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Zitiervorschlag

Aus: Welt des Kindes 1990, 68 (6), S. 55-37 (überarbeitet im Januar 2017)

Jede Mutter eine Kindergärtnerin. Elternbildung bei Fröbel

Martin R. Textor

 

"Der deutsche Kindergarten wurde aus dem tiefgefühlten Bedürfnis entsprechender Pflege der Kinder, vor ihrem Eintritt in die Schule, am Gutenbergfeste 1840, einem Tage, der auf das allgemeine Lichtwerden hinwies, als ein gemeinsames deutsches Erziehungswerk gestiftet. Er ruht auf der Überzeugung, daß die Einzelerziehung der vorschulfähigen Kinder in der Familie, wie sie im Ganzen jetzt ist und unter den bestehenden Verhältnissen sein kann, für die Forderungen der Zeit nicht mehr ausreiche. Seine Absicht geht darum dahin, den Familien und den Gesammtheiten dafür die nöthige Hilfe zu bringen" (Fröbel 1843, S. 165).

So schrieb Friedrich Fröbel drei Jahre nach Gründung des ersten Kindergartens vor 150 Jahren. Deutlich wird, dass Fröbel die Familienerziehung zu seiner Zeit für ergänzungsbedürftig ansah. Für ihn wurde weder durch Kinderbewahranstalten (in den unteren Bevölkerungsschichten) noch durch die kaum ausgebildeten Kindermädchen (in den oberen Bevölkerungsschichten) noch durch die meisten Eltern eine gute, den Körper, den Geist und das Gemüt umfassende Erziehung von Kleinkindern erreicht. So war der Kindergarten von Anfang an als eine familienunterstützende und ergänzende Einrichtung gedacht. Er sollte die ganzheitliche Erziehung von Vorschulkindern gewährleisten.

In den Worten von Fröbel (1843) galt es durch entsprechende Betätigung, "ihren Körper zu kräftigen, ihre Sinne zu üben und den erwachenden Geist zu beschäftigen; sie sinnig mit der Natur und Menschenwelt bekannt zu machen; besonders Herz und Gemüth richtig zu leiten und zum Urgrunde alles Lebens, zur Einigkeit mit ihm hinzuführen. In Spiele sollen sie freudig und allseitig, alle Kräfte übend und bildend, in schuldloser Heiterkeit, Einträchtigkeit und frommer Kindlichkeit sich darleben, für die Schule und kommenden Lebensstufen sich wahrhaft vorbereiten, wie die Gewächse in einem Garten unter dem Segen des Himmels und der aufsehenden Pflege des Gärtners gedeihen" (S. 166).

Kindergärten: Übungsschulen für Frauen und Mädchen

Diese Worte von Fröbel gelten heute noch - wir alle würden sicherlich auf ähnliche Weise die Ziele des Kindergartens definieren. Fröbel (1843) nannte aber noch weitere Aufgaben, nämlich zum einen, "Personen, namentlich Junge Leute beiderlei Geschlechts, in der rechten Leitung und Beschäftigung der Kinder zu unterweisen ..." (S. 166). Zum anderen sollte der Kindergarten, "um eine bessere Gesundheitspflege zum Gemeingut zu machen, das Bekanntwerden und die Verallgemeinerung des entsprechenden Spielmaterials, d. i. angemessene auf die stufenweise Entwickelung des Kindes und in dem Wesen des Menschen begründete Spiele und Spielweisen sich zum Zweck setzen ..." (S. 167).

Was war mit diesen beiden Aufgaben gemeint? Ein Hinweis findet sich beispielsweise in der von der Rudolstädter Lehrerversammlung im Jahr 1848 verabschiedeten "Bitte an die deutschen Regierungen und den Reichstag zu Frankfurt", die auf die allgemeine Einführung der Kindergärten und auf die staatliche Förderung der Kleinkindererziehung abzielte: Hier wurde davon gesprochen, dass Kindergärten Frauen und Mädchen als "Übungsschulen in der Kinderpflege" dienen sollten.

Deutlicher sagte es ein anderer großer Pädagoge dieser Zeit, F. A. W. Diesterweg, in seiner Rede zur Eröffnung des ersten Kindergartens in Berlin (1851): Fröbel "gewann die Ueberzeugung, daß eine bessere Erziehung kleiner Kinder nur praktisch erlernt und durch lebende Personen verbreitet werden könne. Er gründete zu dem Ende eine Anstalt, um darin erwachsene Mädchen zur Behandlung kleiner Kinder anzuleiten, und er vereinigte kleine Kinder, um an ihnen die Sache praktisch zu zeigen, er gründete den 'Kindergarten'" (S. 175). Etwas später sagte es Diesterweg noch treffender: Im Fröbelschen Kindergarten "können Mütter und Jungfrauen lernen, wie man in naturgemäßer Weise kleine Kinder beschäftigt, entwickelt und bildet; kommt, wie es recht und schön ist, die nöthige Belehrung und Aufklärung über das Wesen des Kindes, seine Bedürfnisse, Triebe, Strebungen etc. hinzu, so kann die Erziehung unserer Kinder und damit das Glück der Familien und des Staats unendlich gewinnen" (S. 179).

Kindergarten: Nicht von Erziehung entlasten, sondern an Erziehung heranführen

Fröbel sah im Kindergarten also auch eine elternbildende (bzw. in der damaligen Sichtweise eine "mütterbildende") Einrichtung, die sowohl unverheirateten als auch verheirateten Frauen durch Anleitung und Vorbild die Möglichkeit der Verbesserung ihrer Erziehungsfähigkeit bieten sollte.

A. Reble (1975) schreibt in seiner "Geschichte der Pädagogik": "Jede Mutter und jedes junge Mädchen sollte eine echte 'Kindergärtnerin' werden und sich ihres hohen Berufes als Pflegerin gerade der frühen Kindheit bewußt sein" (S. 230). Der Kindergarten sollte "nicht eigentlich die Mütter von der Erziehungsarbeit entlasten, sondern sie gerade an das rechte Erziehen heranführen" (a.a.O.).

Fröbel verstand den Kindergarten als Musteranstalt und Anschauungsort, an dem Frauen (aber auch Männer) z.B. in den Sinn des kindlichen Spiels eingeführt und den richtigen Umgang mit Kindern erlernen sollten. Er wollte die Kleinkinderziehung in der Familie reformieren, indem er durch praktische Anschauung und Belehrung im Rahmen des Kindergartens ein die allseitige Entwicklung von Kindern förderndes Elternverhalten zu erreichen versuchte.

Wäre es nicht sinnvoll, wenn heute der Kindergarten elternbildende, -anleitende und -beratende Aufgaben verstärkt wahrnehmen würde? Zum einen haben Erzieherinnen zu mehr Eltern Zugang als beispielsweise Lehrer oder die Mitarbeiter von Familienbildungsstätten. Auch ist zumeist der Kontakt intensiver und positiver, ist er z.B. nicht durch die Leistungs- und Benotungsproblematik vorbelastet. Zum anderen sind in der Regel Eltern von Kleinkindern an Erziehungsfragen mehr interessiert als Eltern von Schulkindern. Schließlich - und dies ist das Wichtigste - können Erzieherinnen im Sinne von Fröbel am ehesten durch ihr Vorbild wirken:

Es geht in der Elternbildung durch den Kindergarten nicht nur um die Vermittlung pädagogischer Erkenntnisse bei Elternabenden bzw. bei Tür-und-Angel-Gesprächen oder um die Gründung von Elterngesprächsgruppen, sondern auch um die Öffnung der Kindergruppen: Einzelnen Eltern könnte vermehrt die Möglichkeit geboten werden, einige Stunden oder Tage im Kindergarten als teilnehmende (mitspielende) Beobachter (nicht als Miterzieher!) zu verbringen und am Modell der Erzieherinnen zu lernen. Ihre Beobachtungen und Lernerfahrungen könnten anschließend besprochen und durch Ratschläge, Hinweise auf Fachliteratur u.Ä. ergänzt werden. Dabei kann auch auf Erziehungssituationen in der Familie eingegangen werden.

Könnte auf solche Weise nicht im Sinne Fröbels das Erziehungsverhalten von Eltern verbessert und Verhaltensauffälligkeiten vorgebeugt werden? Würde dieses nicht letztlich wieder die Arbeit der Erzieherinnen erleichtern?

Literatur

Diesterweg, F.A.W.: Der erste Kindergarten in Berlin. Im Selbstverlage des Verfassers, o.J. (abgedruckt in Krecker, M.: Quellen zur Geschichte der Vorschulerziehung. Berlin: Volk und Wissen 1983, S. 173-180)

Fröbel, F.: Nachricht und Rechenschaft vom Deutschen Kindergarten (1843). In: Lange, W. (Hrsg.): F. Fröbels gesammelte pädagogische Schriften. Zweite Abtheilung. Berlin 1862 (auszugsweise abgedruckt in Krecker, M.: Quellen zur Geschichte der Vorschulerziehung. Berlin: Volk und Wissen 1983, S. 165-167)

Reble, A.: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart: Klett, 12. Aufl. 1975

Rudolstädter Lehrerversammlung: Bitte an die deutschen Regierungen und den Reichstag zu Frankfurt. Allgemeine Schulzeitung 1848, Spalte 1345-1348 (auszugsweise abgedruckt in Krecker, M.: Quellen zur Geschichte der Vorschulerziehung. Berlin: Volk und Wissen 1983, S. 170-173)

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de