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Zitiervorschlag

Aus: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS) 1996, Heft 4

Die Bedeutung von Kinderfreundschaft und Kinderstreit für die Identitätsentwicklung

Margarete Blank-Mathieu

 

Kinder nehmen schon als Baby gerne Kontakte zu Kindern auf. Man kann beobachten, dass Babys auf das Gesicht eines Kindes über der Wiege mit freudiger Überraschung, mit Juchzen und Lachen, mit Strampeln und Bewegungen der Händchen reagieren. Wenn sie dann zu laufen beginnen, versuchen sie immer, sobald ein Kind in der Nähe ist, diesem nachzulaufen. Die Kontaktaufnahme geschieht oft durch scheinbare Ablehnung, also boxen, schlagen und stoßen. Aber mit diesen Gesten will das Kind dem anderen Kind signalisieren: Komm, spiel mit mir!

Es sind oft zufällige Begegnungen, später ein Nebeneinanderspielen im Sandkasten mit spontanen Freundschaftsbeweisen, die darin bestehen können, dass ein Kind zu einem fremden Kind hingeht und es umarmt und küsst, aber auch, dass es einem anderen Kind ein Spielzeug aus der Hand nimmt oder es wegschubst. Immer aber, auch in diesen frühen Kindheitsstadien, bemerken wir, dass die Begegnung eines Kindes mit einem Kind etwas Besonderes ist, etwas wesentlich anderes für das Kind bedeutet als der Kontakt mit erwachsenen Personen.

Die ersten wirklichen Kinderfreundschaften bilden sich ab dem dritten Lebensjahr, also meist in der Zeit des Eintritts in den Kindergarten. Nun suchen die Kinder gezielt nach Spielkameraden. Sie können sich sprachlich verständigen und fragen Kinder, die sich zufällig in ihrer Nähe aufhalten, ob sie mitspielen. Wenn sich Kinder dann öfter begegnen und miteinander spielen, bilden sich Sympathien, die zur Freundschaft werden. Das Kind will dann nicht mehr in den Kindergarten, wenn der Freund oder die Freundin nicht da ist. Viele Kinder beginnen erst dann mit dem Spielen, wenn bestimmte Kinder auftauchen. Dann wird besprochen, gehandelt und eine Vereinbarung getroffen, was gespielt werden soll.

Aber nur mit dem Freund oder der Freundin tauscht man Geheimnisse aus. Es wird getuschelt, gekichert und der Freund oder die Freundin stolz den anderen vorgeführt. Mit einer Freundin fühlt man sich doch gleich viel wichtiger, größer und stärker. Für das Selbstbewusstsein jedes Kindes ist es wichtig, einen Freund zu haben. Einen Freund oder einer Freundin braucht man in ganz unterschiedlichen Situationen:

  • Man kann ihm anvertrauen, dass man Angst hat, und dann Angst machende Situationen besser meistern (wenn man an dem Hoftor, hinter dem ein großer Hund bellt, z.B. gemeinsam vorbeigeht).
  • Man kann seine eigenen Fähigkeiten ausprobieren und durch eine positive Verstärkung in Form von Lob oder Anerkennung selbstbewusster werden. Aber man lernt auch, seine eigenen Schwächen besser zu akzeptieren.
  • Zu zweit ist man stärker. Angriffe gegen den Freund gelten als persönliche Beleidigung und werden gemeinsam abgewehrt.
  • Wenn man enttäuscht wird oder traurig ist, so fühlt man sich von der gleichaltrigen Freundin besser verstanden als von der eigenen Mutter.
  • Eine Aufgabe gemeinsam zu erledigen macht mehr Spaß, und auch Schwierigkeiten können gemeinsam viel besser bewältigt werden.
  • Mit neuen Kindern oder in einer ungewohnten Umgebung kann man viel besser Kontakt aufnehmen, wenn man dabei von der Freundin begleitet wird.
  • Man kann ohne Erwachsene alleine zu Hause bleiben, wenn der Freund bei einem ist.
  • Ein Freund ist wichtiger als die eigenen Geschwister. Er wird nicht so oft wie diese als Rivale erlebt.
  • Mitfühlen, Mitleiden, Mitfreuen sind Erfahrungen, die beim Freund oder der Freundin leichter gemacht werden können als in der Kindergruppe.
  • Dem Freund zuliebe verzichtet man auch leichter auf etwas.
  • In der Gruppe kann man sich gemeinsam besser durchsetzen, fühlt sich aber auch wohler, wenn man einen Verbündeten dort weiß.
  • Regeln und Vorschriften können gemeinsam leichter anerkannt, aber auch einmal umgangen werden.
  • Die Abhängigkeit von Erwachsenen wird nicht so stark empfunden, wenn die Freundin die eigenen Wünsche unterstützt.
  • Gemeinsam ist es leichter, Kompromisse zu akzeptieren, Ideen und Meinungen zu vertreten, die eigene Meinung zurückzustellen.
  • Und nicht zuletzt kann man gemeinsam besser forschen, etwas herausfinden, experimentieren, ausprobieren und dabei das eigene Wissen vertiefen.

Obwohl es Kinderfreundschaften aus der Kindergartenzeit gibt, die ein Leben lang anhalten, sind das eher die Ausnahmen. Kinderfreundschaften sind brüchig. Freunde wechseln oft täglich, und das ist für Freundschaften in diesem Alter nichts Ungewöhnliches. Entdecken Kinder doch täglich Neues und haben auch immer wieder neue Vorlieben.

So stehen neben den Erfahrungen der Freundschaft auch Erfahrungen von Streit, Ausgrenzung, Enttäuschung. Und auch diese Erfahrungen sind für die Kinder wichtig, um die eigene Persönlichkeit zu stabilisieren. Das ist nicht immer leicht. Eifersucht unter Kindern löst kleinere und größere Krisen aus. Das Kind will plötzlich nicht mehr in den Kindergarten oder zieht sich dort in eine Ecke zurück und ist kaum mehr zum Mitspielen zu bewegen.

Ganz schlimm wird es, wenn der Freund wegzieht oder man selbst in einen anderen Kindergarten kommt. Auch die Einschulung der Freundin kann ein Einschnitt sein, der nur schwer verwunden wird. In der Gleichaltrigengruppe wird bei der nahenden Einschulung immer wieder die Frage gestellt, wer mit wem in die gleiche Klasse kommt. Freunde zu trennen ist manchmal vom Erwachsenenstandpunkt zwar ganz sinnvoll, kann aber Verlustgefühle und Versagensängste in den Kindern auslösen.

Auch wenn es scheint, dass Kinderfreundschaften, da sie häufig wechseln, nicht so wichtig wären, ist das ein Trugschluss. Kinder müssen selbst entscheiden können, wie lange sie eine Freundschaft aufrechterhalten wollen. Nur sie selbst können wissen, wie lange die Freundschaft für sie Bedeutung hat. Erwachsene sollten Kinderfreundschaften genauso ernst nehmen wie ihre eigenen Beziehungen zu Freunden. Sie sollten mit den Kindern trauern, wenn eine Freundschaft zerbricht, den Kindern helfen, neue Freunde zu finden, die Kinder unterstützen, wenn sie von Eifersucht oder Neid geplagt werden. Um im späteren Leben stabile Bindungen eingehen zu können, müssen Kinder die Erfahrung machen, dass es sich lohnt, für einen Freund etwas zu opfern, die Freundschaft auch über Schwierigkeiten hinweg aufrechtzuerhalten, sich wieder zu versöhnen, einander entgegenzukommen.

Wir selbst sind Vorbilder. Wie gehen wir miteinander um? Wie gestalten wir unsere Freundesbeziehungen, wie viel wert sind uns unsere Freunde, und wie erhalten wir auch schwierige Beziehungen aufrecht?

Wie wir selbst unseren Kindern und Freunden unsere Zuneigung zeigen, das ahmen Kinder auch in ihren Kinderfreundschaften nach. Sie machen sich kleine Geschenke, sie besuchen einander, sie möchten so oft es geht zusammen sein, sie teilen ihre Freuden und ihre Kümmernisse miteinander und gehen oft sehr behutsam miteinander um.

Ärgerlich werden wir, wenn Kinder sich ständig zanken. Geschwister, die sich nicht streiten, das gibt es nicht. Auch unter Freunden sind Auseinandersetzungen an der Tagesordnung. Und Kinder tragen ihre Streitigkeiten lautstark und oft mit Händen und Füßen aus. Ist es nun wirklich nötig, dass Kinder sich so oft zanken, ist das dann auch noch eine Kinderfreundschaft, die wir unterstützen sollen?

Kinderstreitigkeiten, auch die mit dem eigenen Freund und der eigenen Freundin, können wertvolle Erfahrungen ausbilden:

  • Eine Sache kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden.
  • andere Kinder fühlen anders, reagieren anders, müssen anders behandelt werden, um mit ihnen spielen zu können.
  • Spielregeln müssen eingehalten werden.
  • Die eigene Meinung kann auch gegen Widerstände durchgesetzt werden.
  • Die eigenen Fähigkeiten können ausprobiert werden, und die eigene Rolle muss innerhalb der Gruppe gefunden und verteidigt werden.
  • Man kann sich als Verursacher von Streit erleben.
  • Man kann Misserfolge erleben und mit Ängsten zurechtkommen.
  • Um situationsangepasste Lösungen muss manchmal gestritten werden.
  • Man muss auch verlieren lernen.

Dies und noch vieles andere mehr kann beim richtigen Streiten gelernt werden. Aber Streiten muss eben auch erst gelernt werden. Es ist ja nicht einfach, sich angreifen zu lassen und dann noch die Meinung des anderen anzuhören. Sich beleidigt in eine Ecke zurückzuziehen ist einfacher, als sich mit einer anderen Ansicht auseinandersetzen zu müssen. Wenn sich der Freund gar einem anderen Kind zuwendet und einen für blöd erklärt, wie soll man da noch richtig reagieren?

Für Erzieherinnen taucht immer wieder die Frage auf, wann sie sich in einen Kinderstreit einmischen sollen oder gar müssen. Auf jeden Fall müssen sie streitende Kinder im Blick haben. Kann sich das angegriffene Kind selbst verteidigen, findet es vielleicht in der Kindergruppe jemanden, der ihm beisteht? Können die Kinder argumentieren, ihre eigenen Regeln finden, ihre Meinung durchsetzen? Werden Streitigkeiten gar zu Handgreiflichkeiten?

Kinder lernen nur beim Streiten, wie man richtig streitet. Deshalb sollten Erzieherinnen so selten wie möglich eingreifen. Wenn sie das aber tun müssen, werden der Streitanlass, der Streitverlauf und die Lösungsvorschläge zusammen mit den Kindern noch einmal zum Thema gemacht. Das kann im Stuhlkreisgespräch passieren, in Einzelgesprächen zusammen mit den betroffenen Kindern oder auch exemplarisch anhand einer Geschichte, eines Bilderbuches.

Streiten darf nie mit "böse sein" gleichgesetzt werden. Wenn Streit entsteht, gilt es, einen Konflikt zu lösen. Konflikte lösen zu lernen ist ein wichtiges Ziel unserer Erziehung im Kindergarten. Konflikte so zu lösen, dass es letzten Endes keinen Gewinner und keinen Verlierer gibt, sondern jeder mit einem Kompromiss leben kann, müssen die Kinder durch eigene Erfahrung lernen.

So werden wir als Erzieherinnen den Kindern dabei helfen, Freunde zu finden, Freundschaften aufrechtzuerhalten, neue Freundschaften zu schließen. Wenn es Konflikte gibt, so lassen wir die Kinder diese - so weit sie in der Lage sind - selbst austragen.

Welches Kind hat keinen Freund, keine Freundin, wird zum Außenseiter in der Gruppe? Dies ist eine Frage, der wir unsere Beobachtungen in der Freispielphase Raum geben müssen. Nicht wir können Ersatz für Kinderfreundschaften sein, aber wir können Kindern unsere Zuwendung zeigen, sie in ihrem Selbstbewusstsein stärken, ihnen Aufgaben für die Gruppe zuweisen, die sie am Gruppenprozess teilhaben lässt, ihre Bilder aufhängen, sie vor der Gruppe loben. So finden sie leichter Freunde und werden als Spielkameraden begehrter.

Und wir selbst müssen uns als echte Freunde bewähren. Wir sind das Modell, an dem Kinder lernen, wie man mit Freunden, mit Menschen, die man liebt, umgeht, wie man sich im Streitfall richtig mit dem Gegner auseinandersetzt, Regeln vereinbart und Kompromisse findet.

Kinderfreundschaften sind Vorstufen für spätere Bindungsfähigkeit. Jede Freundschaft, auch wenn sie nur ein paar Stunden anhält, hat ihren eigenen Wert. Wenn eine Kinderfreundschaft von den Kindern selbst beendet wird, ist dies das Zeichen, dass sie ihren "Zweck" erfüllt hat. Auf das Kind wartet noch viel Neues, ein ganzes Leben hat es vor sich, um immer wieder neue Erfahrungen, auch Erfahrungen mit den verschiedensten Menschen, machen zu können.

Wenn wir dies bedenken, so ist uns jede Kinderfreundschaft wichtig. Um das eigene Selbstbewusstsein zu entwickeln, die eigenen Kräfte auszuprobieren, aber auch um einen Platz innerhalb der Gemeinschaft zu finden und zu behaupten, sind Kinderfreundschaften, aber auch Kinderstreitigkeiten unerlässlich.