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Zitiervorschlag

Das Begleiten einer Praxisphase im Kindergarten. Was lehrt uns die Praxis?

Gabriela Moser

 

Praxislehrpersonen unterstützen und begleiten Studierende während einer Praxisphase beim Erproben, Weiterentwickeln und Flexibilisieren eigener Handlungskompetenzen im Hinblick auf die Planung, Durchführung und Reflexion des Unterrichts und bei der Kooperation mit allen am Schulfeld beteiligten Akteurinnen und Akteuren. Zentrales Element dabei bildet eine ganzheitliche Entwicklung jedes einzelnen Kindes.

Eine Praxisphase stellt für Studierende das zukünftige Berufsfeld dar, welches Lehrgelegenheiten für eigene Professionalisierung bietet und Integration von theoretischen Wissensbeständen in die reale Praxis ermöglicht. Oder anders formuliert: Eine Praxisphase stellt für Studierende das zukünftige Berufsfeld dar, in dem das eigene Wissen und Können als Kern eigener Professionalisierung angesehen und ausprobiert wird.

Zum Repertoire des pädagogischen Wissens und Könnens gehören die Theorie der Bildung und der Erziehung, pädagogische Psychologie, allgemeindidaktisches Konzeptions- und Planungswissen, metatheoretische Modelle der Unterrichtsplanung, Methodik, fachübergreifende Prinzipien der Unterrichtsplanung, fachübergreifende Prinzipien des Diagnostizierens, Prüfens und Bewertens (vgl. Baumert/ Kunter 2006, S. 485).

Kern des Kindergartengeschehens bildet die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Infolgedessen ist der Kindergarten für Kinder ein Erfahrungsraum, in dem Fantasie, Kreativität, Entdeckung, Herausforderung und Besinnung gleichwertige Funktionen erfüllen.

Primärste Aufgabe des Kindergartens ist das Kind auf den Übertritt in die Primarschule (Grundschule) vorzubereiten und die Fähigkeiten des Kindes mittels des Unterrichtens und Erziehens weiterzuentwickeln. In der Pädagogik besteht kein Dissens darüber, dass man das Unterrichten und das Erziehen voneinander nicht trennen kann.

Studierende betrachten das Praktikum im Kindergarten als einen Erfahrungsraum, in dem (eigene) Handlungsmuster aufgebaut werden dürfen, und erwarten von Praxislehrpersonen eine professionelle Handlungskompetenz und Mentoring.

Das Theorie-Praxis-Problem

Studierende fokussieren während des Unterrichtens ihre eigene Performanz, welche sich verstärkt auf die normativen Inhalte und das Bewältigen des Unterrichtens bezieht. In den sekundären Fokus treten dabei Heterogenität der Kinder, der Lernprozess und die Lernerfolge bzw. Erfahrungen der Kinder, die aus dem Lernen resultieren. Der Praxisort wird somit ein Ort, an dem vorerst Erfahrungen gemacht werden dürfen, eigene Entwicklungsaufgaben gesetzt werden und theoretische Didaktik und Methodik zum praktischen Denken und Handeln umgesetzt werden können.

Heppekausen (2013) beschreibt, dass Studierende im Praktikum einem inneren und äußeren Druck ausgesetzt sind, weil das " Rezeptlernen" selten auf die Dauer hilft und als Konsequenz bei den Studierenden ein Widerstand gegenüber "dem ewigen Reflektieren und Theoretisieren" zu beobachten ist.

Entlang dieser Beobachtung und Feststellung ist ein Aufbau und Entwicklung der selbstreflexiven Lehrkompetenzen bei Studierenden ein wichtiger Grundbaustein im anfänglichen Prozess der individuellen Professionalisierung. Der Unterricht ist bei den Studierenden stark an den normativen Prämissen des Handelns ausgerichtet, ohne das einzelne Kind in den Blick zu nehmen. Die Planung des Unterrichts wird somit nicht den realen heterogenen Bedingungen angepasst, sondern ist oft an einer Art homogenen Lerngruppe ausgerichtet. Dabei bildet stufenspezifische Entwicklungssituation und Heterogenität der Kinder einen zentralen Aspekt bei Planung und Durchführung eines Unterrichts.

Eine Beispielsituation aus der Praxis

Eine Studentin leitet den Morgenkreis. Die Planung dieser Sequenz hat sie für die gesamte Gruppe geplant und dabei folgende Situation in der Gruppe nicht berücksichtigt: Jonas, der vier Jahre alt ist, hat vor einem Jahr ein Cochlea Implantat implantiert bekommen. Er ist seit der Geburt gehörlos gewesen; mit diesem Implantat ist es gelungen, dass Jonas hören kann und lernt zu sprechen. Damit Jonas die Studentin versteht ist es notwendig, dass sie ein kleines Mikrofon an ihrem Oberteil anbringt, Jonas öfters während der Sequenz visualisiert und auf eine deutliche Aussprache achtet. Die Sequenz reflektiert die Studentin als nicht ganz gelungen, weil Jonas während des Morgenkreises gestört hat, andere Kinder abgelenkt hat und ihren Anweisungen nicht gefolgt ist.

Praxislehrpersonen erwarten von den Studierenden einen erweiterten, diagnostischen und differenzierten Blick für das Handeln in einem Lern-, Spiel- und Lebensraum, in dem die ganze heterogene Gruppe und zugleich jedes einzelne Kind wahrgenommen, gefordert und gefördert wird. Es handelt sich um einen deduktiven "Metablick", der auf diversen Ebenen im Kindergarten ausgeübt werden muss, was in Dissonanz mit der praktischen induktiven Umsetzung der Studierenden zu beobachten ist.

Wie kann diese Diskrepanz seitens Praxislehrpersonen und Studierenden zu effektiven und stabilen Handlungsmustern entwickelt werden? Zu Beginn des Praktikums ist es notwendig, eine reflexive Situation herzustellen, in der eine Dimension der Beziehungs- und Bedingungsebene (Orientierung an Voraussetzungen der Kinder) hinsichtlich der realen Lerngruppe sowie der einzelnen Kinder erläutert wird. Das kontinuierliche Anknüpfen der Lehrpersonen an biographische und lebensweltliche Zusammenhänge der Kinder verstärkt dabei die erhoffte Evidenz bei Studierenden. Dadurch werden die fachdidaktische Fokussierung und Konzentration auf die eigene Performanz seitens der Studierenden entschärft und ein notwendiger Perspektivenwechsel in Richtung innere Differenzierung angeregt.

Falk und Steinert (1973, S. 33) unterscheiden in jeder Interaktion (oder Anfangssituation) zwei entscheidende Phasen: eine erste, in der aus den mitgebrachten Längsschnittbedeutungen eine Situationsdefinition ausgehandelt wird, und zweite Phase, in der die Rahmenbedingungen und Strategien definiert werden.

Das Beobachten der Freispielsituationen - eine (neue) Herausforderung für Studierende

Es ist unbestreitbar, dass im entwicklungspsychologischen Kontext das Freispiel für ein Kind eine der bedeutendsten Rollen spielt. Das Kind wählt nicht nur sein Spielmaterial aus, sondern auch den Raum, den Verlauf des Spiels, die Regeln, die Dauer und die Spielpartner/innen. Das Lernen, welches im Freispiel stattfindet, bildet für ein Kind die natürlichste Form des Wahrnehmens und Lernens. Die Ideen und Wünsche, die im Freispiel sichtbar werden, bedürfen seitens des Kindes einer Organisation, in der eine Arbeitshaltung trainiert wird unter der individuellen kindlichen Prämisse, dass sie beliebig geändert und beendet werden kann.

Erfahrene Lehrpersonen nehmen bei Freispielsituation/en eine aktive Rolle ein, denn gerade in diesen Situationen können Lehrpersonen Fortschritte oder mögliche Förderung und/oder Forderung in der Entwicklung jedes einzelnen Kindes beobachten, feststellen und anregen. Entlang dieser Feststellung ist auch die Wahrnehmung jedes Kindes, welche sich im Freispiel widerspiegelt, eine wichtige Informationsquelle für jede Lehrperson.

Mögliche Beispiele für Beobachtungsaspekte bei einem Freispiel

  • Wie nimmt das Kind seine Umwelt wahr?
  • Welche Motivationen, Rollen, Interessen, Emotionen und Handlungen (er-)lebt das Kind beim Freispiel?
  • Welches Durchhaltevermögen ist beobachtbar?
  • Welche soziale Kompetenzen wendet das Kind an und welche nicht?
  • Wie löst das Kind Situationen mit Hindernissen?
  • Welches Selbstvertrauen ist beim Kind beobachtbar?
  • ...

Welche Förderung und/oder Forderung resultiert aus den Beobachtungen für mich als Lehrperson?

Praxislehrpersonen besitzen eine hohe diagnostische Kompetenz und verstehen sich als ein kompetenter Faktor in einem komplexen System, welches (nur) in Kooperation mit anderen Bezugssystemen sinnvoll zum Wohle des Kindes interagieren kann. Die aus der Praxis resultierende Problematik lässt sich in diesem Satz beschreiben: "Die Studierenden nehmen bei Freispielsituationen oft eine passive Rolle ein und betrachten Freispielsituationen als eine Situation, in der Kinder nicht gestört werden sollen." So lautet nicht selten das Praxislehrpersonenfeedback. Zwischen den Lehrpersonen und den Studierenden entwickelt sich dadurch häufig eine gestörte Beziehung, die sich entweder verfestigt (Lehrpersonen haben das Gefühl, dass Studierende passiv sein möchten) oder in der Nachbesprechung offen kommuniziert und geklärt wird. Die Relevanz der aktiven Lehrpersonenrolle in der Freispielsituation sollte in der Nachbesprechung mittels konkreten Beobachtungen und Fallanalysen thematisiert werden.

Wie können Lehrpersonen mit Studierenden sinnvoll reflektieren? Praktische Erfahrungen und Tipps

Donald Schön (1983), der Begründer der reflektierenden Praxis, unterscheidet drei Reflexionshandlungen: "Wissen-in-der Handlung", "Reflexion-in-der Handlung" und "Reflexion-über-die Handlung". Insbesondere "Reflexion-über-die Handlung" zeichnet ein hohes Mass an professioneller Kompetenz aus, da diese Optionen der Reorganisation und Optimierung von Handlungen ermöglicht.

Das charakteristische Denkmodell des planenden Denkens ist nach Mannheim (1958, S. 273) "die Situation" oder sogar noch komplexere Konstellationen. Auf der Stufe der Planung wird es immer nötiger, dass man in Situationen denken kann. Nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Wissenschaft ist es wichtig, wenn man imstande ist, die verschiedenen Ereignisreihen in Gedanken zusammenzufügen und zu erkennen, wie die einzelnen Ereignisse, Institutionen und seelischen Verhaltensweisen aufeinander abgestimmt sind und voneinander abhängen.

Durch Reflexion, auch schriftliche reflexive Praxis, können implizite subjektive Deutungsmuster benennbar und damit bewusst werden. Die Handelnden können diese durch Austausch miteinander und mit ihren professionellen Begleiter/innen sowie durch Hinzuziehen von Fachliteratur relativieren und so ihre Wahrnehmung sowie längerfristig ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern.

Mögliche Denkprozessfragen, die Lehrpersonen mit Studierenden nach dem Unterricht reflektieren können:

Betreffend der subjektiven Wahrnehmung:

  • Wie geht es Dir nach Deiner Lernsequenz?
  • Welche Fragen sind bei Dir entstanden?
  • Welche Einsichten hast Du gewonnen?
  • Was hat Dich überrascht und was hat Dich irritiert?
  • Was war für Dich schwierig?
  • An welchen Stellen während der Sequenz hast Du Dich wohl oder unwohl gefühlt?
  • ...

Betreffend der Emotionen und des Verhaltens der Kinder:

  • Welche Emotionen auf Kinder kannst Du bei Dir feststellen?
  • Wie gehst Du damit um?
  • Bist Du angespannt gewesen?
  • Wie war das Verhalten der Kinder?
  • Bist Du zu einer (Be)wertung gekommen?
  • Wie gehst Du mit der um?
  • ...

Betreffend der Unterrichtsplanung und des Unterrichts:

  • Verlief die Unterrichtssequenz so wie Du sie geplant hast?
  • Hast du altersgerechte Sprache gewählt?
  • Waren Deine Methoden und/oder Unterrichtsformen den kindlichen Voraussetzungen, dem Vorwissen und den Interessen der Kinder angemessen und motivierend?
  • Wie war Dein Zeitmanagement?
  • Hast Du auf Deine Mimik, Gestik und Stimmmodulation geachtet?
  • Wurden die geplanten Ziele erreicht?
  • Worauf stützt sich Dein Urteil?
  • ...

Ein kritischer Moment bei einer Reflexion entsteht, wenn Lehrpersonen nicht wertfrei auf Handlungen der Studierenden reagieren, sondern bewertende Rückmeldungen tätigen. Eine Reflexion ist dann wertfrei, wenn die zu Reflektierenden subjektive Handlungen, Gefühle, Fragen und Überlegungen kommunizieren, mit Hilfe der Lehrpersonen diese kritisch und konstruktiv analysieren und dabei zur Erkenntnis und Einsicht - aus eigener Wahrnehmung und Beobachtung heraus - gelangen können.

Literatur

Baumert, J./Kunter, M. (2006): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9, Heft 4

Falk, G./Steinert, H. (1973): Über den Soziologen als Konstrukteur von Wirklichkeit, das Wesen der sozialen Realität, die Definition sozialer Situationen und die Strategien ihrer Bewältigung. Stuttgart: Steinert

Heppekausen, J. (2003): Beobachtung, Selbstbeobachtung und Reflexion in der Lernbegleitung. Wiesbaden: Springer VS

Mannheim, K. (1958): Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt

Schön, D. (1983): The reflective practitioner - how professionals think in action. New York, NY: Basic Books

Kontakt

Gabriela Moser, PhD., Email: [email protected]