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Zitiervorschlag

Aus: kindergarten heute spezial: Pädagogische Handlungsansätze von Fröbel bis zum Situationsansatz, Herder Verlag 1996, S. 22-29

Célestin Freinet. Aus dem Leben - für das Leben

Lothar Klein

 

Eine Geschichte: "Es war einmal ein Zwerg, der war 1,80 m groß. - D'rum war es auch kein Zwerg." - Ein Holzprodukt: "Das ist ein Schlitten mit Ofen und Fenster dran. Das Fenster kann man zumachen, wenn es zu kalt wird." - Ein Bild: "Das sind die zwei Gabis. So heißen unsere Erzieherinnen. Die zwei Gabis machen ein doofes Gesicht, weil die Kinder immer nicht hören, wenn die zwei Gabis sagen: Kommt her!" - Im Gruppenalltag: "Malt das Regal ruhig blau an. Wenn es uns nicht gefällt, gucken wir einfach nicht mehr hin." - Ein Zettel an der Eingangstür der Kita: "Es wird eine Plack Dock Figur mit Badmanschal vermisst! Belohnung: 1,50 DM. Bärengruppe: Christian. Danke!!"

Hier versuchen Kinder, die Welt um sie herum zu erfahren, zu verstehen und sie im eigenen Interesse zu gestalten. Sie gehen dabei auf Entdeckungsreisen. Kinder folgen, wenn sie können, ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen. Und in dem, was sie tun, stecken enorme Anstrengungen und Leistungen. Wir Erwachsenen können den Sinn und die Handlungsmotive, die hinter den Aktivitäten der Kinder stehen, nicht immer voll entschlüsseln. Freinet-Pädagogik will Kinder nicht bevormunden, will sie tasten, experimentieren, versuchen und selbst entdecken lassen. Modern ausgedrückt ist Freinet-Pädagogik ein kindzentrierter pädagogischer Ansatz, in dem Kindern zugehört und ihnen "das Wort gegeben" wird. Freinet-Pädagogik, fast 70 Jahre alt, passt also durchaus in unsere Zeit.

Célestin Freinet auf der Spur

Wer war Célestin Freinet? Freinet war Dorfschullehrer und französischer Reformpädagoge. Er lebte von 1896 bis 1966. In diesem Jahr wäre Freinet also 100 Jahre alt geworden. Sein pädagogischer Weg wurde maßgeblich durch einen Lungenschuss beeinflusst, den er sich 1916 im ersten Weltkrieg zuzog. Freinet war danach den Anforderungen des üblichen Frontalunterrichtes nicht mehr gewachsen. Er war deshalb gezwungen, nach Alternativen zu suchen. Wir stoßen hier auf bedeutsame Zusammenhänge: Freinets Vorgehensweise sollte vor allem ihn selbst entlasten und ihm helfen, in den Hintergrund zu treten. Folgerichtig löste er die gewohnte Unterrichtsform auf und bot den Kindern Möglichkeiten zur Selbsttätigkeit.

In der zweiklassigen Landschule von Bar-Sur-Loup in Südfrankreich entwickelte Freinet angeregt und unterstützt durch weitere Vertretern der Reformpädagik (Hermann Lietz, Peter Petersen, Maria Montessori u.a.) und in immer engerer Kooperation mit anderen französischen Lehrern aus der Praxis seit 1920 seine "Bewegung der modernen französische Schule" (école moderne). Diesen Namen sollte die Freinetbewegung fortan tragen. Als 1927 der erste Kongress der "école moderne" stattfand, gehörten ihr bereits 90 Schulen an. Heute existieren Arbeitsgruppen der Freinetbewegung in über 40 Ländern der Erde, seit 1964 auch in Deutschland.

Typisch für die Freinetpädagogik ist ihre Entstehung unmittelbar aus der Praxis. Freinet hat niemals aufgehört, selbst zu unterrichten. Eine pädagogische Richtung, die den Anspruch hat, das Kind in den Mittelpunkt zu stellen, "das Leben des Kindes, seine Bedürfnisse und seine Möglichkeiten" (Célestin Freinet: pädagogische Texte. Mit Beispielen aus der Arbeit nach Freinet. Hg. von H. Boehncke und C. Henning, Reinbek 1980, S. 26) zum Angelpunkt der Praxis zu machen, durfte seine Arbeitsmethoden nicht am grünen Tisch über die Kinder hinweg entwickeln. Eine solche Pädagogik musste seine Organisationsform, Arbeitsweisen, Methoden und Arbeitsmittel im Dialog mit den Kindern selbst finden. Das dauerte viele Jahre. Auch die Erzieherinnen, die sich Ende der 70er Jahre in Deutschland an der Pädagogik Freinets zu orientieren begannen, haben Jahre gebraucht, um Arbeitsmethoden zu entdecken, die in die Kindertagesstätte von heute passen. Dies geschah zunächst im Hort, später dann im Kindergarten und seit einiger Zeit auch in Gruppen mit erweiterter Altersmischung.

Was Freinets Veränderungen im Schulalltag betrifft, sind vielleicht die folgenden am eindrucksvollsten und sollen kurz beschrieben werden:

  • die Differenzierung der Lernumgebung: Im Zentrum des Klassenzimmers stehen, im Kreis oder Quadrat aufgestellt, nach wie vor die üblichen Schultische für alle gemeinsamen Aktivitäten (Klassenrat, Wochenplanung, Arbeit mit den "freien Texten" usw.). Um sie herum aber sind Arbeitsateliers (Werkstätten) gruppiert: Holz, Drucken, Töpfern, Kunst, Theater, Geographie und viele mehr (Anschaulich beschrieben in: Freinet 1980, S. 39ff. und in: Célestin Freinet: Die moderne französische Schule. Paderborn 19792, S. 66ff.). Wer eine Freinet-Klasse betritt, findet sich unvermittelt in einer reichhaltigen Arbeitsatmosphäre voller Leben. Zeitgleich arbeiten die Kinder parallel und, wie es scheint, ganz selbständig an sehr unterschiedlichen Aufgabenstellungen.
  • Die Individualisierung des Lernens: Woche für Woche stellt jedes Kind mit Hilfe des Lehrers seinen persönlichen Lern- bzw. Arbeitsplan auf und ist in eigener Verantwortung die Woche über damit beschäftigt. Auch die Lernweise ist individualisiert: Während die einen experimentieren, schreiben die anderen über den gleichen Sachverhalt eine Geschichte. Die dritten verarbeiten den Stoff vielleicht in einem Theaterstück.
  • Die Lebensnähe der Lerninhalte. Darin, den Kindern das Wort zu geben, sind Freinetpädagoginnen konsequent: Nicht allein die Erwachsenen denken sich Lehrbücher und Arbeitsmaterialien aus. Aus der Praxis heraus, in der Kommunikation mit Kindern und in großem Umfang von ihnen selbst erstellt, entstehen Arbeitskarteien, Dokumentensammlungen, Korrespondenzen mit anderen Schulen und Arbeitsbüchereien. Grundlage dafür sind die "freien Texte" und alle weiteren Ideen und Produkte der Kinder, denn in ihnen drücken sich Interessen und Bedürfnisse der Kinder aus. Auch Freinets Landschulheim in Vence, das 1934 seine Pforten öffnete, wurde konsequenterweise unter unmittelbarer Mitarbeit von Kindern und Lehrern erbaut.

Ist eine Schulpädagogik für die Kindertagesstätte geeignet?

Bei einem Vergleich unterscheidet sich die Grundschule des Jahres 1996 viel deutlicher von Freinets Landschule aus dem Jahre 1934 als die Kindertagesstätte von heute:

  • statt Jahrgangsklassen in der Grundschule stoßen wir in der Kindertagesstätte und bei Freinet auf Altersmischung,
  • anstelle arbeitsteiliger Fachlehrer - in beiden das Prinzip: eine Gruppe - eine Erzieherin (bzw. Lehrer),
  • statt konstruierter Lerngegenstände - in beiden Alltagsnähe und Bezug zum Leben der Kinder,
  • statt durch Erwachsene gelenkte und gesteuerte Arbeitsweise - in beiden die Freiheit der Wahl und die Möglichkeit, eigenen Rhythmen zu folgen.

Warum also nicht einen Blick über den Zaun auf die Freinet-Pädagogik werfen? Auch außerhalb der Kindertagesstätten-Landschaft entstehen gute Ideen.

Hinzu kommt, dass die nunmehr über 70 Jahre alte Freinet-Pädagogik über eine große Fülle ausgesprochen praxisnaher Arbeitsmethoden, Techniken und Gestaltungselemente verfügt, deren besonderer Vorteil darin liegt, dass sie ohne großen Aufwand überall und jederzeit auch in Kindertagesstätten verwirklicht werden können.

Vom Hunger nach Leben und Aktivität - Freinets Bild vom Kind

Üblicherweise wird die Freinet-Pädagogik vor allem mit der Einführung der Schuldruckerei in Verbindung gebracht. Auch um der darin liegenden Tendenz zu begegnen, pädagogische Ansätze auf ihre Techniken und Methoden zu reduzieren und sie von ihren Zielsetzungen und ihrem immanenten Modell von Kind-Sein abzulösen, zunächst ein Blick auf das Bild vom Kind bei Freinet.

"Da wir augenblicklich nicht behaupten dürfen, dass wir die Kinder sowohl methodisch wie wissenschaftlich so führen können, dass jedem von ihnen die ihm persönlich angepasste Erziehung zuteil wird, begnügen wir uns damit, ihnen ein ihre Interessen förderndes Milieu zu schaffen und ein entsprechendes Arbeitsmaterial und kindgemäße Techniken zu entwickeln, die ihre Bildung fördern, ihnen die Wege ebnen, auf denen sie je nach ihrer Veranlagung, ihren Neigungen und ihren Bedürfnissen weiterschreiten werden." (Freinet 19792, S.16).

Aus Freinets anfänglicher Not wurde im Laufe der Jahre eine Tugend. Heute lese ich diese Zeilen so: Erwachsene sollten sich davor hüten, für Kinder bzw. an deren Stelle, Bedürfnisse und Interessen zu formulieren. Kinder können dies nämlich sehr wohl selbst. Freinetpädagoginnen "begnügen sich" daher mit der Gestaltung einer anregenden Entwicklungsumgebung und trauen den Kindern, wie Freinet selbst, sehr viel Eigenaktivität im Entwicklungsprozess zu:

  • Kinder sind in der Lage, eigene Bedürfnisse zu erkennen, auszudrücken und handelnd zu bewältigen. Sie sind stets angefüllt mit Erlebnissen, Erfahrungen und auch Handlungsideen. "Das Kind ist hungrig nach Leben und Aktivität." schreibt Freinet (1980, S. 2). Und tatsächlich liegt das Problem eher bei dem Erwachsenen, der dem, was Kinder tun, nur schwer zweckfrei gegenüber treten kann. Meist ist er geneigt, kindliches Tun an in der Zukunft liegenden Zielvorgaben zu messen und deshalb vor allem nach Defiziten zu suchen, woraus er schließlich die eigene Bedeutung ableitet. Freinetpädagoginnen nehmen das, was Kinder tun, als Ausdruck ihrer augenblicklichen genuinen Bedürfnisse wahr und mäkeln nicht daran herum. Sie erlauben Kindern im Jetzt und Hier zu sein und darin vor allem die Größe der eigenen Persönlichkeit statt noch vorhandener Defizite zu erleben. Schattenseiten und Mängel entdeckt das Kind sowieso von selbst. In welcher Weise und zu welchem Zeitpunkt ihre Überwindung ansteht, bleibt im Entscheidungsprozeß des Kindes. Die Kraft dafür schöpft es aus dem Selbstbewusstsein, das entsteht, wenn das Kind Respekt erfährt.
  • Das Kind ist selbst Akteur seiner Entwicklung: "Das Kind muss sich selbst erziehen, sich selbst bilden, mit der Hilfe der Erwachsenen. Wir versetzen die Achse der Erziehung: im Zentrum der Schule steht nicht mehr der Lehrer, sondern das Kind. Es geht nicht mehr um die Vorlieben und die Bequemlichkeit des Lehrers: das Leben des Kindes, seine Bedürfnisse, seine Möglichkeiten sind der Angelpunkt unserer Erziehung." (Freinet 1980, S. 25). Ist das Kind in seinen Entscheidungen frei und spiegelt sich im Lerngegenstand sein Leben wieder, so besitzt es ausreichend Eigeninitiative, um in tastenden Versuchen entdeckend voranzuschreiten. Es ist dabei auch in der Lage, seinen persönlichen Rhythmus zu finden und ihm zu folgen. Die Hilfe der Erwachsenen besteht darin, dem Kind einen Entwicklungsraum bereit zu stellen, der es ihm ermöglicht, "diesem Drang nachzugehen." (Freinet 1980, S. 28).
  • Kinder besitzen die Fähigkeit zur Verantwortung: "Das Kind, dem man Aktivitäten anbietet, die seinen physischen und psychischen Bedürfnissen entsprechen, ist immer diszipliniert, d.h. es hat weder Regeln, noch äußere Verpflichtungen nötig, um alleine oder in Kooperation mit anderen auch einer anstrengenden Arbeit nachzugehen." (Freinet 1980, S. 38). Es ist "die Verantwortung für die bestmögliche Sinnerfüllung in jeder einzelnen Situation" (P. Teigeler: Freinet-Pädagogik, psychologische Lernmotivations-Theorie und Viktor E. Frankls "Wille zum Sinn". In: Hellmich/Teigeler (Hrsg.): Montessori-, Freinet-, Walldorf-Pädagogik. Konzeption und aktuelle Praxis. Weinheim 1992, S. 139), die das Kind dann spürt, wenn seine Tätigkeit eigenen Triebfedern entspringt, wenn es nicht von außen gelenkt wird, sondern aus eigenem Antrieb und eigenen Zielen folgend handeln kann.

Entdeckendes Lernen und tastende Versuche - Das Bild vom Lernen bei Freinet

"Wenn Sie das Kind etwas lehren, so hindern Sie es daran, es selbst zu entdecken. Sie stiften Schaden.", soll Jean Piaget einmal gesagt haben (J. Piaget, zitiert im Kommentar zum Videofilm: "Der sich nicht bewegt, bleibt sitzen", Deutscher Verein Frankfurt, Materialien zur sozialpädagogischen Praxis MSP, Nr. 24). Diese Worte könnten auch von Freinet stammen. Nach seinem Verständnis be-arbeiten Kinder Dinge und Erfahrungen bevor sie sie verarbeiten. Von der Hand in den Kopf ist der Weg. Wie bei allen wichtigen Vertretern der Reformpädagogik der 20er und 30er Jahre finden wir auch bei Freinet die Hinwendung zum selbständigen Tätigsein der Kinder. Freinet unterscheidet zwischen "Travail-jeu", der Arbeit mit Spielcharakter und "Jeu-travail", dem Spiel mit Arbeitscharakter.

Als Arbeit mit Spielcharakter sieht Freinet alle Ernstsituationen im Alltag und im Leben der Kinder an, etwa den Bau eines Baumhauses oder das Fegen der Straße, den Bau eines Hasenstalls, eines Schwertes oder eines Schiffes, die Reparatur des Fahrrads, das Töpfern einer Tasse, das Malen eines Bildes oder der Aushang einer Suchanzeige wie im Vorspann. In all diesen Tätigkeiten verfolgt das Kind einen bestimmten Zweck. Spiele mit Arbeitscharakter sind alle übrigen spielerischen Betätigungen, bei denen nicht das Endprodukt der Zweck des Handelns ist. Auch diese Spiele (etwa die Rollen- oder Tischspiele) haben aus der Sicht des Kindes etwas Ernsthaftes an sich und sind im Freinetschen Verständnis daher mit Arbeit verwandt.

Für mich liegt hierin noch eine weitere Komponente: In unserem Erwachsenendenken und unserem Sprachgebrauch steht der Wert der Arbeit im allgemeinen über dem Wert des Spieles. Sprechen wir also davon, dass Kinder arbeiten, so drücken wir damit auch unseren Respekt gegenüber ihrer Leistung, ihres Bemühens, ihres Ideenreichtums, ihrer Kreativität, ihrer Tätigkeit überhaupt aus. Das alles fordert wohl auch der 4jährige Mariano, der in der Holzwerkstatt danach befragt, was er denn tue, die folgende Antwort gibt: "Ich mache kein Spielzeug. Ich mache etwas Interessant."

Selbstverständlich lehnte Freinet jede Form der Ausbeutung von Kinderarbeit ab. Man darf also den Freinetschen Begriff der Arbeit getrost mit positiven Gefühlen besetzen.

Freinet verstand Entwicklung niemals als Einbahnstraße vom Niederen zum Höheren. Er gestand vielmehr jedem Kind seinen eigenen Rhythmus, seine eigenen Wege und Umwege zu. Es ist ein ständiges Probieren, Experimentieren, Versuchen mit den vorhandenen Möglichkeiten, den Kräften, dem Material, dem Werkzeug sowie dem sozialen Gefüge, in das das Arbeiten eingebettet ist. Fehler und Rückschläge sind selbstverständlich einkalkuliert. Kinder trachten jedoch von selbst immer wieder aufs Neue nach Perfektionierung, wenn auch nicht unmittelbar und auch nicht gemessen an den Vorgaben der Erwachsenen. Indem sie tastend experimentieren, geben sie ihrem Handeln einen persönlichen Sinn und bewerten es nach eigenen Maßstäben. Daran wachsen sie.

Auch in Kindertagesstätten finden sich daher viele verschiedene Arbeitsmöglichkeiten: Holzwerkstätten, Töpfereien, Druckereien, Künstler-, Handarbeits-, Medien-, Technik- oder Hausarbeitsateliers. Kinder können in Gärten, Küchen, Büchereien oder Waschküchen arbeiten. Die Wiederentdeckung des Alltags als pädagogischer Größe ist auch ein Verdienst der Freinet-Pädagogik. Kinder beteiligen sich an Verpflegungs- oder Versorgungsaufgaben. Sie verwalten Geld, bedienen das Telefon oder organisieren Reparaturen. Wenn sie anderen etwas mitteilen wollen, so hängen sie Zettel aus schreiben Briefe oder Mitteilungen. Sie organisieren Flohmärkte, Discos oder Kaffeekränzchen, laden Freunde ein und führen selbst Dokumentensammlungen, in denen vorhanden ist, was für die Bewältigung des Alltags gebraucht wird: Fahrpläne, Öffnungszeiten diverser Einrichtungen, Fotos, Briefe, Telefonnummern und andere Dinge, die aufgehoben werden sollen.

Freinet sieht in den Produkten der Kinder die "Veräußerlichung dessen, was im Kind ist." (H. Jörg, Hrsg.: Praxis der Freinet-Pädagogik. Paderborn 1981, S. 54). Unter "Produkten" versteht Freinet alle Ergebnisse kindlicher Tätigkeit. Ist der innere Reichtum erst einmal veräußerlicht, geht das Kind oft bereits einen Schritt weiter, denkt über Verbesserungen nach und beginnt deshalb von Neuem zu experimentieren und zu tasten. Das Lernen wird gelebt. Nicht künstlich geschaffene Lernmaterialien und Inhalte spornen das Kind an, sondern die Bewährung im wirklichen Leben. Für den Erwachsenen bedeutet dies, dass er einerseits teilhaben muss am Leben der Kinder und andererseits Kinder am Leben der Erwachsenen beteiligen muss. Das ist leichter gesagt, als getan. Denn Erwachsene, zumal pädagogisch ausgebildete, nehmen sich und ihre Zukunftsvorstellungen viel zu ernst. "Wozu sind wir denn eigentlich noch da, wenn die Kinder soviel ohne uns tun?", fragen besorgte Erzieherinnen?

"Es geht nicht um die Vorlieben des Lehrers" - Die Rolle der Erzieherin

Werfen wir deshalb nun einen Blick auf das pädagogische Verhältnis. Kinder entwickeln sich selbst, mit der Hilfe der Erwachsenen, schreibt Freinet. Worin besteht diese Hilfe?

Die pädagogische Verwandtschaft mit Maria Montessori ist offenkundig. Auch in der Freinet-Pädagogik helfen die Erwachsenen den Kindern vor allem darin, "es selbst zu tun". Die Aufgabe der Erzieherin besteht darin, zugewandt am wirklichen Leben der Kinder teilzunehmen, ihnen zu helfen, sich auszudrücken, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und sie dabei unterstützend zu begleiten. Erwachsene sind also Entwicklungsbegleiter der Kinder und als solche unverzichtbar.

Eine wesentliche Grundlage in diesem Verhältnis ist die mit dem Alter zunehmende Wahlfreiheit auf Seiten der Kinder. Erwachsene können Kindern bestimmte Wege weisen. Ziel ist aber, die Kinder darin zu unterstützen, selbst zwischen den Möglichkeiten zu wählen und sich schließlich zu entscheiden, ob sie dies oder jenes ausprobieren möchten. Die Ziele und Vorstellungen der Erzieherin fließen zwar in das pädagogische Verhältnis ein, das Kind aber kann - seinem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechend - die freie Wahl zwischen den Möglichkeiten treffen. Es darf Erwachsene durchaus abweisen.

Für die pädagogische Planung bedeutet dies, dass die Erzieherin, abgesehen von der Verantwortung für den äußeren Rahmen und die Sicherheit der Kinder, jeweils erst konkret herausfinden muss, wo und ob sie überhaupt gebraucht wird. Im Dialog mit den Kindern tastet auch sie sich vor und lässt den Kindern Raum und Zeit, sich auszudrücken und mitzuteilen. Fragt eine Freinet-Erzieherin ein Kind um Rat, so tut sie dies, weil sie ernsthaft daran glaubt, dass das Kind einen Rat weiß. Sie weiß beispielsweise, dass Kinder ihr Zusammenleben selbst regeln können und meistens die besten Ideen für die Erfindung von Regeln haben.

Erzieherinnen sind darauf angewiesen, Kindern zuzuhören um sie richtig zu verstehen. An dieser Stelle entdecken wir nun auch die Nähe zur Pädagogik Reggio Emilias. "Verliert das Kind jemals die Lust, sein ganzes inneres Wesen durch Sprache mitzuteilen? Wird es je müde, sich durch Zeichnungen auszudrücken, solange es frei malen kann?" (Freinet 1980, S. 31). Diese Fragen stellte Freinet im Zusammenhang mit der Einführung der Schuldruckerei und der "Freien Texte" schon 1929. Den Kindern das Wort zu geben, ihnen zu ermöglichen, sich in ihren Sprachen auszudrücken und auf dieser Grundlage in einen Dialog mit den Erwachsenen zu treten, das alles hört sich modern an und ist es auch.

Ich habe weiter vorne den Zusammenhang zwischen Freinets Verwundung und der Entstehung seiner Methoden betont. Ich tat dies auch, um deutlich zu machen, dass Freinet-Pädagogik den Erwachsenen tatsächlich entlastet. Indem er sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt und sparsam mit Pädagogik umgeht, begreift er sich auch nicht mehr alleine für alles verantwortlich. Es ist z.B. nicht mehr nur er zuständig für alle möglichen Disziplinfragen. Er muss sich auch nicht mehr zu jedem Zeitpunkt an die ganze Gruppe wenden, weil die Kinder in freier Entscheidung ganz unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehen. Er kann die Unterschiede, die die Kinder dabei zeigen, wahrnehmen und sich mehr auf die besonderen Hilfen konzentrieren, die einzelne Kinder brauchen. Freinet-Pädagogik hat eben auch die Individualisierung von Entwicklung und Unterstützung zum Ziel.

Vier Prinzipien und drei Entwicklungsrichtungen - Freinet-Pädagogik in einem Bild

Zusammenfassend könnte folgendes Bild gezeichnet werden. Ein Dreieck, das bestrebt ist, stets in der Balance zu bleiben, soll die Entwicklungsrichtungen symbolisieren, in welche sich Kinder bewegen. Die Größe des Dreiecks entspricht dabei dem jeweiligen Entwicklungsstand des einzelnen Kindes. Es wächst also. Als Entwicklungsrichtungen wären zu nennen:

  • Die zunehmende Unabhängigkeit vom Erwachsenen, die wachsende Selbständigkeit und Autonomie: Das bin ich, das will ich.
  • Die wachsende Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse handelnd zu befriedigen, der Erwerb von Kompetenz und Handlungsfähigkeit, die Fähigkeit, selbst gestaltend tätig und produktiv zu sein: das kann ich.
  • Die zunehmende Fähigkeit, in Gemeinschaft mit anderen zu handeln, das Erleben von Gemeinsamkeit und Kooperation, die Ausdifferenzierung sozialer Verhaltensweisen: das tue ich gemeinsam mit anderen.

Das Kind versucht beständig, diese drei Seiten zu entwickeln. Dabei muss es immer wieder ein Gleichgewicht der drei Seiten erreichen, sonst kommt unser Dreieck ins Schwanken.

Der Rahmen, in dem das Entwicklungsdreieck wächst, der Entwicklungsraum, ist in der Freinet-Pädagogik durch vier Prinzipien bestimmt:

  • Die Freiheit der Wahl: Die Kindertagesstätte, die sich an Freinet orientiert, ist grundsätzlich ein offenes Haus. Alles ist frei zugänglich und auch ohne Erwachsene jederzeit benutzbar. In der Kindertagesstätte setzt dies eine bestimmte Organisationsform voraus. Wer beispielsweise in einer Werkstatt arbeiten möchte, muss vorher ein "Werkstattdiplom" machen. Dafür sind drei Leistungen zu erbringen: die Teilnahme an einer Werkstattgruppe, die Herstellung irgendeines Produktes und die Einhaltung der dafür notwendigen Sicherheits- und Verfahrensregeln. Dies gilt - wie übrigens für alle Regelungen - gleichermaßen für Erwachsene wie für Kinder. Auch ein Erwachsener darf sich ohne Werkstattdiplom keinen Nagel aus der Holzwerkstatt holen. Kinder übernehmen auch ansonsten soweit wie möglich die Verantwortung für die Gestaltung ihres Tagesablaufes. Sie reden mit bei Anschaffungen oder Veränderungen. Bei Einschränkungen von Freiheit werden Kinder grundsätzlich beteiligt. Regelüberschreitungen werden von Erzieherinnen als Signal dafür begriffen, dass Kinder am derzeitigen Zustand etwas verändern möchten.
  • Die Verantwortung: Freiheit verlangt ein Mehr an Entscheidungen. Dafür sind Kriterien notwendig. Wer entscheidet, übernimmt auch die Verantwortung für seine Entscheidung. Kindern diese Verantwortung zu überlassen, fällt Erwachsenen oft nicht leicht. Sie glauben bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung die Folgen zu übersehen. Sie weisen darauf hin und nehmen den Kindern damit die Verantwortung ab. Verantwortung entsteht jedoch dort, wo Kinder Entscheidungen treffen können, die auch Folgen haben. Dies geschieht zum Beispiel, wenn ein Kinderrat einen Zahnpastatest beschließt, der festlegt, welche Zahnpasta gekauft wird, wenn der gleiche Kinderrat "Kletterregeln erfindet", wenn er unter Kindern eine Umfrage zum Essen durchführt und eine "Kinderrats-Essens-Woche" festlegt. Verantwortung tragen Kinder auch, wenn sie Regelverletzungen von Erzieherinnen (niemand sage, es gäbe sie nicht!) ahnden können.
  • Der Sinn: Hierin liegt die motivierende Kraft, die für Entwicklung aufgebracht werden muss. Entwicklung ist immer auf die Überwindung von Begrenzungen gerichtet. Um diese Mühe auf sich zu nehmen, muss etwas jenseits dieser Grenzen "als Belohnung" winken. Dies kann etwas Äußerliches sein, etwa ein Lob der Erwachsenen. Es kann aber auch in der persönlichen Sinnerfüllung liegen. Eben darin liegt die Ursache dafür, wenn Kinder nicht nachlassen in ihrem Bemühen um Selbstentwicklung. Sinn ist aber nicht nur einfach da. Erst im Handeln entsteht Sinn, verändert und festigt sich schließlich. Was innen ist, muss nach außen und wird im Tun in irgend einer Form Teil der realen Wirklichkeit. Kinder handeln im wahrsten Sinne des Wortes sinnstiftend, wenn sie dabei nicht von Erwachsenen mit deren Wert-, Ziel- und Moralvorstellungen überschüttet werden. Freinetpädagoginnen halten sich daher im Bewerten sehr stark zurück. So waren weder das "Fünffachschwert", noch der "Schlitten mit Ofen und Fenster dran", noch das "Propeller-Segel-Doppelboot" oder "Meister Eders Sternguckerbank" von Beginn an als solche geplant und sind vom handwerklichen Standpunkt aus alles andere als stabil, funktional oder perfekt. Erst im Verlauf der freien Tätigkeit, des Hantierens mit Material und Werkzeug, des Experimentierens und Versuchens gaben die Kinder ihrem Tun und ihren Produkten einen Sinn und letztendlich auch einen Namen. Auch dem dreijährigen Taifun geht nicht anders, wenn er "für drei Geld" ein Bild verkauft, das er mit "Monster" betitelt.
  • Der Bezug zum Leben, der Alltag: Sinn entsteht dort als leitendes Prinzip, wo sich Kinder nahe am wirklichen Leben entwickeln können. Sie sehen in der Kindertagesstätte durchaus keinen pädagogischen Raum, in dem es vor allem um irgendwelche hehren Ziele geht. Für sie ist die Kita mit ihren Möglichkeiten für die Bedürfnisbefriedigung schlicht benutzbar oder nicht. Auf der Suche nach nützlichen Gegenständen und Räumen durchforsten die das Haus und seine Umgebung immer wieder aufs Neue. Mit wechselndem Alter erschließen sich ihnen dabei ständig neue Nutzungsmöglichkeiten. Sie arbeiten im Garten, gehen mit Rohrzangen an Abflüsse und wundern sich über den Inhalt, ölen knarrende Türen, bauen Kaninchenställe, drucken ein "Liebes-Sex-Buch", mikroskopieren kleine Dinge, züchten Spinnen, führen einen "Herbstputz" durch, organisieren Discos, besuchen das Büro und spielen Leiterin-Sein, schnippeln Karotten, waschen Wäsche, erkunden bislang unbekannte "Gegenden" wie den Heizungsraum, bauen sich in Hecken Höhlen, machen dann und wann ein Lagerfeuer. Sie laden ihre Lehrer oder Schulfreunde ein. Sie saugen, fegen, gießen Blumen, putzen, wischen, kochen, backen, legen Wäsche zusammen, reparieren oder helfen dabei, nehmen alte Elektrogeräte auseinander und besehen sich deren Innenleben. Sie schreiben Briefe, rufen beim Kino wegen der Öffnungszeiten an, veranstalten jede Menge Flohmärkte oder machen Telefondienst im Büro. Die Möglichkeiten sind unendlich. Auch am Leben der Erzieherinnen sind sie brennend interessiert. So begleiten sie diese zum Frisör, zum Einkauf oder zum TÜV. Es ist durchaus gewollt, dass auch Erzieherinnen "private Dinge" erledigen und Kinder daran teilhaben lassen.

Der praktische Reichtum der Freinet-Pädagogik

Der besondere Wert der Freinet-Pädagogik liegt sicher auch in den praktischen Elementen, die über Jahre hinweg mit den Kindern gemeinsam er- und gefunden, ausprobiert, verworfen, verändert wurden und sich schließlich bewährt haben. Es ist nicht möglich, sie alle in diesem Artikel zu beschreiben. Ich begnüge mich deshalb damit, sie in Verbindung mit den genannten Entwicklungsrichtungen, die sie vor allem unterstützen sollen, zu nennen:

  • Selbständigkeit: offenes Haus, Wochenpläne, Abmeldetafeln, Dokumentensammlungen, Wahlfreiheit, jederzeit zugängliches Material und Räume, Anreize zu selbständigem Tasten und Versuchen im Alltag (Ausleihbücher, Reparaturen, verschiedene Ämter, freiwillige Dienste etc.), Organisationsformen, die eine selbständige Nutzung unterstützen wie die Werkstattdiplome.
  • Gemeinsamkeit: Gruppenbesprechungen und Wandzeitungen (dafür müssen Kinder nicht schreiben können!), Kinderrat, Werkstatträte, Gruppentagebücher, Freizeiten usw.
  • Produktivität: Reparaturbücher, Werkstätten und Werkstattdiplome, Einbeziehung von allerlei Alltagsverrichtungen, Arbeitsbesprechungen, Erfindergruppen, Projekte usw.

Grenzen der Freinet-Pädagogik?

Freinet-Pädagogik ist ursprünglich mit Schulkindern entstanden. Viele Elemente sind auf das Alter zwischen etwa fünf und neun Jahren zugeschnitten. Ich wollte deutlich machen, dass Freinet-Pädagogik aber mehr ist, als bloß eine Sammlung brauchbarer Techniken und Methoden. Die pädagogischen Haltungen, die sich in diesem Ansatz finden, sind allemal für jede Altersstufe gültig. Es wäre daher spannend, eine Herausforderung, aber auch typisch für die Freinet-Pädagogik, nun einen Schritt weiter zu gehen und auf der Grundlage kindzentrierter Grundhaltungen auch Methoden für zwei oder 12jährige zu entwickeln. Immer mehr stoßen wir heute denn auch in Kindergärten oder Familiengruppen mit erweiterter Altersmischung auf Freinetsche Arbeitsweisen. Und es zeigt sich bereits jetzt, dass sie sich modifiziert auch mit jüngeren oder älteren Kindern bewähren. Im übrigen: Ein Kind muss nicht die Schrift beherrschen, um sich ausdrücken zu können, wie das abschließende Beispiel eines Wandzeitungszettels für die Gruppenbesprechung zeigt, auf dem sich ein Fünfjähriger wieder einmal Pizza wünscht.

Autor

Lothar Klein
balance - Forum für Freinet-Pädagogik
Köpfchenweg 24
65191 Wiesbaden
Tel.: 0611/1899444
Website: www.balance-freinet-paedagogik.de/
Email: [email protected]

Freiberuflicher Fortbildner. Veröffentlichungen u.a.:

  • Klein, Lothar/ Vogt, Herbert: Freinet-Pädagogik in Kindertageseinrichtungen. Entdeckendes Lernen und vom "Hunger nach Leben". Freiburg, Herder Verlag 1998
  • Klein, Lothar: Mit Kindern Regeln finden. Freiburg, Herder Verlag 2000
  • Klein, Lothar/ Vogt, Herbert: Leben in der Familiengruppe. Ein Praxisbuch über die große Altersmischung. Freiburg, Lambertus-Verlag 1995 (Neuauflage 2002)
  • Klein, Lothar/Vogt, Herbert: Erzieherinnen im Dialog mit Kindern. Wie Partizipation im Kindergarten aussehen kann. In: Büttner, Christian/Meyer, Bernhard (Hrsg.): Lernprogramm Demokratie. Möglichkeiten und Grenzen politischer Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Weinheim und München, Juventa-Verlag 2000, S. 89-109