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Zitiervorschlag

Von der Erziehungspartnerschaft zur Bildungspartnerschaft

Martin R. Textor

 

Im Jahr 1993 wurde in Bayern das "Netz für Kinder" als eine innovative Form der Kindertagesbetreuung eingeführt, die in ihrem Konzept eine kontinuierliche Elternmitarbeit berücksichtigt. Gemeinsam mit einer pädagogischen Fachkraft betreuen ein bis zwei Elternteile Kinder in weit altersgemischten Gruppen von 12 bis 15 Kindern. Den Eltern wird hier die Möglichkeit gegeben, Erziehungsverantwortung innerhalb einer Kindertagesstätte zu übernehmen. Zumindest ein Elternteil pro Familie muss in der Einrichtung mitarbeiten.

Können Sie sich vorstellen, wie stark diese neue Form der Kindertagesbetreuung von Erzieherinnen aus Regeleinrichtungen angegriffen wurde? Jeden Tag ein Elternteil in der Gruppe! Und jeden Tag andere - schließlich müssen rund 15 Eltern nacheinander mitarbeiten! Wo Eltern überhaupt nicht qualifiziert sind! Die Aufregung war groß - viel größer als in die Empörung in anderen Bundesländern wie z.B. Nordrhein-Westfalen darüber, dass die sog. Ergänzungskräfte in Regeleinrichtungen überhaupt keine formale bzw. pädagogische Qualifikation benötigen. Inzwischen hat sich die Aufregung gelegt, zumal nur rund 160 Gruppen entstanden. Und ist es wirklich so verwerflich, wenn Eltern in Kindertageseinrichtungen mitarbeiten? Insbesondere wenn dadurch keine Arbeitsplätze für Erzieherinnen verloren gehen?

In Deutschland hat ein Umdenken begonnen, wird immer häufiger nach einer "Erziehungspartnerschaft" von Kindergarten und Familie getrachtet (Textor 2000). Beispielsweise schreibt Junge (1998): "Partnerschaft muss wachsen. ... Damit sie sich entwickelt, müssen MitarbeiterInnen und Eltern miteinander ins Tun kommen. Erlebtes schafft eine andere Qualität der Gemeinschaft. Partnerschaftliches Miteinander stellt, da wo es gelingt, eine Bereicherung auch für das Zusammenleben mit Kindern dar" (S. 6).

Alleine schon die häufige Anwesenheit von Eltern während des Tages im Kindergarten, also die sog. Hospitation, verändert die Erzieherin-Eltern-Beziehung: Beide Seiten erleben einander im Umgang mit Kleinkindern, lernen einander immer besser kennen und erkennen die erzieherische Kompetenz des anderen. Sie entwickeln Vertrauen und Wertschätzung füreinander; offene, freundschaftliche Gespräche werden möglich. Während der Hospitation machen Eltern viele Lernerfahrungen: Aus der Beobachtung des Umgangs der Erzieherinnen mit Kindern - also an deren Vorbild - lernen sie beispielsweise, wie man mit Kindern altersgemäß kommuniziert, wie man Spiel- und Bastelmaterialien sinnvoll einsetzt, wie man Regeln setzt und deren Einhaltung überwacht und wie man mit Aggressivität, Hyperaktivität oder anderen Verhaltensproblemen umgeht. Die Eltern lernen neue Spiele und gute Kinderbücher kennen, erhalten Tipps für die Beschäftigung von Kleinkindern und erkennen die hinter Festen und Feiern stehenden Traditionen und Werte, die bei Familien oftmals in Vergessenheit geraten sind. Auch übernehmen sie neue Erziehungsmethoden und -techniken. Viele dieser Lernerfahrungen übertragen sie auf das Familienleben und die Familienerziehung - es erfolgte also indirekt eine intensive Elternbildung.

Von der Anwesenheit im Kindergarten profitieren aber nicht nur die Eltern, sondern auch die Erzieherinnen und Kinder. Erstere werden entlastet, wenn Eltern Kleingruppen von Kindern beim Freispiel beaufsichtigen, an Projekten mitwirken, die Gruppe bei Ausflügen begleiten, beim Aufräumen helfen, mit Kindern spielen, basteln oder andere Aktivitäten durchführen. So gewinnen Erzieherinnen Freiräume, die sie z.B. für die Beobachtung einzelner Kinder nutzen können. Auch wird die Arbeit in offenen Gruppen erleichtert, da mehr Aufsichtspersonen zur Verfügung stehen und mehr Angebote gemacht werden können. Die Kinder profitieren in ihrer Entwicklung, weil sie neben den Erzieherinnen andere Erwachsene als Spiel- und Gesprächspartner, als Vorbild und Rollenmodell haben. Sie erfahren mehr Stimulation, Anleitung und Förderung. Durch die intensivere Interaktion mit Erwachsenen wird ihre sprachliche und kognitive Entwicklung beschleunigt. Ferner erwerben sie soziale Kompetenzen durch den Umgang mit zuvor oft unbekannten Erwachsenen.

Die Zusammenarbeit bei der Kindererziehung kann dadurch intensiviert werden, dass bei Elternveranstaltungen die nächsten Wochenpläne bzw. Projektvorhaben präsentiert werden. Dann können die Eltern zum einen ihre Vorstellungen und Ideen einbringen. Auch werden sie gefragt, inwieweit sie sich an den Aktivitäten im Kindergarten beteiligen können. Insbesondere die Projektarbeit bietet viele Möglichkeiten einer intensiven Einbindung von Eltern (vgl. Textor 2013). Zum anderen diskutieren sie mit den Erzieherinnen, wie sie zu Hause die vorgesehenen Wochen- bzw. Projektthemen aufgreifen, ergänzen und vertiefen können. So können sie z.B. zum Thema passende Bilderbücher aus der Stadtbibliothek ausleihen und mit den Kindern anschauen, mit ihnen über neue Begriffe sprechen oder mit ihnen bestimmte, von den Erzieherinnen vorgeschlagene Aktivitäten wie ein Experiment, eine Bastelarbeit oder ein Interview durchführen. Auf diese Weise werden die Lernerfahrungen des Kindes verstärkt und ausgeweitet, wird die Familienerziehung intensiviert.

Ich plädiere also für die Integration von Eltern in die pädagogische Arbeit an Kindertageseinrichtungen und für die Ausweitung der "Erziehungspartnerschaft" zu einer "Bildungspartnerschaft": Wenn Eltern ihr Wissen, ihre Kompetenzen, ihre Hobbys usw. in den Kindergarten einbringen können, erweitert sich das Bildungsangebot. Wenn Eltern mit Kindern diskutieren, insbesondere in Kleingruppen oder Einzelgesprächen, werden kognitive, Sprach- und soziale Entwicklung gefördert. Erziehung und Bildung werden zur gemeinsamen Aufgabe von Eltern und Erzieherinnen.

Anmerkung

Eine umfassendere Darstellung der Thematik finden Sie in meinen Büchern "Elternarbeit im Kindergarten. Ziele, Formen, Methoden" (Books on Demand, 4. Aufl. 2021) und "Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in Kindertageseinrichtungen" (Books on Demand, 3. Aufl. 2020), die im Buchhandel und z.B. bei Amazon erhältlich sind.

Literatur

Junge, M.: Intentionen der heutigen Elternarbeit. In: Schüttler-Janikulla, K. (Hrsg.): Handbuch für ErzieherInnen in Krippe, Kindergarten, Vorschule und Hort. Neuausgabe. München: mvg-verlag, 28. Lieferung 1998

Textor, M: Kooperation mit den Eltern. Erziehungspartnerschaft von Familie und Kindertagesstätte. München: Don Bosco 2000

Textor, M.R.: Projektarbeit im Kindergarten. Planung, Durchführung, Nachbereitung. Norderstedt: Books on Demand, 2. Aufl. 2013

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de