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Zitiervorschlag

Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Margaret(h)e Hedwig Aurin

Manfred Berger

 

Margaret(h)e, von frühester Kindheit an Grete genannt, erblickte am 4. Oktober 1897 als drittes und jüngstes Kind des Sägewerkbesitzers sowie Landwirts Carl Schulze und dessen Ehefrau Hedwig, geb. Voigt, in Bruchsal (Baden) das Licht der Welt. Sie war ein selbstsicheres und bildungshungriges Mädchen, "las viele Bücher, schrieb Gedichte. Zudem war sie handwerklich sehr begabt" (Schulze 2007, S. 14). Von 1907 bis 1914 besuchte Margarete Schulze in Nordhausen, wo sie ihre Kindheit und Jugendjahre verbrachte, die "Höhere Töchterschule" und absolvierte anschließend das "Fröbel-Kindergärtnerinnenseminar" in Eisleben, das von der Fröbel-Lehrerin Johanna Köthe geleitet wurde.

Nach ihrer Ausbildung zur Fröbel-Kindergärtnerin ging sie als Privaterzieherin/ -lehrerin nach Bad-Godesberg. Ab 1917 unterrichtete sie als Aushilfslehrerin an einer Schule in Werther (Thüringen). Im Jahre 1922 heiratete Margarete Schulze den Möbelfabrikanten Werner Aurin, "dem sie 1923 Sohn Kurt gebar. Und mit ihm erwachte in der jungen, engagierten Frau der Wunsch nach neuen Erziehungsmethoden und Lehrmaterialien. Dabei wurde sie auf die neuen Erziehungsideen von Maria Montessori aufmerksam" (Schulze 2007, S. 14).

1932 trennte sich Margarete Aurin von ihrem Mann und ging Anfang 1933 zu Maria Montessori, der ersten promovierten Ärztin Italiens, nach Barcelona. Dort besuchte sie den 18. Internationalen Montessori-Kurs (Februar bis Juni 1933), den sie mit dem "Internationalen Montessori-Diplom" abschloss. Die Begegnung und die in Spanien begonnene Freundschaft mit der "Dottoressa" prägten ihr weiteres Leben. Nach einer kurzen Zwischenstation in Frankfurt/Main kehrte die Montessori-Pädagogin nach Nordhausen zurück und errichtete dort einen Kindergarten nach dem Konzept Maria Montessoris. Doch ihre Einrichtung war den neuen Machthabern ein Dorn im Auge, zumal die Montessori-Pädagogik nicht dem "hart wie Kruppstahl-, zäh wie Leder- und flink wie Windhunde-Ideal" der Nazi-Propaganda entsprach. Aber "Tante Grete", für die die "freie Selbstentfaltung" sowie das "Wachsenlassen" die obersten Erziehungsideale waren, führte ihre Einrichtung inoffiziell nach dem pädagogischen Konzept Maria Montessoris weiter, wenngleich mit vielen didaktischen Montessori-Materialien nicht mehr gearbeitete werden durfte.

Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur "hatte sie es mit vielen physisch und psychisch gestörten Kindern zu tun. Von ihnen sagte sie: 'Die Kinder gesundeten alle in der ihnen entsprechenden Umgebung durch ihr freies Tun. Das Kinderhaus wurde für sie eine Quelle der Freude, der Liebe und des Friedens'" (Günnigmann 1979, S. 98). Jedoch bald bekam die Kindergartenleiterin Schwierigkeiten mit den SED-Aufsichtsorganen, da diese die Ansicht vertraten, die Montessori-Pädagogik würde die Kinder an die "imperialistische Gesellschaft" anpassen:

"Montessoris Lehre spiegelt eine gewisse Unzufriedenheit mit einigen Erscheinungen der imperialistischen Gesellschaft wider, in die ihnen zugrunde liegenden objektiven gesellschaftlichen Vorgänge vermochte sie jedoch nicht einzudringen. Im Gegenteil: sie verschleierte sie, indem sie utopische Reformideen verbreitete, die objektiv einer Festigung der imperialistischen Gesellschaftsordnung dienten. Damit beraubte sie das bürgerlich-demokratische Prinzip der Selbsttätigkeit seines ursprünglichen Inhalts, es verlor bei ihr seinen antifeudalfortschrittlichen Charakter und gewann objektiv die Funktion, die Kinder der imperialistischen Gesellschaft anzupassen" (Barow-Bernstorff u.a. 1977, S. 280).

Schließlich übergab Margarete Aurin, die wegen "reaktionärer Beeinflussung Jugendlicher" (Günnigmann 1979, S. 98) unter Anklage gestellt wurde, ihren Kindergarten in die Trägerschaft der Evangelischen Kirche, die ihn mit den damals üblichen Schwierigkeiten weiter führte. Im März 1953 entzog sich die Pädagogin einer Verhaftung durch Flucht in den Westen. Sie war für längere Zeit bei der "Association Montessori International" in Amsterdam, um sich langsam an westliche Gepflogenheiten zu gewöhnen.

In der BRD engagierte sie sich sofort für die Montessori-Pädagogik. Margarete Aurin wurde Assistentin von Maria Montessoris Sohn, Mario Montessori, der 1954 in Frankfurt/Main einen Montessori-Kurs, den ersten nach dem Zweiten Weltkrieg, leitete. Ferner unterstützte sie den Auf- und Ausbau des legendären Montessori-Kinderhauses an der privaten Frankfurter "Anna-Schmidt-Schule". Auch war sie maßgebend an der Reorganisation der "Deutschen Montessori-Gesellschaft" (DMG), die von den Nationalsozialisten verboten worden war, beteiligt. Die DMG wurde am 17. April 1952 neu gegründet. Margarete Aurin wurde in den Vorstand gewählt.

November 1956 übersiedelte die Pädagogin von München-Pasing nach Garmisch-Partenkirchen. Dort gründete die fast 60-Jährige einen Montessori-Kindergarten. Heute erinnert eine Gedenktafel an ihre Einrichtung, in welche man die Worte ritzte: "Hier gründete 1956 Margarete Aurin den ersten Montessori-Kindergarten Süddeutschlands".

Im Alter von über 70 Jahren engagierte sie sich aktiv am Aufbau eines Montessori-Kinderhauses am "Kinderzentrum München der Aktion Sonnenschein e.V.". Die sozialpädiatrische Einrichtung wurde von Prof. Dr. Theodor Hellbrügge ins Leben gerufen und geleitet. Genannter erinnerte sich mit folgenden Worten an den Anfang:

"Frau Aurin fuhr nach Zelhem zur Firma Nienhuis mit dem Auftrag, Original-Montessori-Material für diesen Kindergarten so einzukaufen, dass er auch als Einrichtung vorbildlich für die Montessori-Pädagogik gelten konnte. Noch heute erinnere ich mich an das Telegramm, das sie damals beglückt aus Holland schickte: 'Ich wühle.' Einen ganzen Lastwagen von Montessori-Material, vom Stühlchen bis zum Glockenspiel, brachte sie mit" (Hellbrügge 1978, S. 107).

Im Münchner Montessori-Modellkindergarten wurden erstmals systematisch "gesunde" sowie mehrfach und verschiedenartig behinderte Kinder pädagogisch gefördert. Dabei "sollten die gesunden Kinder... in der Überzahl sein... Mit der Überzahl der gesunden Kinder sollten die behinderten Kinder ein ausreichendes Vorbild haben. Die Überzahl sollte gleichzeitig aber auch ein starkes Element der Hilfe sein" (Hellbrügge 1977, S. 111). Das Konzept zur gemeinsamen Erziehung nichtbehinderter und behinderter Kinder hat der angewandten Montessori-Pädagogik neue Perspektiven eröffnet und - trotz vielseitiger Widerstände und Vorbehalte - im In- und Ausland viele Nachahmer gefunden. Schließlich entstand daraus das System der "Montessori-Heilpädagogik" mit den Komponenten Kleingruppentherapie, Einzeltherapie und gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern. Hinsichtlich des Einsatzes der klassischen Montessori-Materialien ist eine Anpassung an das behinderte Kind unabdingbare Voraussetzung. Daraus ergibt sich:

"1. Das Material wird anders dargeboten, beinhaltet aber dieselben Lernziele.
2. Das Material wird durch kleine Schritte noch mehr detailliert, wenn die Abstraktionsfähigkeit nur schwierig erreicht werden kann.
3. Das Kind stellt nach eigenen Möglichkeiten Übungen zusammen, die vom Erzieher aufgegriffen werden müssen" (Aurin u.a. 1978, S. 198).

Zehn Jahre später berichtete Margarete Aurin über ihre erfolgreiche Arbeit im ersten Montessori-Kinderhaus der Welt mit "integrierter Erziehung":

"Die Erfahrungen bei der gemeinsamen Erziehung von mehrfach und verschiedenartig behinderten Kindern und gesunden zeigen, dass die Montessori-Pädagogik hier wichtige pädagogische und methodische Hilfen zu geben vermag. Darüber hinaus enthält das Material eine therapeutische Funktion für das behinderte Kind.
Bei den gesunden Kindern entwickelten sich soziale Eigenschaften, wie sie MONTESSORI folgendermaßen beschrieben hat: 'Geduld, eine Hemmung der eigenen Impulse; Begriff des Respektierens; Begriff des Wartens; Hilfsbereitschaft, auch von Kindern aus dosiert; Anpassung, notwendig zum Aufbau des gesellschaftlichen Lebens; Liebe, denn erst durch diese findet das Kind zur Selbstverwirklichung.'
Bei allen Kindern wuchs das Selbständigkeitsverhalten und das Selbstvertrauen; ihre geistig-seelische Entwicklung wurde allgemein gefördert.
MONTESSORIS Erkenntnis hat sich erneut bewahrheitet: 'Das Beispiel einer Gesellschaft, in der die soziale Integration besteht, ist die Gesellschaft der kleinen Kinder, die von den geheimnisvollen Kräften der Natur geleitet sind'" (Aurin 1978, S. 294).

Zusammen mit Prof. Dr. Theodor Hellbrügge führte Margarete Aurin Ausbildungslehrgänge mit heilpädagogischer Orientierung für Kindergärtnerinnen, Erzieher/innen, Lehrer/innen etc. durch.

Die Pädagogin wurde 1978 mit der "Sonnenschein-Medaille" der "Internationalen Aktion Sonnenschein" und 1983 mit dem "Bundesverdienstkreuz am Bande" ausgezeichnet.

Im Alter von 92 Jahren starb Margarete Aurin am 8. November 1989 in Garmisch-Partenkirchen. Ihre gesamten Ersparnisse hatte sie der Montessori-Arbeit in Deutschland gestiftet. Leider war ihr nicht mehr vergönnt, "ihren" Montessori-Kindergarten in Nordhausen, mit hilfreicher Unterstützung von Kurt Aurin, neu entstehen zu sehen.

Literatur

Aurin, M. u.a.: Anpassung einiger Montessori-Materialien an das behinderte Kind. In: Hellbrügge, T./Montessori, M.: (Hrsg.): Die Montessori-Pädagogik und das behinderte Kind. München 1978, S. 193-198

Aurin, M.: Das erste Montessori-Kinderhaus mit integrativer Erziehung in München. Erfahrungen bei den Kindern. In: Hellbrügge,T./Montessori, M. (Hrsg.): Die Montessori-Pädagogik und das behinderte Kind. München 1978, S. 289-295

Barow-Bernstorff u.a. (Hrsg): Beiträge zur Geschichte der Vorschulerziehung. Berlin 1977

Günnigmann, M.: Montessori-Pädagogik in Deutschland. Bericht über die Entwicklung nach 1945. Freiburg 1979

Hellbrügge, T.: Unser Montessori-Modell. Erfahrungen mit einem neuen Kindergarten und einer neuen Schule. München 1978

Schulze, M.: Montessori-Pädagogik in Nordhausen. Margarete Aurin - ein Leben für die Kinder. In: Nordhäuser Nachrichten 2007, Jg. 16, S. 14-15

Webseiten

http://de.wikipedia.org/wiki/Margarete_Aurin

http://www.montessori-nordhausen.de/Joomla/index.php?option=com_content&view= article&id=27:margarete-aurin-&catid=6:historisches-1&Itemid=26