaftlichen Publikationen. In den letzten Jahrzehnten wurde oft sogar auf die Begriffe "Bildung" und "Erziehung" verzichtet und stattdessen z.B. von "Sozialisation", "Enkulturation", "Rollenübernahme" oder "Lernen" gesprochen.

Die ganze Bildungs- und Erziehungsdiskussion bezieht sich fast ausschließlich auf Schulkinder, Jugendliche und Erwachsene - mit der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kleinkindern beschäftigt sich kaum ein Pädagogikprofessor oder Erziehungswissenschaftler. Ausnahmen wie Gerd Schäfer (1995) bestätigen die Regel: "Bildungsprozesse werden immer noch für umso wichtiger eingeschätzt, je höher die dabei 'vermittelten' Bildungsgüter auf unserer kulturellen Werteskala stehen, je edler die moralischen Empfindungen erscheinen, die sie leiten, und je vernünftiger sich die Personen geben, die gebildet werden. Die frühkindliche Bildung findet demzufolge kaum ein politisches Interesse, keine wirksame Lobby und fehlt deshalb weitgehend auch in den sozial- und humanwissenschaftlichen Forschungsplänen" (S. 17).

Vor diesem Hintergrund dürfte verständlich sein, dass in diesem Artikel nur einige Aspekte der Begriffe "Bildung", "Erziehung" und "Betreuung" herausgearbeitet werden. Auf diese Weise soll der Einseitigkeit mancher Diskussionen entgegengewirkt und die Komplexität dieser Begriffe verdeutlicht werden.

Bildung

Der Bildungsbegriff ist der deutschen Sprache eigentümlich - nur wenige weitere Sprachen kennen noch die Unterscheidung von Bildung und Erziehung. So wird beispielsweise im Lateinischen zwischen "educatio" (Aufzucht: Disziplinierung, Zivilisierung) und "eruditio" (Entrohung: Kultivierung der Seele und des Geistes) differenziert. Im Verlauf seiner Geschichte hat der Bildungsbegriff eine kaum noch überschaubare Vielzahl von Bedeutungen erfahren; immer wieder wurden andere Aspekte betont.

Der deutsche Bildungsbegriff entstand in der Mystik des 14. Jahrhunderts und wurde von Gott her verstanden: als Aktualisierung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, als Wiedergebildetwerden in Gott, als Wiedervereinigung mit Gott aus Gottes Gnade. Beispielsweise meinte Meister Eckhart (1260-1327) mit "Bilden" das "Einbilden" des Bildes Gottes in die menschliche Seele. Heutige christliche Bildungsbegriffe stehen noch ganz in dieser Tradition: "Der Mensch sei als Ebenbild Gottes geschaffen, der Bildung falle die Aufgabe zu, dem Imago Dei zu seiner Verwirklichung zu helfen ...; so wird Bildung zum religiösen Endzweck des Menschen" (Xochellis 1973, S. 16).

Der "klassische" Bildungsbegriff wurde um 1800 entwickelt. Da in der Gesellschaft der einzelne immer mehr "verzweckt" würde und sich spezialisieren müsste, wäre eine "volle Menschlichkeit" kaum noch möglich. Deshalb müsse sie durch eine allseitige, ganzheitliche Menschenbildung gefördert werden. Wilhelm von Humboldt (1767-1835) sah in der vielseitigen Bildung der Individualität die vornehmste Aufgabe des Menschen. Für ihn war der Zweck des Menschen "die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen". Er schrieb, "daß daher der wahren Moral erstes Gesetz ist: bilde dich selbst, und nur ihr zweites: wirke auf andere durch das, was du bist" (zitiert nach Reble 1971, S. 186f.). Der Mensch müsse in der kritischen Auseinandersetzung mit Welt und Gesellschaft Anregungen von außen so in das Innere aufnehmen, dass er zu einer einmaligen inneren Form, zu einem harmonischen Ganzen komme. Das Hineinwirken in die Welt, das Erfüllen von Aufgaben, die eigenen Leistungen werden in erster Linie als Mittel der Selbstformung und Eigengestaltung gesehen.

Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) betonte die allseitige formale Durchbildung via Anschauung und Selbsttätigkeit, via Anwendung und Übung aller Kräfte. Für ihn stand die allgemeine Menschenbildung an erster Stelle, die "Kopf" (intellektuelle Bildung), "Herz" (sittliche bzw. emotionale Bildung) und "Hand" (Fertigkeiten, Körperbeherrschung usw.) umfassen soll. Aber auch der Berufsbildung sprach er eine große Bedeutung zu; sie solle den Menschen für seine Lebensaufgaben tüchtig machen.

Für Friedrich Fröbel (1782-1852) war der Mensch ein "göttliches Gewächs und der Erzieher der Gärtner, der ihm Licht und Nahrung verschafft, das Wesentliche aber seinen Lebenskräften überläßt" (Reble 1971, S. 223). Bildung erfolgt also weitgehend durch Selbsttätigkeit, in der sich die inneren Kräfte des Menschen äußern und die Welt gestalten, durch die aber zugleich von außen Kommendes verarbeitet und in Inneres verwandelt wird. Dies geschieht auch im Spiel, das den Kindergartenalltag prägen soll. "Weil hier aber die Welt eben in der Form des Spieles erfahren und das Innere des Kindes in der Form des Spieles dargestellt wird, darum hat hier das Spiel seinen tiefen Lebenssinn und seinen überragenden Erziehungswert" (Reble 1971, S. 227). Die Fröbelschen Spielgaben Ball, Kugel, Würfel, Walze, Bauklötzchen, Legetäfelchen usw. sind Formen, an denen sich die Gestaltungskräfte des Kindes entfalten können, durch die es aber zugleich Grundgesetzlichkeiten der Welt erfährt.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) betonte das Zu-sich-selber-Kommen durch Arbeit: "... denn dadurch, daß der Mensch die Natur bearbeitet und sie so in menschliche Kultur umwandelt, erhebt er sich über die Natur und wird dadurch seiner selbst - als Nichtnatur, als Geistwesen - bewußt" (Wehnes 1991, S. 262). Die Bildung des einzelnen ist ein "Abarbeiten" der individuellen Besonderheit und eine "Erhebung zur Allgemeinheit". Sie umfasst die Einführung des Heranwachsenden in Kultur und Gesellschaft.

Auch nach Karl Marx (1808-1883) wird der Mensch erst durch Arbeit zum Menschen; nur durch sie gestaltet er sich selbst und die Gesellschaft. Für ihn stand die "polytechnische Bildung" im Vordergrund. Er forderte, dass Kinder und Jugendliche in die wissenschaftlichen Grundlagen des Produktionsprozesses eingeführt, eine allgemeine technische und ökonomische Grundbildung erhalten sowie die Produktion kennen lernen sollten.

Ansonsten wurde die Bildung im 19. Jahrhundert zu einem Statussymbol; die "Gebildeten" wollten sich bewusst von den "ungebildeten Massen" abheben, um so ihre gesellschaftliche Vormachtstellung zu begründen und zu sichern. Als Bildungsgüter galten vor allem die Geisteswissenschaften, Kunst und Musik.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte die Bedeutung von Natur-, Wirtschafts- und Ingenieurswissenschaften für den Einzelnen und die Gesellschaft von der Pädagogik nicht länger ignoriert werden. So betonte beispielsweise Theodor Litt (1880-1962), dass auch Naturwissenschaften, die Technik und die Arbeitswelt bildende Mächte sind. Und für Georg Kerschensteiner (1854-1932) galt die "Berufsbildung als Pforte zur Menschenbildung".

Ähnlich wie Fröbel betonte Maria Montessori (1870-1952) die Selbsttätigkeit und Selbstbildung des Kleinkindes. Sie war überzeugt, dass das Kind einen "Bauplan der Seele" in sich hat und sich diesem entsprechend entfalten soll. Dazu braucht es den selbstbestimmten Umgang mit Dingen, durch die es seine Sinne schult und Ordnungen (Längen, Gewichte, Klangstufen, Kategorien usw.) erkennt. Die Erzieherin stellt solche Gegenstände - das Montessori-Material - zur Verfügung, wobei sie sich an der in den "sensiblen Phasen" jeweils vorherrschenden Art von Aufnahmebereitschaft orientiert. Sie ermöglicht die Selbstbildung des Kindes, indem sie eine "vorbereitete Umgebung" schafft, das Kind beobachtet und begleitet.

Diese ausgewählten und stark verkürzten Aussagen verdeutlichen zentrale Aspekte des Bildungsbegriffs, die nun zusammengeführt werden sollen:

  1. Bildung umfasst sowohl die Entwicklung und Schulung "innerer Kräfte" (formale Bildung) als auch die Aneignung von Kenntnissen und Erschließung der Welt (materiale Bildung).
  2. Bildung beinhaltet sowohl Selbstbildung, einen Prozess der Selbstgestaltung und Eigenaktivität (der sich über das ganze Leben erstrecken kann) als auch einen Prozess der Bildung und Wissensvermittlung durch Dritte (insbesondere durch planmäßigen Unterricht; zumeist auf die ersten zwei oder drei Lebensjahrzehnte beschränkt).
  3. Bildung ist sowohl die Übernahme und der Erwerb von Bildungsgütern wie Sprache, Kulturtechniken, (Natur- und Geistes-) Wissenschaft, Technik (einschließlich neuer Informationstechnologien) und Kunst als auch die kritische Auseinandersetzung mit diesen, deren Veränderung und Abwandlung aufgrund eigener Denkprozesse und Handlungen.
  4. Bildung dient sowohl der Entfaltung des inneren Menschseins und der eigenen Individualität (Bildung als Selbstzweck) als auch zur gesellschaftlichen Nützlichkeit (was durchaus eine kritische Haltung zur Gesellschaft und die Handlungsbereitschaft zu deren Weiterentwicklung beinhaltet).
  5. Bildung umfasst sowohl Allgemein- als auch Berufsbildung, Schul- bzw. Hochschulbildung als auch betriebliche Ausbildung.
  6. Bildung bedeutet sowohl einen Prozess des kognitiven, moralischen, sozialen und emotionalen Lernens als auch das Resultat eigener "Studien".

Bildung im Kindergarten umfasst viele dieser Aspekte: In Bildungsprozessen erlernen Kleinkinder die Sprache und entwickeln immer mehr Verständnis für deren Begriffe, Symbole, Bedeutungen und Kategorien - eine differenzierte Sprache fördert ein differenziertes Verstehen. In Bildungsprozessen werden ihre körperlichen und geistigen Anlagen geweckt, Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgebildet. In Bildungsprozessen werden sie in Gesellschaft, Arbeitswelt und Wirtschaftsleben, Kunst und Kultur, Religion und Ethik, Sitten und Bräuche eingeführt - sie werden von der Erzieherinnen und anderen Menschen gebildet. In Bildungsprozessen setzen sie sich mit neuen Erfahrungen, Beobachtungen und Erkenntnissen auseinander, erkennen Zusammenhänge, nehmen kritisch Stellung und ziehen Folgerungen für ihr Handeln. Durch Eigenaktivität und Selbsttätigkeit, aus eigener Motivation heraus, erkunden und erschließen sie ihre Welt, nehmen Kontakt zu anderen Menschen auf und lernen von ihnen - sie bilden sich selbst. In Bildungsprozessen entwickeln sich ihre einzigartige Persönlichkeit, ihr Charakter, ihre Identität, ihre Individualität.

Schon im Kindergarten ist Bildung etwas von außen und von innen kommendes, wie folgendes Zitat von Gerd Schäfer (1995) verdeutlicht: "Vom Standpunkt der Komplexität zeigt sich kindliche Bildung als ein vielperspektivisches Zusammenspiel von Ereignissen der individuellen, inneren Welt sowie Prozessen der sozial geprägten und objektivierbar gemachten äußeren Welt. Aus diesem Zusammenwirken innerer und äußerer Prozesse gehen Handlungen, Denkweisen, Erfahrung oder Entwicklungen hervor, die sowohl ihre innerpsychischen Anteile wie auch ihre außerpsychische Herkunft nicht verleugnen" (S. 10).

Erziehung

Auch der Erziehungsbegriff hat im Verlauf der Geschichte viele Bedeutungen erfahren; oft sind Überschneidungen mit dem Bildungsbegriff festzustellen. Erziehung erfolgt aufgrund der "Erziehungsbedürftigkeit" des Menschen und ist nur aufgrund seiner "Erziehbarkeit" möglich. Sie ist somit eine notwendige Hilfe zur Menschwerdung. Erziehung bezieht sich im Gegensatz zur Bildung mehr auf das (soziale) Verhalten und die diesem zugrunde liegende Einstellungen, Werthaltungen, Regeln und sittlichen Grundsätze - somit also auch auf den Charakter und das Gewissen des Kindes ("Sozialerziehung", "moralische Erziehung"). Das Kind soll das Normengefüge und die Sitten seiner Gesellschaft weitgehend übernehmen und sich den vorherrschenden Rollenerwartungen anpassen. Das bedeutet aber nicht, dass Werte und Regeln aufgezwungen werden sollen. Vielmehr sollte das Kind auch zum kritischen Hinterfragen von Vorgaben erzogen werden, muss es sich mit den Normen seiner Gesellschaft auseinandersetzen. Es sollte Werte und Regeln weitgehend freiwillig übernehmen, weil es sie als vernünftig, sinnvoll und wahr erkannt hat und sich bewusst für sie entschieden hat (Betonung der Entscheidungsfreiheit und der Selbstbindung). Nur dann wird es entsprechend seiner eigenen sittlichen Grundsätzen handeln, sein Verhalten an dieser Richtschnur kritisch überprüfen und bei Abweichungen ändern (Betonung der Eigenverantwortung, der Bedeutung des eigenen Gewissens) sowie motiviert sein, ungerechte Zustände in seiner Gesellschaft zu ändern.

Obwohl man auch vereinzelt von "Selbsterziehung" spricht, ist in der Regel mit "Erziehung" das Handeln erwachsener Menschen an der jungen Generation gemeint. Als "intentionale" Erziehung erfolgt sie absichtlich und direkt, anhand von "Erziehungszielen" oder -leitbildern und mit Hilfe von "Erziehungsmitteln". Beispielsweise schrieb Wolfgang Brezinka (1971): "Unter Erziehung werden soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen mit psychischen und (oder) sozial-kulturellen Mitteln in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten" (S. 613).

Erziehung richtet sich also auf die Persönlichkeit - als positiv beurteilte Persönlichkeitseigenschaften sollen hervorgerufen, gefördert und stabilisiert werden, während negativ bewertete Charakteristika beseitigt oder geschwächt werden sollen. Das Gute soll unterstützt, schlechten Gewohnheiten und Einflüssen entgegengewirkt werden. Laut Brezinka (1989) sind vor allem folgende Eigenschaften zu fördern:

  1. Grundvertrauen, also Lebensbejahung, Optimismus, Offenheit, Bindungsfähigkeit und Gottvertrauen;
  2. Bereitschaft zur Selbsterhaltung durch eigene Anstrengung, also Arbeitswilligkeit, Ausdauer, Zuverlässigkeit, Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein;
  3. realistisches Welt- und Selbstverständnis, also Wirklichkeitssinn, Sachlichkeit, Wissen, Fähigkeit zur Introspektion und Selbsterkenntnis;
  4. Gemütsbildung, also Werthaltungen, Gewissen, Ansprechbarkeit für Gutes und Schönes, Taktgefühl und Rechtsempfinden; sowie
  5. Selbstdisziplin, also Rücksichtnahme, seelische Belastbarkeit und Selbstbeherrschung.

Im weitesten Sinne werden Reife (Befähigung zur Übernahme der "Lebensaufgaben") und Mündigkeit (Autonomie, Selbstverantwortung) des jungen Menschen angestrebt. Kinder und Jugendliche sollen Leistungen für die Gemeinschaft erbringen (Kerschensteiner: "staatsbürgerliche Erziehung"; Erziehung zur Demokratie), Menschen aus anderen Ländern schätzen und ihre Sitten tolerieren ("interkulturelle Erziehung"), mit Behinderten umgehen ("integrative Erziehung") und die natürlichen Grundlagen der Gesellschaft schützen lernen ("Umwelterziehung"). Sie sollen ihren Körper achten und seine Bedürfnisse angemessen befriedigen lernen ("Gesundheitserziehung") sowie motorische Fertigkeiten ausbilden ("Bewegungserziehung"). Auch sollen sie eine Geschlechtsidentität entwickeln und lernen, positive Beziehungen zum anderen Geschlecht aufzunehmen ("Sexualerziehung"). Sie sollen das kulturelle Erbe kennen lernen und die eigenen kreativen Fähigkeiten entwickeln ("ästhetische", "Musik-" und "Kunsterziehung"), aber auch mit alten und neuen Medien umgehen können ("Medienerziehung"). Schließlich sollen sie zum Glauben geführt werden ("religiöse Erziehung").

Es ist offensichtlich, dass sich derartige Ziele nur dann erreichen lassen, wenn Erzieherinnen einen entsprechenden Erziehungsstil praktizieren. Sie müssen sich beispielsweise vor Überbehütung und Vernachlässigung, Verwöhnung und Entbehrung, autoritärer und antiautoritärer Erziehung hüten. Zu den Erziehungsmitteln, die Erzieherinnen einsetzen können, zählen z.B. Lob und Tadel, Ge- und Verbote, Übung und Gewöhnung, Lohn und Strafe, rationale Argumentation und Appelle an Einsicht und Vernunft. Otto Friedrich Bollnow betonte daneben die "unstetigen Formen der Erziehung" wie Erweckung, Ermahnung, Besinnung, Begegnung und Beratung, die beim Kind das Gefühl des personalen Betroffenseins auslösen. Dadurch kann die Lebensführung des Kindes entscheidend beeinflusst werden.

Von besonderer Bedeutung ist das "erzieherische Verhältnis" zwischen Erzieherin und Kind. Herman Nohl (1879-1960) sprach hier vom "pädagogischen Bezug" und bezeichnete damit eine Lebensgemeinschaft. Prägende Kräfte sind ihr Geist und ihre Atmosphäre. Der pädagogische Bezug ist laut Nohl durch starke positive Emotionen wie "Liebe", Zuneigung und Vertrauen bestimmt, aber auch durch Autorität und Gehorsam. Die Person des Erziehers spielt laut Nohl eine besondere Rolle: Auch seine Persönlichkeit, sein Charakter und sein Verhalten sollen erzieherisch wirken, also vorbildlich sein und zur Nachahmung anregen (Modelllernen). Er muss dem Kind Rechte und Freiräume zugestehen; er soll dieses nicht "prägen", sondern seine Entwicklung "fördern". Deshalb benötigt der Erzieher "pädagogischen Takt" - aus der Achtung des Eigenlebens, der Würde und der Spontaneität des Kindes heraus. Deutlich wird, dass Erzieher immer mit dem Dilemma "Führen oder Wachsenlassen" (Theodor Litt) konfrontiert sind.

In Anlehnung an den Religionsphilosophen Martin Buber (1878-1965) lässt sich das erzieherische Verhältnis auch als eine Ich-Du-Beziehung, als einen Dialog bezeichnen. Dafür gilt: "Auf die Ganzheit des Zöglings wirkt nur die Ganzheit des Erziehers wahrhaft ein, seine ganze unwillkürliche Existenz" (Buber 1962, S. 66). Zwei Personen begegnen einander in vollster Offenheit, nehmen einander ernst, akzeptieren einander als einzigartige Individuen und gehen unmittelbar aufeinander ein. Auch das Kind selbst hat also einen aktiven Anteil an der personalen Begegnung; es wird als gleichwertig gesehen. In einem derartigen dialogischen Verhältnis kann die Erzieherin in die Tiefen der kindlichen Persönlichkeit einwirken, dem Kind bei der Personalisation helfen. Dabei darf sie aber ihren großen Einfluss nicht missbrauchen, also z.B. eigene Werte und Einstellungen überstülpen. Vielmehr muss sie den Selbstzweck des Kindes akzeptieren: Es muss selbst sein Wesen und seinen Lebensweg bestimmen. Zudem sollte es das Recht auf kritische Auseinandersetzung mit der Person der Erzieherin und ihren Aussagen haben (Demokratisierung der Erzieherin-Kind-Beziehung).

Dies bedeutet auch, dass die Erzieherin die Gegenwart des Kindes achten muss, obwohl alles pädagogische Tun die Zukunft im Auge hat. Schon Friedrich Schleiermacher (1768-1834) nannte als allgemeine Maxime: "Das Kindsein muß das Menschwerden nicht hindern, und das Menschwerden nicht das Kindsein" (zit. nach Reble 1971, S. 208). Deshalb ist in der Kleinkinderziehung das Spiel von so großer Bedeutung - es ist Gegenwart, es ist kindgemäß.

In den letzten Absätzen wurde schon angedeutet, dass Erziehung nicht nur intentional (absichtlich, direkt) erfolgt, sondern auch "funktional", "indirekt" bzw. "mittelbar": Die Lebensgemeinschaft, das soziale Milieu, die Gestaltung der Umwelt (z.B. Innen- und Außenräume des Kindergartens), die Auswahl von Medien und Materialien, der "erzieherische Raum", das bloße Sein der Erzieherin prägen die kindliche Entwicklung. Die funktionale Erziehung ist eher die Regel; nur gelegentlich ist im alltäglichen Umgang miteinander intentionale Erziehung nötig.

Betreuung

Wie bereits erwähnt, findet sich der Betreuungsbegriff nur selten in pädagogischen Büchern und Lexika. Betreuung bedeutet, dass sich eine Person um eine andere kümmert, die mit ihr in der Regel nicht verwandt ist. Sie sorgt sich um sie, hilft ihr und zeigt Zuneigung. Die Erzieherin kümmert sich um die ihr anvertrauten Kinder während der zumeist berufsbedingten Abwesenheit der Eltern. Der Betreuungsbegriff umfasst m.E. drei ältere Begriffe, die heute nur noch selten gebraucht werden:

  1. Pflege: Pflegen heißt, Kinder gut, sorgsam und schonend zu behandeln, ihr körperliches Wohlbefinden sicher- oder wiederherzustellen. Die Erzieherin achtet auf eine angemessene, saubere Bekleidung, eine ausreichende und gesunde Ernährung, genügend Ruhephasen (Schlafzeiten), das Einhalten von Hygieneregeln usw.
  2. Schutz: Beschützen heißt, jemanden zu beschirmen, ihm Obhut zu geben, ihn von Schädigungen körperlicher und seelischer Art zu bewahren, Gefahren abzuwehren. So stellt die Erzieherin durch ihre Betreuung die körperliche Unversehrtheit der Kinder sicher (Aufsichtspflicht).
  3. Fürsorge: Damit ist die Verpflichtung gemeint, für das Wohl der Kinder Sorge zu tragen und deren Interessen zu schützen, ihnen Zuwendung und Nestwärme zu geben. Durch Fürsorge werden die materiellen und emotionellen Voraussetzungen für ein gesundes Gedeihen in körperlicher und seelischer Hinsicht geschaffen.

Kinder müssen sich im Kindergarten geborgen fühlen und sichere Bindungen an die Erzieherinnen ausbilden können. Zu deren Aufgaben gehört die Befriedigung von Grundbedürfnissen der Kinder, sofern diese während der Betreuungszeit auftreten: von physiologischen Bedürfnissen wie Hunger, Durst und Schlaf, von Sicherheitsbedürfnissen (nach Schutz, stabilen Beziehungen und Ordnung), von Bedürfnissen nach Zugehörigkeit und Liebe, von Bedürfnissen nach Wertschätzung und solchen nach Selbstaktualisierung (vgl. Maslow 1970). Insbesondere die Befriedigung der erstgenannten, grundlegenden Bedürfnisse ermöglichen erst eine Erziehung und Bildung des Kindes.

Schlusswort

Durch Bildung, Erziehung und Betreuung - die in der Praxis untrennbar miteinander verbunden sind - leistet der Kindergarten einen wichtigen Beitrag zur Enkulturation, Sozialisation und Personalisation des Kindes. Er schafft - nach der Familie - die Grundlagen für eine selbstbestimmte, eigenverantwortete Lebensführung und die Ausbildung einer eigengeprägten Persönlichkeit. Zugleich bereitet der Kindergarten auf das Leben in der Gesellschaft vor und befähigt zur Mitgestaltung des Gemeinwesens und der Kultur.

Literatur

Brezinka, W.: Über Erziehungsbegriffe. Eine kritische Analye und ein Explikationsvorschlag. Zeitschrift für Pädagogik 1971, 17, S. 567-615

Brezinka, W.: Erziehung in der Familie. Gute Beispiele und Wertüberzeugung sind gefragt. Die politische Meinung 1989, 34, S. 47-51

Buber, M.: Reden über Erziehung. Heidelberg: Schneider Lambert 1962

Maslow, A.H.: Motivation and personality. New York: Harper & Row, 2. Aufl. 1970

Reble, A.: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart: Klett 1971

Schäfer, G.E.: Bildungsprozesse im Kindesalter: Selbstbildung, Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit. Weinheim, München: Juventa 1995

Textor, M.R.: Beratung, Erziehung, Psychotherapie. Eine Begriffsbestimmung. Psychologie in Erziehung und Unterricht 1987, 34, S. 1-13

Wehnes, F.-J.: Theorien der Bildung - Bildung als historisches und aktuelles Problem. In: Roth, L. (Hg.): Pädagogik. Handbuch für Studium und Praxis. München: Ehrenwirth 1991, S. 256-270

Xochellis, P.: Pädagogische Grundbegriffe. Eine Einführung in die Pädagogik. München: Ehrenwirth 1973

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de