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Zitiervorschlag

Aus: Städte- und Gemeinderat, 2001, Jg. 55, Heft 9, S. 18-20

Wildwuchs statt Designer-Rutsche

Herbert Österreicher

 

Das Thema Kinderspielplatz ist immer noch jung, viel jünger, als man angesichts der vielen Hersteller von Spielgeräten und eines zunehmend umfangreicheren Regel- und Normenwerks zu Einrichtung, Betrieb und Pflege meinen möchte. Der gesellschaftliche Stellenwert von spielerischen und sportlichen Aktivitäten ist heute immens groß, und möglicherweise liegt darin eine der Ursachen für ein wachsendes Interesse an zweckmäßig eingerichteten Spielplätzen.

Ein anderer Hintergrund ergibt sich aus den heutigen Bedingungen von Kindheit und Jugend: Die zunehmende Komplexität unserer Gesellschaft führt in den verschiedensten Lebensbereichen zu einer immer stärkeren Strukturierung und Reglementierung. Bereits in der kindlichen Lebenswelt verringern sich die Freiheitsgrade deutlich. Insbesondere in dichtbesiedelten Gebieten zeigt sich, daß beengte Wohnraumverhältnisse, die derzeitige Verkehrssituation sowie eine zunehmende Entfremdung von Naturphänomenen bei mehr und mehr Kindern die körperlichen und psychisch-emotionalen Fähigkeiten begrenzen.

Als Folge dieser Entwicklung müssen deutliche Einbußen im Bereich der Kreativität und sozialen Kompetenz befürchtet werden. Kindgerechte Spiel- und Erfahrungsräume können zwar familiär und gesellschaftlich bedingte Defizite nicht grundsätzlich beheben, aber sie bieten wenigstens ein Gegengewicht zur Welt der Erwachsenen. Lebendig und sinnvoll gestaltete "Miniparadiese" ermöglichen besonders gut ein abwechslungsreiches Spielen mit unterschiedlichsten Materialien, das Erleben der "Magie" von Orten und Räumen, die Suche nach selbstgestellten Aufgaben und Herausforderungen.

Wesentliche Bedürfnisse

Der gegenwärtige Trend weist eher in eine andere Richtung: Die Gestaltung von Kinderspielplätzen führt - nicht zuletzt aus geschäftlichen Gründen - zu raffinierten, auf öffentliche Wirkung angelegten Konzepten, die wohl eher als Symptom eines Defizits zu deuten sind: Ist das Sensationelle einer grellen Spielgerätekombination heute unverzichtbar? Bestärken solche Angebote Kinder nicht lediglich im Wunsch nach Konsum und Unterhalten-Werden? Wird hier nicht eigentlich ein Mangel überdeckt und der Blick auf das Wesentliche kindlicher Bedürfnisse verstellt?

Ein kurzer Blick zurück zeigt, wie sehr das Spiel der Kinder durch zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Phänomene geprägt wird: Bis weit in die 1950er-Jahre gab es keine spezialisierten Räume für Kinder; wenige Wohnungen hatten Kinderzimmer; "Kinderspielplätze" waren weitgehend unbekannt. "Bevorzugte Spielorte waren Baustellen und die noch nicht überbauten Flächen" (Blinkert 1996).

Erst in den 1960er-Jahren änderte sich dies, als im Zuge der Charta von Athen und ihrer Forderung nach Spezialisierung und Monofunktionalisierung der städtischen Lebensräume auch für Kinder besonders eingerichtete Räume und Spielorte entstanden. Dabei erscheint besonders wichtig, wie sich dadurch der Handlungs- und Gestaltungsspielraum für die Kinder ändert; es geht um den "Grad der Offenheit bzw. Determiniertheit gegenüber Handlungen" (Zeiher 1983).

Schrumpfender Freiraum

Selbstverständlich muß man zwischen der Entwicklung im ländlich-dörflichen Bereich und in einer urbanen Situation unterscheiden. Doch generell gilt, daß die Gestaltbarkeit von Räumen für Kinder in dem Maß abnimmt, wie Spielmöglichkeiten und Spielabläufe geplant und funktional vorgegeben werden.

Dennoch hielt man damals eine solche Spezialisierung für den besten Weg und setzte sich für einen Ausbau von Einrichtungen zur Kinderbetreuung sowie für Kinderspielplätze ein. Zwar gab es innerhalb dieser Zeit auffällige Veränderungen und Weiterentwicklungen der Spielplatzgestaltung (weg vom Stahlrohr-Klettergerüst, hin zu Holzkonstruktionen), aber die Zielrichtung, Kindern an speziellen Orten spezialisierte Spielgeräte anzubieten, wurde intensiver als je zuvor verfolgt.

Erst Ende der 1970er-Jahre verlangsamte sich dieser Prozess; neben die Entwicklung neuerer und komplexerer "Gerätekombinationen" trat ein starkes Interesse an der Gestaltung des Spielortes insgesamt: Es entstanden "weniger aufgeräumte" Spielplätze mit "mehr Wildwuchs" von Hecken und Strauchgruppen; Findlingssteine und Blumenwiesen ersetzten manche Rasenfläche.

Aktionsräume gesucht

Die kindliche Entwicklung ist neben vielfältigen sozialen und personalen Bezügen auch entscheidend von der sie umgebenden gegenständlichen Welt geprägt. Dabei suchen Kinder stets die tätige Auseinandersetzung mit den Dingen. Es genügt ihnen nicht, die Objekte - auch die Naturobjekte - nur zu betrachten und darüber nachzudenken, erst durch Handeln und Ausprobieren gelingt ihnen die Aneignung der Welt.

Aus diesem Grund sind gerade auf den sogenannten Kinderspielplätzen Vielfalt und funktionale Unbestimmtheit der vorhandenen Materialien und Strukturen wichtig. "Ein kontemplatives, romantisches, betrachtendes 'Erleben' von Natur, wovon Erwachsene vielleicht träumen, entspricht eher nicht den kindlichen Bedürfnissen" (Gebhard 2001). Genau an dieser Stelle werden Zielkonflikte mit der Welt der Erwachsenen unausweichlich: Bereits die vielzitierte Wasserpfütze, der "Verhau" struppig wachsender Wildgehölze oder ein kurzfristig lagernder Haufen Holzbretter sind Anregung und Ärgernis zugleich. Was für die Kinder eine willkommene Bereicherung selbst erfundener Spiel- und Handlungsabläufe darstellt, gilt vielen Erwachsenen als "schmutzig", "verwahrlost", "gefährlich".

Eingeplante Zwänge

Dahinter dürften vor allem zwei Faktoren stehen: eine weit verbreitete Ordnungsliebe sowie ein in den zurückliegenden Jahren stark gestiegenes Kontroll- und Sicherungsbedürfnis. Daß aus solchen Ängsten und Urteilen aber nicht unbedingt mehr Sicherheit, aber mit Sicherheit mehr Zwänge erwachsen, wird häufig übersehen oder als unvermeidlich hingenommen.

Offensichtlich ist es schwierig, zwischen den berechtigten Sorgen von Eltern und Verantwortlichen in den Gemeinden einerseits und den elementaren, entwicklungspsychologisch begründbaren Bedürfnissen und Interessen von Kindern andererseits eine tragfähige Balance zu finden. Aber es gibt wohl keinen anderen Weg, als immer wieder und in vielen Einzelfällen mit Betroffenen und Interessierten Lösungen auszuhandeln. Dies kann objektbezogen wie auch im Rahmen der übergeordneten Konzeption einer für Kinderspielplätze zuständigen Stelle erfolgen. In jedem Fall wird zu berücksichtigen sein, daß es keinen "Königsweg" gibt, sondern gerade originelle, orts- und situationsgemäße Lösungen zu suchen sind.

Frei-Räume durch Kooperation

Gerade die Gestaltung von Spielplätzen und Außenanlagen an Einrichtungen der institutionellen Kinderbetreuung bietet hervorragende Möglichkeiten, Planung und Ausführung der Arbeiten in Kooperation mit den späteren Nutzer/innen zu organisieren. Selbstverständlich ist eine gute fachliche Betreuung dabei ebenso wichtig wie eine Erfolg versprechende Moderation der unterschiedlichen Meinungen und Ziele.

Wenn ein solcher Prozess zustande kommt und einen positiven Verlauf nimmt, geschieht weit mehr als die bloße Erledigung einer Arbeit, mehr als die Veränderung der jeweiligen Freifläche: Es ergeben sich zahlreiche neue zwischenmenschliche Kontakte, ein oft begeisterndes Wir-Gefühl und intensive Kommunikationsmöglichkeiten. Die Beteiligten erleben ganz unmittelbar den Zusammenhang von theoretischen Überlegungen und praktischer Gestaltung in einer gleichsam "interdisziplinären Arbeitsatmosphäre".

Dieses gemeinsame Arbeiten kann im Ergebnis durchaus etwas chaotisch wirken, und manche Beteiligten werden hier möglicherweise Geradlinigkeit, Präzision und Widerspruchsfreiheit vermissen. Andererseits kann ein solches Handeln unter den Prämissen von Eigenständigkeit, Partnerschaft und Verantwortlichkeit in der Folge auch bedeuten, Ängste abzubauen: Ängste, die offensichtlich entstehen, wenn sich etwas Neues entwickelt.

Gerade aufgrund dieser offenen Arbeitsweise hat man es letztlich auch mit einer Form von "ökologischem Handeln" zu tun: Natürliche Entwicklungen antworten in weiterführendem Sinn auf die planvoll gestaltenden Maßnahmen. Wie man mit solchen Prozessen umgeht, ist alles andere als unwichtig: Nicht Geschäftigkeit, sondern Lebendigkeit sollte die tätige Auseinandersetzung mit der Umwelt bestimmen, nicht ängstliches Festhalten am gerade Erreichten, sondern Mut, Kreativität und - Gelassenheit.

Und die Sicherheit?

"Spielbereiche sollten in etwa die gleiche Sicherheit und das gleiche Risiko enthalten wie Lebensbereiche, in denen sich die Spielenden üblicherweise bewegen. Es kann nicht darum gehen, für Spielbereiche ein Sicherheits-Ausnahmeklima zu schaffen" (Agde 1996). Die Entscheidung über Schutzmaßnahmen hängt dabei wesentlich von zwei Kriterien ab: die Schwere eines möglichen Unfalls und seine Wahrscheinlichkeit. Erst die Gesamtbeurteilung gibt Auskunft, ob eine bestimmte Schutzmaßnahme notwendig ist, wie sie auszusehen hat und wie dringlich sie ist.

Die rechtlichen Grundlagen finden sich in verschiedenen Gesetzen wie z.B. dem Baugesetz, den Kindergartengesetzen oder den Spielplatzgesetzen der Länder einschließlich ihrer Durchführungsverordnungen. Entscheidend sind in der Praxis aber die DIN 18034 ("Spielplätze und Freiflächen zum Spielen") und die europäischen DIN EN 1176 ("Spielplatzgeräte", 7 Teile) und DIN EN 1177 ("Spielplatzböden"). Durch diese Normen werden auch die jeweils vorgeschriebenen Kontroll- und Wartungsarbeiten geregelt (Die europäischen Normen DIN EN 1176 und DIN EN 1177 haben inzwischen alle Teile der DIN 7926 ersetzt. Sie sind im Beuth-Verlag Berlin erschienen. Vgl. Agde 2001).

Die Verantwortlichen sollten alles daransetzen, Kindern einen für ihre Entwicklung bestmöglichen Spielraum zu geben. Nur so lernen diese, sich selbst richtig einzuschätzen und ihre Fähigkeiten zu nutzen - für heute und für morgen. Gerade heute, wo zugängliche, gefahrlose und gestaltbare äußere Territorien für Kinder immer weniger verfügbar sind, muß man sich in einfühlsamer Weise um dieses Ziel bemühen: zum einen durch Schaffung neuer, offener Spiel- und Erfahrungsmöglichkeiten, zum anderen durch Verringerung bestimmter ordnender Eingriffe und Reglements, mit dem "vergeblichen, wenn auch nicht sinnlosen Wunsch..., auf die Beherrschung der Natur zu verzichten, um ihre Vertraulichkeit zu gewinnen" (Blumenberg 1981).

Literatur

Agde, G. u.a., Sicherheit auf Kinderspielplätzen. Spielwert und Risiko. Sicherheitstechnische Anforderungen. Rechts- und Versicherungsfragen. Wiesbaden/ Berlin 1996 (4. neubearbeitete und erweiterte Auflage)

Agde, G. et al.: Spielgeräte. Sicherheit auf Europas Spielplätzen. Berlin/ Wien/ Zürich 2001

Blinkert, B., Aktionsräume von Kindern in der Stadt. Pfaffenweiler 1996 (2. Auflage)

Blumenberg, H., Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/Main 1981

Gebhard, U., Kind und Natur. Wiesbaden 2001 (2. aktualisierte Auflage)

Zeiher, H., Die vielen Räume der Kinder. In: Preuss-Lausitz, U. et al.: Kriegskinder. Konsumkinder. Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Weinheim/ Basel 1983

Autor

Herbert Österreicher, Dipl. Ing. (FH), ist als freiberuflicher Planer für Außenanlagen an Kindertageseinrichtungen verschiedener Träger sowie als Weiterbildungsreferent im Bereich der Umweltbildung und Naturkunde tätig. Kontakt über: http://www.kinderfreiland.de