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Zitiervorschlag

Aus: klein & groß, Heft 2007, Heft 3

"Mehr desselben" - wenn die Lösung das Problem wird

Detlef Diskowski

 

Alle Jahre wieder, erschallt der Ruf nach frühzeitigerer Einschulung oder zumindest einer ordentlichen Vorschule. Er erschallt immer, wenn sich wieder einmal die Erkenntnis aufdrängt, dass unser Bildungssystem ineffektiv ist. In den 1960er Jahren geschah dies durch den "Sputnikschock"; gegenwärtig ist es "PISA"; zwischendurch gab es ein paar kleinere Katastrophenmeldungen über den Zustand der Bildung. Zu solchen Gelegenheiten erinnert man sich dann daran, dass Bildung sehr früh und womöglich sogar vor dem Schulalter beginnt.

Und da es uns Menschen nahe liegt, beim Auftauchen eines Problems unsere bisherigen Anstrengungen zu verstärken, heißt die reflexhafte Antwort: frühere Einschulung, mehr und ganztägiger Unterricht. Wir versuchen "mehr desselben" - und wenn schon die bisherige Lösung nicht sehr wirkungsvoll war, kann ihre Verstärkung zum Problem werden (1).

Nach wie vor gibt es keine fundierten Hinweise, was denn nun besser werden soll, wenn die Schule sich der Bildung der Fünfjährigen (oder vielleicht sogar der Vierjährigen) annimmt. Immer noch fehlen die Belege für die Nützlichkeit einer solchen - immerhin erheblichen - Umsteuerung des Bildungssystems. Auch die Argumente, über die seit den 1970er Jahren im Westen der Republik immer wieder gestritten wurde, verändern sich nicht.

Wenn es nun aber schon keine Belege für die Wirksamkeit der Maßnahme "Mehr Schule" gibt, sollte dann nicht wenigstens eine gründliche Betrachtung der Risiken und Nebenwirkungen erfolgen? So wie bei der Neuzulassung einer Medizin zwar auch kein Wirkungsbeweis, aber wenigstens ein Unschädlichkeitstestat verlangt wird, wäre ein Nachdenken über ein paar praktische Nebenwirkungen hilfreich:

  • Die Kinder müssen den Schulweg bewältigen! Man kann davon ausgehen, dass es ca. dreimal soviel Kindergärten wie Grundschulen gibt. Wo der Weg zum Kindergarten zuweilen schon recht lang ist, würde er sich nun im Schnitt verdreifachen.
  • Haben diese Bildungsplaner noch kleine Kinder, so dass sie sich vorstellen können, wie Fünfjährige um 7 Uhr morgens eine Landstraße entlang laufen, um pünktlich zum Unterrichtsbeginn in der Schule zu sein? Oder können sie sich das familiale Zeitmanagement vorstellen, wenn die Flexibilität der Bringezeit im Kindergarten dem Zeitregime des Unterrichtsbeginn weichen muss?
  • Und nach Unterrichtsende? Trotz einer jahrzehntelangen Diskussion über Ganztagsangebote für Kinder im Grundschulalter ist der Ausbaugrad im Westen der Republik beklagenswert schlecht. Haben berufstätige Eltern noch einen der begrenzten Ganztags-Kindergartenplätze erwischt - wenn sie nicht in Ostdeutschland oder wenigsten noch in einer westdeutschen Großstadt wohnen, wird einer der Eltern des Schulanfängers von nun an zu Hause bleiben müssen.
  • Sollte der oder die Kleine an einer der wenigen Ganztagsschulen aufgenommen werden, müssen die Eltern feststellen, dass ein "ganzer Tag" nach Auffassung der Kultusminister 3 Tage x 8 Stunden oder 4 Tage x 7 Stunden umfasst, und die Ferien natürlich nicht einbegriffen sind. Es ist offensichtlich, dass eine Reihe von Arrangements notwendig ist, um der Tatsache Rechnung tragen, dass Familien andere Zeitmaße haben (2).

Die Reihe der Folgen wäre noch eine Weile fortzusetzen. So könnte man über die Kostenausweitung nachdenken (Vergleich der Kosten eines Schulplatzes plus ggf. eines Hortplatzes mit einem Kindergartenplatz) und ob dies die effektivste Investition in unser Bildungssystem wäre; oder man könnte über die veränderte Kostenverteilung zwischen Land und Kommunen reden (Schule als Landes-, Kindergarten als Kommunalaufgabe) und ob eine Verstärkung der Landeskompetenz wünschenswert und zielführend ist.

Aber! Es ist ja richtig und notwendig, dass man über Lösungen und Veränderungen unseres renovierungsbedürftigen Bildungssystems nachdenkt. Und es ist auch richtig, hierbei über die ersten Jahre nachzudenken, denn sie sind das Fundament. Ist das Fundament weich, steht nicht nur der Turm zu Pisa schief - wie man weiß. Und schließlich kann man auch nicht behaupten, dass in der frühen Bildung alles zum besten gestellt sei und dass es keinen Grund für Umsteuerungen oder auch Strukturveränderungen gäbe.

Aber dann sollte wirklich über die frühe Bildung geredet werden, denn das Fundament wird nicht erst bei den Fünfjährigen gelegt. Bemerkenswert ist schon, dass wir wider besseres Wissen über Bildungsprozesse jeweils in der Vorverlegung späterer Strukturen die Lösung suchen: Hochschulen erwarten von Gymnasien, dass sie die Studenten besser vorbereiten; die Sekundar- verlangt dies von der Primarstufe; diese vom Kindergarten und der von den Eltern - und alle wollen, dass die eigenen Bildungsarrangements in vereinfachter Form von den Vorgängerinstitutionen übernommen werden. So leitet sich die vorschulische Beschäftigung des Kindergartens wie auch der Lehrplan der Schule aus den Wissenschaftsdisziplinen ab; es wird die Systematik der Wissenschaft banalisiert für die, die noch nicht soweit sind (Die Kritik hieran ist in der Curriculumdiskussion (3) schon lange zu hören; geändert hat sich nicht genügend viel).

Ich denke, in Folge eines gründlichen Nachdenkens über Lösungen und einer Verabschiedung vom reflexhaften "mehr desselben" müssten wir Bildung nicht länger "von oben nach unten" denken; wir müssten unsere Bildungshierarchie vom Kopf auf die Füße stellen. Wenn wir betrachten, wie kleine Kinder lernen, bekommen wir vermutlich wirksamere Reformimpulse für alle Bildungseinrichtungen als im Vorverlagern "richtiger Bildung". Denn alle Bildungseinrichtungen in Deutschland haben Reformbedarf. und beide Institutionen, die jüngeren Kindern Bildungserfahrungen ermöglichen sollen, die Kindertagesstätte und die Grundschule, stehen vor tiefgreifenden Veränderungsnotwendigkeiten. Beide Institutionen und beide Professionen hätten genügend Anlass, vor der eigenen Türe zu kehren und begonnene Reformprozesse durchzuhalten. Für Überheblichkeit oder Expansionsgelüste besteht wirklich kein Anlass.

In beiden Bildungsinstitutionen steht dringend die Frage auf der Tagesordnung, wie der Tatsache Rechnung getragen werden kann, dass Kinder höchst engagierte, aber eigensinnige Lerner sind; dass sie lernen wollen, aber unbelehrbar sind. Die große Aufgabe für beide Bildungsinstitutionen bleibt, das Wollen der Kinder mit dem zu verbinden, was sie sollen. Der Kindergarten ist in der Gefahr, beides nicht ernst zu nehmen und in kindtümelnder Belanglosigkeit zu verharren. Die Schule neigt zu dem intellektuellen Kurzschluss, es handele sich bei dieser Frage nur um ein methodisches oder didaktisches Problem. Es geht aber bei der Bildungsförderung nicht darum, mit netten Einfällen einen klug strukturierten Lehrstoff zu vermitteln, sondern es geht im Kern um die Organisation eines Dialogs von Subjekten, der Erfahrungsräume und Quellen des Wissens eröffnet.

Ich persönlich räume dem Kindergarten bei den anstehenden Reformen etwas größere Entwicklungschancen ein als der Schule (4) und vermute, dass Donata Elschenbroich recht hat wenn sie schreibt, "die Zukunft lernt im Kindergarten" (5). Aber es geht letztlich nicht darum, welche Institution die bessere ist. Es geht darum, wie wir endlich unsere völlig verdrehten Vorstellungen davon loswerden, wie Menschen lernen - und dann die entsprechenden Rahmen schaffen. Vermutlich holt die wiederkehrende Forderung "Fünfjährige in die Schule!" aus diesem Missverständnis ihre Kraft. Wer trotz allem Wissens über das Funktionieren des Gehirns im Grunde an den Nürnberger Trichter glaubt, der hält auch Bildung für das Ergebnis von Belehrung und sieht die Lösung unserer Bildungsproblemen in "mehr desselben".

Endnoten

  1. Eindrucksvolle Ausführung dazu finden sich in Watzlawick, Weakland, Fisch: Lösungen; Hans Huber Verlag.
  2. Vermutlich sind die meisten Planer Männer, während familiales Zeitmanagement Aufgabe von Frauen ist.
  3. Jürgen Zimmers kann heute noch so eindrücklich wie berechtigt über diesen Grundfehler der Curriculumkonstruktion klagen, wie schon in den späten 1960er Jahren.
  4. Der starke Druck, erreichte Wissensbestände bei Schülern nachweisen zu müssen, macht es Lehrkräften immens schwer, den eigensinnigen Bildungsprozessen von Kindern zu vertrauen.
  5. Donata Elschenbroich: Das Weltwissen der Siebenjährigen; Antje Kunstmann Verlag.