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Zitiervorschlag

Neue Wege braucht die Elternarbeit. Eine erste Orientierung

Manfred Hofferer und Renate Fanninger

 

Einleitung

Fragen wir danach, was sich an den Lebensbedingungen, dem Erleben und Verhalten der Kinder verändert hat, so kann jeder Versuch der Beantwortung ob der fundamentalen Veränderungen nur unvollständig bleiben. Die Veränderungen beziehen sich nicht nur auf den gesellschaftlich-kulturellen, technischen oder wirtschaftlichen, sondern vor allem auf den familiären Bereich. Betrachtet man den Wandel der letzten 50 Jahre, so lassen sich folgende Tendenzen ausmachen: Berufstätigkeit beider Elternteile (in letzter Zeit jedoch immer stärker durch die hohe Trennungs- und Scheidungsrate und durch die hohe Zahl alleinerziehender Elternteile eingeschränkt), Verarmung der intrafamiliären und extrafamiliären Beziehungen und Bindungen, zunehmende Erschwernis für Kinder, freundschaftliche Beziehungen zu Gleichaltrigen in ihrem sozialen Nahraum aufnehmen zu können, Unsicherheiten der Eltern im erzieherischen Verhalten, hohe materielle Ansprüche bei sehr unterschiedlichen finanziellen Vorraussetzungen in den Familien, u.v.a.m. Offen bleibt die Frage, wie sich diese Veränderungen in psychischen Störungen widerspiegeln und welche Auswirkungen sie insbesondere auf das Verhalten von Kindern im Kindergarten haben und was der Kindergarten dagegen tun kann.

Auch der Kindergarten hat sich verändert und dabei zeigt sich - neben ganz wenigen Ausnahmen - eine deutliche Tendenzen in der Richtung, dass die Wahrnehmung des erzieherischen und entwicklungsfördernden Auftrags des Kindergartens zugunsten eines dem Trend der Zeit folgenden Erlebnis-, Action- und Funangebotes (Überforderung der Kinder mit nicht altersentsprechenden Angebots- und Problemstellungen) stark eingeschränkt wurde. Damit verbunden ist auch der Umstand, dass Kindern mit speziellen Ausgangslagen; chronischen Erkrankungen, Lern- und Leistungsstörungen, MCD, Entwicklungsrückständen, psychischen Belastungen etc. wieder mit immer weniger Rücksichtnahme und Angebot begegnet wird.

Und schließlich muss angemerkt werden, dass sich auch im Spektrum der körperlichen und seelischen Erkrankungen Veränderungen eingestellt haben. D.h., dass der Kindergarten immer häufiger mit chronisch-körperlichen Beschwerden (Asthma, Stoffwechselstörungen, Diabetes mellitus, ADHD, ADS oder MCD-Kinder) konfrontiert ist.

Auch bestimmte psychische Erkrankungen und Störungen haben zugenommen. Damit sind vor allen solche Auffälligkeiten und Störungen gemeint, die sich unter der Bezeichnung psychosoziale Störungen (Störungen des Sozialverhaltens, depressive Störungen, Angststörungen etc.) zusammenfassen lassen. Die Zunahme der psychosozialen Störungen läuft parallel zu der o.a. Entwicklung im familiären Bereich. Zur Lösung der sich daraus ergebenden Probleme braucht es nicht nur wieder eine grundsätzliche Diskussion über den Stellenwert und die Aufgaben des Kindergartens sondern auch über die Entwicklung neuer Konzepte, sondern auch die intensivere Zusammenarbeit zwischen Kindergarten, Eltern und verschiedensten Spezialisten, wobei aber gerade die Elternarbeit eine entscheidende Rolle spielt.

Nachdem unterschiedlichste Früherfassungs- und Präventionskonzepte zur Vorbeugung manifester Verhaltensstörungen in der frühen Kindheit nicht wirklich greifen, ist der Kindergarten nach wie vor die erste wirkliche Anlaufstelle für Eltern, in der sie sich mit Erziehungs-, Bildungs- und Entwicklungsfragen auseinandersetzen können. Das stellt in der Regel auch kein Problem dar, da die Elternarbeit im Kindergarten eine lange Tradition besitzt und sehr gut entwickelt ist. Aber gerade im Zusammenhang mit "Problemkindern" gibt es zur Zeit keine wirklich greifbaren Konzepte der Elternarbeit. D.h. konkret, dass es nicht mehr genügt, einzelne Elterngespräche abzuhalten, Elternabende zu organisieren oder zu verschiedenen Themen Fachreferate anzubieten. Vielmehr geht es heute um die aktive Einbeziehung der Eltern mit Problemkindern.

Erste Untersuchungsergebnisse

Das Institut für Kommunikationspädagogik arbeitet seit mittlerweile drei Jahren an dem Projekt Kindergarten-Assistenzpraxis (Eine erste Publikation zu dieser Arbeit finden Sie u.a. unter: http://bidok.uibk.ac.at/texte/hofferer-kindergarten.html). Im Zeitraum September 1998 bis September 1999 wurden drei Kindergärten mit insgesamt 15 Kindergruppen (435 Kinder) betreut. In der Zeit wurden auf Anfrage der Kindergärtnerinnen in insgesamt 170 Beobachtungsstunden 184 (42,29%) Kinder untersucht und insgesamt wurden 108 Elternberatungsgespräche geführt.

Nachstehend sind zwei typische Beispiele vorgestellt, wie die Kindergärtnerinnen vor einer Beobachtung die Kinder beschreiben.

Beispiel 1:

  • N. (Bub) 00.00.1995, in Rom geboren.
    Seit Oktober 1999 bei uns, wuchs in Rom auf, war dort vom 1. bis zum 4. Lebensjahr im Kindergarten.
  • Sprachenbabylon: Vater Schweizer, Mutter Brasilianerin, beide Eltern sind berufstätig, viel unterwegs, Mutter möchte die Scheidung, sehr belastende Familiensituation.
  • War im letzten Jahr bei Fr. F. SI-Therapeutin auf unser Anraten in Behandlung, Therapie wurde seitens der Therapeutin beendet, in diesen Tagen findet ein Gespräch zwischen Mutter, Therapeutin und portugiesisch sprechender Kinderärztin statt.
  • Kaum inneres Gleichgewicht oder innere Ruhe, ungeübter Gang, schlaffe Körperhaltung, wenig differenzierte Bewegungsabläufe und Bewegungskontrolle.
  • Schlechtes Einschätzungsvermögen und Körperbeherrschung, nimmt wenig differenziert wahr, mangelnde soziale Integration innerhalb der Gruppe.
  • Es gibt Momente, in denen N. sehr ausdauernd und konzentriert arbeitet (Puzzles)
  • "streunt" viel herum, wirkt orientierungslos, Bewegungen wirken schwerfällig - "patschert".
  • Braucht Motivation und Unterstützung um tätig zu werden.
  • Stark beeinträchtigt in akustischer Wahrnehmung.
  • Sprachlicher Ausdruck: schwer verständlich "nuschelt".
  • Hat immer wieder Phasen, dass er nicht in den Kindergarten kommen will, ist er da, wirkt er nicht unglücklich, aber auch nur sehr selten wirklich gelöst oder fröhlich
  • Malt, zeichnet sehr gerne.

Beispiel 2:

  • N. (Mädchen) 00.00.95
  • Seit September 1998 bei uns
  • Eltern sind geschieden, S. lebt bei der Mutter und deren Lebensgefährten, Baby kam vor einer Woche zur Welt
  • Herzoperation mit 5 Monaten
  • Diverse Lebensmittelallergien
  • Ständig verkühlt, Ohrenentzündungen, hört im Moment deshalb schlecht.
  • Findet kaum selbstständig zu Tätigkeiten
  • Kaum Kontakt zu anderen Kindern

Von den 184 untersuchten Kindern können nach der Untersuchung 29,89% (55) eindeutig dem Problembereich multipler Entwicklungsrückstand zugeordnet werden (ICD-10, F 82, F 83, F 84). Dabei ist im Durchschnitt von einem Rückstand im Ausmaß von 6 bis 12 Monaten auszugehen. 44,02% (81) der Kinder zeigen mittelschwere Störungen im sozial-emotionalen Bereich (ICD-10, F 63, F 91 und F 93) und 10,86% (20) zeigen Probleme ob einer Trennungssituation der Eltern (ICD-10, F 43, F51.2, F 98). Bei 8,69% (16) der Kinder wurden eindeutige Verwahrlosungserscheinungen (ICD-10, F 83) sichtbar. Nur bei 6,52% (12) der untersuchten Kinder konnten keine bemerkenswerten Auffälligkeiten festgestellt werden. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass Kinder mit ausgewiesenen Intelligenzminderungen oder anderen eindeutigen Behinderungen sowie hyperaktive Kinder nicht in die Untersuchung einbezogen wurden, da diese Kinder in der Regel schon eine sonderpädagogische Zusatzbetreuung und Behandlung erhalten.

Ordnet man die o.a. einzelnen Störungsbereiche der Kategorie "Behandlungsbedürftigkeit" (mit den Unterkategorien "[1] dringend behandlungsbedürftig, [2] behandlungsbedürftig und [3] notwendige weitere Beobachtung") zu, so verteilen sich die Ergebnisse folgendermaßen:

Entwicklungsrückstand (55): [1]=27 Kd., [2]=20 Kd., [3]=8 Kd.
Sozial-emotionale Probleme (81): [1]=30 Kd., [2]=29 Kd., [3]=22 Kd.
Trennung und Scheidung (20): [1]=16 Kd., [2]=3 Kd., [3]=1 Kd.
Verwahrlosung (16): [1]=5 Kd., [2]=10 Kd., [3]=1 Kd.

D.h., dass 45,34% der untersuchten Kinder dringend, 36,04% zumindest Behandlungsbedürftig sind und immerhin noch 18,60% ob der kritischen Entwicklung weiter beobachtet werden sollten. Schließt man auf die Gesamtkinderzahl (N=435) zurück, so wird deutlich, dass bei zumindest 39,53% der Kinder Probleme auftreten ([1]=17,93%, [2]=14,25%, [3]=7,35%).

Ergebnisse der ersten Kontrolluntersuchung

In einer ersten Kontrolluntersuchung, die wir im September 1999 in einem per Zufall ausgewählten Kindergarten (4 Gruppen mit 91 Kindern) durchgeführt haben, konnte das Ergebnis der vorausgegangen Erhebung bestätigt werden. D.h., dass (zumindest in Wien) damit gerechtet werden muss, dass bei rund 40% der Kinder im Kindergartenalter mehr oder weniger stark ausgeprägte Probleme auftreten. Die Ergebnisse sind nicht wirklich überraschend und bestätigen die internationalen Trends. Das Interessante dabei ist jedoch die Frage, wie die Kindergartenpädagoginnen mit dieser zunehmend belastenden Situation umgehen. Derzeit konnten wir keine entsprechend gezielten oder wirksamen Maßnahmen von Seiten des Kindergartens feststellen.

Zwischenbericht: Teambesprechungen

Die Ergebnisse der die Untersuchung der Kinder begleitenden Besprechungen mit den verantwortlichen Pädagogen zeigen deutlich, dass es den Kindergärtnerinnen und Kindergärtnern (eine verschwindende Minderheit) große Probleme bereitet die Problemlage und -situation der Kinder rechtzeitig zu erkennen, richtig einzuschätzen und gegebenenfalls anzusprechen bzw. in der Folge einen entsprechenden Rahmen zu finden und zu gestalten, um adäquat auf die Problemsituation des Kindes und seiner Familie einzugehen. Das führt in der Regel immer noch dazu, dass

  1. wider aller Vernunft zugewartet und das Problem negiert und
  2. krampfhaft versucht wird, das Kind "irgendwie" (still) zu halten und in die Gruppe zu integrieren, oder aber
  3. diese Kinder werden mit unterschiedlichsten Begründungen aus den Gruppen genommen (rück- oder querversetzt, oder an andere Kindergärten abgegeben) wodurch sich die Ausgangslage für eine mögliche Behandlung deutlich verschlechtert.
  4. Und schließlich finden wir immer solche Maßnahmen, wo durch ein späteres Ankommen, kürzere Besuchszeiten, früheres Abholen etc. versucht wird, dem Problem zu begegnen.

In den seltensten Fällen (4,7%) erhalten solche Kinder spezielle und d.h. auf das Problem bezogene Unterstützung oder Fördermaßnahmen. Eng damit verbunden ist der Umstand, dass es den Pädagoginnen besonders schwer fällt, die Eltern auf das Verhalten des Kindes anzusprechen und die damit im Zusammenhang stehenden Problembereiche zu besprechen, so dass ein System entsteht, in dem ein entsprechende gemeinsame Förderung nicht möglich wird. Die dabei am häufigsten verwendeten Argumente, um das Problem zu umgehen, heißen:

  1. "... ich habe dafür einfach keine Zeit"
  2. "... das habe ich nie wirklich gelernt und ist mir auch selber unangenehm!",
  3. "... die Gruppen sind viel zu groß, als dass ich mich auch noch darum kümmern könnte",
  4. "... dafür haben wir leider kein Geld!",
  5. "... wer mit seiner Gruppe nicht zurechtkommt hat im Team Probleme.",
  6. "... die Kindergartenleitung unterstützt uns dabei in keiner Weise!" und schließlich
  7. "... die Eltern wollen nicht mitarbeiten und das Problem sehen!" etc.

Insgesamt zeichnet sich also ein ziemlich resignierendes Bild ab.

Zwischenbericht: Konzeptproblemskizze

Betrachtet man in einem weiteren Schritt die Konzepte (nicht nur) der untersuchten Kindergärten, so wird unmittelbar deutlich, dass dem Umstand "zunehmendes Problemverhalten" nicht entsprechend begegnet werden kann, da die zur Lösung notwendigen Elemente schon in der Konzeption fehlen oder zumindest stark unterbetont bzw. falsch gewichtet sind. Schon der Umstand, nach welchen grundsätzlichen Überlegungen das Team und eine Gruppe zusammengestellt und gestaltet wird ist insofern problematisch, als das nach wie vor nach "altbekannten Mustern" vorgegangen wird und die aktuelle Situation der Veränderung der Ausgangs- und Bedürfnislagen der Kinder und Eltern nicht entsprechend berücksichtigt wird. So ist die Elternarbeit bei Eintritt des Kindes in den Kindergarten nach wie vor hauptsächlich auf den Bereich Information über organisatorische Abläufe und allgemein pädagogische Inhalte beschränkt und das Team sieht seine Aufgabe hauptsächlich darin den Jahreskreis zu planen.

Des weiteren ist auf das Fehlen der die kindergartenpädagogische Arbeit begleitenden Entwicklungsbeobachtung und -arbeit hinzuweisen, was dazu führt, dass es den Kindergärtnerinnen tatsächlich sehr schwer fällt, detaillierte Entwicklungsbilder der von ihnen betreuten Kinder zu zeichnen. Aus diesem Umstand heraus erklärt sich auch die Tatsache, dass bei der Planung nach wie vor eher von der Gruppe, als vom Individuum ausgegangen wird. D.h., dass noch nicht wirklich erkannt wurde, dass es einen fundamentalen Unterschied macht, ob man eine Turnstunde für 4-jährige plant, oder für speziell ausgewählte Kinder eine Turnstunde plant.

Damit in Verbindung ist festzuhalten, das eine über die traditionelle Elternarbeit hinausgehende entwicklungs- und problembezogene individuelle Elternarbeit schon auf der konzeptionellen Ebene fehlt und schließlich liegt in der Regel eine starke Überbetonung der Gruppen-, Erlebnis- und Themenarbeit (Jahreskreisarbeit, Erlebniskreisplanung, Spielbereichsangebote etc.) vor. Damit jedoch noch nicht genug. Wir finden insgesamt zunehmend die Tendenz in Richtung einer verfrüht geforderten abgeschlossenen Verselbstständigungsentwicklung nicht nur auf Eltern- sondern auch auf Pädagoginnenseite.

In den Elterngesprächen der Assistenzpraxis wurde auch deutlich, dass die Eltern einen enormen Bedarf an konkreter Entwicklungs- und Erziehungsberatung hätten, der jedoch von den untersuchten Kindergärten ob der fehlenden Ressourcen nicht abgedeckt werden kann.

Und schließlich ist auch der Umstand zu nennen, dass der überwiegende Teil der Eltern (ob dem Fehlen einer rechtzeitigen Beratung) tatsächlich erst dann Hilfe in Anspruch nimmt, wenn das Kind knapp vor dem Schuleintritt steht (76,08 %, 140 der untersuchten Kinder sind zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits 5,5 Jahre). Das letzte Argument ist mit Sicherheit die Folge eines viel zu reservierten Umgehens mit Problemsituationen und -konstellationen.

Zusammenfassung

Nimmt man die oben angesprochenen Ergebnisse ernst, so bedeutet das, dass der Kindergarten konzeptionell eine Erneuerung in der Richtung braucht, dass sehr viel stärker wieder auf die konzeptionelle Grundlage des Kindergartens als familienergänzende Institution zurückgegangen wird, welche die Familie in den das Kind, seine Entwicklung und Erziehung betreffenden Bereichen sehr viel mehr als zur Zeit gegeben unterstützt. Gleichzeitig muss auf die Abstimmung und den konkreten Einsatz der Kompetenzen der Mitarbeiterinnen bezogen auf die oben angesprochen Bereiche sowie auf die Verteilung der pädagogischen Angebote in der Kindergartenarbeit geachtet werden, so dass der Kindergarten (1) insgesamt langsamer, (2) die Beziehungs- und Entwicklungsarbeit verstärkt und vertieft, (3) die Kleinst- und Kleingruppenarbeit wieder forciert, (4) die Einbindung der Eltern in das Entwicklungsgeschehen (Information, Aufklärung und Beratung) intensiviert, und (5) die Aus- und Weiterbildung der Kindergärtnerinnen zumindest um die Bereiche Entwicklungsbeobachtung sowie Entwicklungs- und Erziehungsberatung erweitert wird.

Adresse

Mag. Dr. Manfred Hofferer
Schwarzwaldgasse 10-12/4/2
A - 1230 Wien
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