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Zitiervorschlag

Kinder im Grundschulalter - Besonderheiten und Entwicklungserfordernisse

Lothar Krappmann

 

Mir lag immer sehr daran klarzumachen, dass Kinder ab sechs oder sieben Jahren bis zum Alter von 12 oder 13 nicht nur Schulkinder sind, wie wir sie gewöhnlich nennen. Schule ist nur ein wichtiger Teil ihres Lebens, ein Teil, auf den sie nicht reduziert werden sollten, auch wenn Schule mehr ist und mehr sein will als ein Ort des Lernens und Unterrichtens. Ich habe vor Jahren über die vielen Bereiche des Lebens dieser Kinder geforscht und geschrieben. Darunter war ein Aufsatz, der in das Hort-Handbuch von Gabriele Berry und Ludger Pesch aufgenommen wurde (1).

Ich will nicht einfach wiederholen, was ich damals geschrieben habe. Aber die damals beschriebenen Entwicklungsthemen dieser Kinder halte ich immer noch für hoch bedeutsam, auch unter den in mancher Hinsicht veränderten Bedingungen des Kinderlebens. Verändert hat sich auch die Stellung des Horts, den es in manchen Bundesländern gar nicht mehr gibt. Und wo es ihn noch gibt, muss er sich gegen Ganztagsschulplanungen und andere Verschiebungen von Prioritäten behaupten. Auch dazu möchte ich etwas sagen, und zwar mit der Absicht, den selbständigen Hort zu stärken.

Die Ganztagsschule scheint einen Ansatz zu bieten, den Hort zu ersetzen, denn sie soll das Schulleben themen- und erfahrungsreicher machen. Nicht nur der Unterricht sollte von der Ausweitung der Schulzeit bis in den Nachmittag profitieren, sondern auch die vielen Interessen und Bedürfnisse der Kinder sollten mehr Raum und Zeit bekommen. Oggi Enderlein und ich haben vor einigen Jahren dazu Thesen verfasst, in denen wir dargestellt haben, wie wir uns das vorstellen können: Mehr Eingehen auf die Kinder, mehr Rücksicht auf Arbeitsrhythmen, Zeit für das, was sonst zu kurz kommt: für Spiel, Bewegung, Beteiligung. Die Thesen fanden ein sehr positives Echo (2).

Gerade eben ist jedoch ein Bericht über die Realität von Ganztagsschulen erschienen, herausgegeben von der Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung, der zu einem sehr nüchternen Ergebnis kommt (3). Im Resümee heißt es: Die traditionellen Zeitstrukturen werden "nur zurückhaltend angetastet" - wir erinnern uns, dass das ein wichtiger Grund war, die Kinder bis in den Nachmittag hinein in der Schule zu behalten. Die Freizeitaktivitäten - wieder Originalton - "sind noch wenig diversifiziert und mehr dem Betreuungs- als dem Bildungsgedanken verpflichtet"; und "die Partizipation von Schülerinnen und Schülern, Eltern und pädagogischem und nicht-pädagogischem Personal ist noch entwicklungsfähig".

Ich will nicht folgern, das Modell einer Ganztagsbetreuung in der Schule sei gescheitert. Die Evaluation war nicht flächendeckend, einige der beteiligten Schulen schnitten besser ab. Dennoch zeigt sich, dass die Betreuungsaufgabe nicht gut und die erweiterte Bildungsaufgabe noch kaum gelöst ist.

Es geht also um Betreuung und Bildung, aber auch als drittes um die Entwicklung der Kinder. Entwicklung und ihre Unterstützung werden oft vergessen - vielleicht weil man meint, dass es bei der Entwicklung des Kindes um Prozesse geht, die ein Pädagoge nicht beeinflussen kann. Da spult die Natur im jungen Menschen ein Programm ab, das in den Genen steckt. Da kann man sozusagen nichts machen, war lange herrschende Meinung.

Überraschenderweise hat uns gerade die Hirnforschung davon überzeugt, dass auch die vorgebahnten Reifungsprozesse auf passende Herausforderungen in der sozialen Umwelt des Kindes angewiesen sind, und es auf dem Weg zur verantwortlich und kompetent handlungsfähigen Person folglich um einen Dreiklang von Betreuung, Entwicklung und Bildung geht:

  • um verlässliche Beziehungen, Betreuung,
  • um die Herausforderung der angelegten Potentiale, Entwicklung,
  • um die gezielte Einführung in die Kultur, in der Werte und Regeln angeboten werden, Bildung.

Das Wort Dreiklang verlockt, an Harmonie zu denken. Oft gibt es jedoch keinen stimmigen Dreiklang, sondern viele Disharmonien. Ludger Pesch hat in seinem Vortrag vor einigen Monaten dazu viel gesagt.

Eine beunruhigende Zahl der Kinder reagiert mit physischen und psychischen Auffälligkeiten auf erlebte Unstimmigkeiten. Zusammenstellungen von Daten über

  • gesundheitliche Störungen, etwa Schlaflosigkeit oder Kopfschmerzen,
  • bedenkliche körperliche Entwicklungen, etwa Übergewicht oder Koordinationsmängel,
  • Ernährungsmängel, etwa kein Frühstück, viel fast food,
  • und emotionale Probleme wie Unkonzentriertheit, Ängsten oder Unlust

sind weithin bekannt und bedürfen an dieser Stelle keines ausführlichen Kommentars. Aber ich weise doch darauf hin, dass nach empirischen Untersuchungen ein Viertel und mehr Kinder betroffen sind (4). Nach dem 13. Kinder- und Jugendbericht werden 11- bis 14-Jährigen mehr Psychopharmaka als Erkältungsmedizin verschrieben. Der Konsum von Ritalin stieg in Deutschland von 1993 bis 2007 von 34 auf 1.429 kg (5).

Es gibt also viele Beobachtungen, die Anlass hätten sein können, darüber nachzudenken, inwieweit Schule und Alltagsleben, Betreuung, Entwicklung und Bildung, den physischen, mentalen, sozialen und emotionalen Bedürfnissen der Kinder gerecht werden. War denn die Ganztagsschule nicht eine Antwort darauf? Sollte sie nicht bessere Bedingungen für Lernen, Bildung und Entwicklung schaffen?

Sicher war das eine Hoffnung. Aber erinnern wir uns: Die treibenden Kräfte waren nicht eindeutig an dieser Zielsetzung orientiert. Ebenso wie bei manchen anderen Maßnahmen, die Kinder betreffen, standen nicht die Kinder selber und was sie brauchen im Zentrum, sondern andere Interessen, legitime Interessen, aber nicht Kinderinteressen.

Es waren Interessen wie der erleichterte Arbeitsmarktzugang für Frauen, damit zusammenhängend die Überwindung von Betreuungsengpässen, Integrationsprobleme, insbesondere mangelnde Deutschkenntnisse, Ausgleich soziokultureller Voraussetzungen für das Lernen, vor allem aber die Verbesserung der Schulleistungen nach dem PISA-Schock. Aber selbst Konjunkturprogramme spielten eine Rolle, weil Schulen für den Ganztagsbetrieb umgebaut werden mussten.

Manches davon kann mittelbar auch Kindern zugute kommen; aber eben nur "mittelbar", denn Kinder waren, um es noch einmal zu sagen, nicht der Ausgangspunkt der Überlegungen, und so wurden die Maßnahmen nicht auf ihre Entwicklungsthemen und -aufgaben hin abgestimmt und die Einrichtungen entsprechend ausgestattet.

Die Praktiker/innen, die dann die erweiterten Aufgaben der Schulen und die Arbeit in den Tagesstätten zu gestalten hatten, hatten sicher die Kinder vor Augen und wollten ihnen helfen und sie stärken. Aber die Handlungsspielräume waren begrenzt, weil die Einführung und Ausstattung dieser Maßnahmen eben nicht unter der primären Zielsetzung Kinder erfolgte.

Und daher will ich in diesem Vortrag noch einmal daran erinnern, wer diese Kinder sind und was sie in diesen Altersjahren für ihre gute Entwicklung benötigen.

Aber lassen Sie mich zuvor noch eine Wendung in der Bildungspolitik benennen, die der Ganztagsschule und dem Hort in die Quere kommt: In den letzten Jahren wurde ganz besonders die entscheidende Bedeutung der Förderung in den ersten Lebensjahren unterstrichen. Jürgen Baumert, bekannt durch die deutschen PISA-Studien, hat vor wenigen Monaten in einem ZEIT-Gespräch erklärt: "Frühe Diagnosen sowie systematische, bedarfsgerechte und nachhaltige Hilfen sind der Schlüssel zu allem" (6).

Ein Expertenrat in Baden-Württemberg, den er geleitet hat, hat entsprechende Vorschläge zum Ausbau "früher differentieller Förderung" vorgelegt, die grundsätzlich sehr gut sind (7). Begründet wird die frühkindliche Förderung übrigens auch dieses Mal nicht mit Blick auf Kinder, sondern mit Hinweisen auf die internationalen Schulleistungsuntersuchungen und auf Argumente von Ökonomen, der Ökonomen Heckman und Krueger, zur Förderung des Humankapitals (8).

Die Öffentlichkeit, auch die politisch Verantwortlichen, können den Eindruck gewinnen, dass in der frühen Kindheit der spätere Schul- und Lebenserfolg gesichert wird und dass man die nachfolgenden Bildungsprozesse so lassen könnte, wie wir sie heute vorfinden (9). Das wäre eine fatale Konsequenz, und das demonstriert auch die umfangreiche Forschung über die frühkindliche Förderung selber, denn die Forscher erkannten bald, dass die bemerkenswerten Erfolge dieser Programme schnell wieder dahinschmolzen, wenn Kinder nicht weitergefördert wurden (Consortium for Longitudinal Studies 1983) (10).

Erst jüngst bestätigte eine britische Studie, dass insbesondere eine in der Primarschulzeit weitergeführte Förderung den Kindern hilft, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und zu stabilisieren (Sammons/ Sylva et al. 2008) (11). Da wirksame Unterstützung nicht nur bei kognitiven Prozessen ansetzt, können auch außerunterrichtliche Orte und Programme einen wichtigen Platz einnehmen.

Ich möchte also die große Bedeutung der Entwicklung der Kinder in den Lebensjahren zwischen sechs und zwölf noch einmal herausstellen und die herausfordernden Aufgaben, die sich den Kindern stellen, verdeutlichen. Es sind Entwicklungsaufgaben, aber solche, die der sozialen und emotionalen sowie der pädagogischen Unterstützung und institutioneller Kontexte bedürfen. Es wird mir gehen um

  • die Beziehungen zu den Eltern,
  • das Lernen und die Schule,
  • die Gruppe der Gleichaltrigen und die Freunde,
  • um Achtung, Moral und respektvolles Zusammenleben,
  • um die Medien und
  • um die Rechte des Kindes.

Beziehungen zu den Eltern

Es besteht gar kein Zweifel daran, dass für Kinder dieses Alters die Eltern nach wie vor von ganz großer Bedeutung sind. In Befragungen sagen sie immer wieder mit großer Mehrheit, wie zufrieden sie mit ihrer Familie seien, und geben auch an, dass in den meisten Familien miteinander geredet werde (Erster Kinder- und Jugendreport 2010, auch die FIM-Studie 2011). Befragte Viert- bis Sechsklässler wollen allerdings mehr Gehör finden (12). Mehr Zeit mit den Eltern zu haben, ist ein Wunsch, den Kinder in zahlreichen Studien äußern (LBS-Kinderbarometer 2011; Zweite World Vision Kinderstudie 2011). Nach der World Vision Kinderstudie (2011) klagen mehr Kinder arbeitsloser Eltern über mangelnde elterliche Zeit als Kinder erwerbstätiger Eltern - mit Ausnahme der Kinder erwerbstätiger Alleinerziehender (13).

Es scheint also nicht nur um genug Stunden und Minuten zu gehen, sondern auch um Zuwendung, um Aufmerksamkeit für das, was Kinder beschäftigt. In einer OECD-Studie wurden Kinder gefragt, wie oft ihre Eltern mit ihnen "just for talking" reden, also nicht über Schularbeiten, Gitarreüben, Abfalleimer zum Müll tragen, sondern über die kleinen Erlebnisse des Alltags. Bei dieser Art von Gesprächen stand Deutschland unter 25 OECD-Ländern an letzter Stelle (berichtet in UNICEF 2007, Tabelle 4.2b, S. 25) (14). Das Ergebnis war so krass, dass viele sich gewundert haben und Zweifel an der Methode der Untersuchung anmeldeten. Vielleicht sollten wir es dennoch als ein Warnsignal verstehen.

Wichtig ist allerdings, dass Kinder ein neues Verhältnis zu ihren Eltern aufbauen. Kinder verlangen den veränderten Umgang mit ihnen, trotzen ihn ab; aber Eltern müssen diese gewandelte Beziehung mitmachen. Kinder sammeln nun eigene Erfahrungen, erleben eigene Geschichten, geraten in Probleme, die ihre Eltern immer weniger überblicken. Die Kinder erleben, dass Meinungen und Regeln infrage gestellt werden und viel im Leben Vereinbarungssache ist. Sullivan (1982), ein amerikanischer Psychologe, der Kinder dieses Alters sehr ernst genommen hat, erklärte, solche Kinder müssten ihre Eltern "vom Sockel holen", nur dann werde eine vertrauensvolle Beziehung weiter bestehen können (15).

Lernen und Schule

Kinder wollen lernen, und zwar "etwas Richtiges", wie Erikson sagte; etwas Richtiges, das sich von Märchengeschichten unterscheidet.

Es ist wichtig, den Kindern die Freude am Lernen, die Neugier und das Erkunden zu erhalten. Lernen ist in diesem Lebensabschnitt noch sehr eine Beziehungssache, weil ein Kind ja noch nicht wirklich überblickt, wofür das gut ist, was es zu lernen hat. Das Kind sollte dem Lehrer vertrauen können, dass das zu Lernende wichtig ist. Von den Lehrer/innen wird erwartet, dass sie auf das Kind sehr individuell eingehen und die Lernanstrengungen, einschließlich der Fehler, unterstützend, nicht beschämend begleiten.

So sollte es sein. Es ist wirklich bestürzend, in vielen empirischen Studien zu lesen, dass die größte Angst der Kinder darin besteht, in der Schule zu versagen (LBS-Kinderbarometer 2007) oder in der Schule zu viele Fehler zu machen (World Vision 2010). Diese Ängste treffen Kinder an einer für die Entwicklung der Person sehr gefährlichen Stelle.

Schule ist sicherlich kindzugewandter geworden, geht jedoch auf Fragen und Nöte der Kinder immer noch wenig ein, weder auf gegenwärtige Fragen, noch auf Probleme, die auf die Kinder zukommen. Ich habe in meiner UN-Tätigkeit beobachtet, dass man in aller Welt, insbesondere dort, wo man Kinder und ihre Eltern für Lernen und Schule noch gewinnen muss, einen Unterricht anzubieten versucht, der deutlich aufs Leben, manchmal auch aufs Überleben vorbereitet ("child friendly school" heißt ein breit angelegtes UNICEF-Programm) (16). Vor einigen Monaten hörte ich einen Vortrag von Elmar Tenorth, der darstellte, wie der brandenburgische Schulpionier von Rochow im 18. Jahrhundert dafür sorgte, dass seine Dorfschullehrer den Kindern über Schreiben, Lesen und Rechnen hinaus Grundzüge der Alltagsphysik, der Tierhaltung und der Landwirtschaft beibrachten - soziokulturelle Basiskompetenzen (17).

Dem damaligen Inhalt nach ist Rochows Schule sicherlich kein Vorbild mehr, aber der Idee nach. Den Kindern dieses Alters sind die Themen, die uns heute umtreiben, Wachstum, Klima, Energie, Schulden, nicht fremd. Wer gibt ihnen Antworten zu dem, was sie interessiert und oft auch beunruhigt?

Zur Gruppe der Gleichaltrigen und zu den Freunden

Diesem für diese Altersgruppe zentralem Thema haben mein Kollege Hans Oswald und ich viel Arbeit gewidmet (18). Die Vorstellung, dass Kinder einander zur Entwicklung von Fähigkeiten brauchen, war ziemlich neu, als wir in den 1980er Jahren begannen, unsere Beobachtungen über Kindergruppen und Freundschaften zu veröffentlichen. Inzwischen gehört es zum Gemeingut der Pädagogik und Sozialarbeit, dass Kinder auch das gemeinsame Spiel, die Zusammenarbeit und den Streit mit Kindern benötigen, um die Fähigkeiten und Motive zu erwerben, die das soziale und gesellschaftliche Leben verlangen.

Wichtig ist, dass sie ihre Erfahrungen ohne ständige Intervention der Erwachsenen sammeln können, aber in sicheren Zonen, mit erreichbaren und ansprechbaren Erwachsenen. Erwachsene müssen nicht passiv bleiben; sie können Orte der Besinnung und des Gesprächs sein, können Rat anbieten, auch Klärung von Regeln und Grenzen. Im Konkreten ist das erforderliche sensible Verhalten nicht leicht zu bestimmen. Diese Balance alters- und entwicklungsangemessen zu treffen, ist eine Hauptaufgabe der Erwachsenen. Und ich glaube inzwischen auch: lieber mit einem Schuss Überforderung als mit Unterforderung der Eigenverantwortlichkeit.

Die Grundstruktur der Interaktion, erklären uns Soziologen, ist unter Kindern eine andere, als zwischen Erwachsenen und Kindern. Kinder suchen nach denjenigen, mit denen sie ohne Bevormundung von gleich zu gleich aushandeln können. Sie reagieren negativ auf Bestimmer, jedenfalls meist, denn manchmal fallen auch Vorteile ab. Mit ihrem Freund, mit ihrer Freundin wollen sie jedenfalls aushandeln können.

Wenn es keine gerechte Einigung gibt, kann ein Kind weggehen, die Freundschaft aufkündigen. Das ist oft nicht einfach. Dennoch: Es gibt jetzt die Alternative "Exit or Voice" - ein Grundproblem aller Interaktion unter Menschen: Geht man weg oder versucht man, die Dinge zu ändern? Kindern eröffnet sich diese Alternative, weil sie auf ein anderes Kind, auf andere Kinder nicht in dem Maße existentiell angewiesen sind wie auf die Eltern, Lehrer/innen oder Erzieher/innen. Kinderbeziehungen sind freiwillige Beziehungen; man muss den anderen, die andere gewinnen. Aber man muss sich von anderen auch abgrenzen können. Für meinen Freund springe ich nicht aus dem Fenster, sagen Kinder. Aber was würde ich alles für ihn tun. Dem blöden Sowieso gebe ich nichts. Aber was müsste ich ihm in Notlagen doch geben? Alle Facetten der Sozialwelt tun sich für die Kinder auf, und sie zu bewältigen, kann hier und nur hier gelernt werden.

Zu Achtung, Moral und respektvollem Zusammenleben

Zurück zum Weggehen oder Widersprechen. An dieser Entscheidung hängt, wenn man so will, unsere ganze Ethik und Moral. Larry Kohlberg hat gesagt, das Kind wird zum Moralphilosophen. Weder das Weggehen noch der Widerspruch sind einfach. Allein zu sein, ist keine gute Lösung, Standzuhalten ist schwer. Wie sorgt man für gute Verhältnisse untereinander?

Ein Mindestmaß an Aufeinander-Eingehen ist nötig, denn sonst wird man sich nicht einig. Verlässlichkeit ist wichtig, sonst taugen Versprechen und Vereinbarungen nichts. Ein wichtiges Motiv für all dies liegt in den Freundschaften. Freundschaft motiviert, sich für gute Lösungen anzustrengen. Gute Lösungen sind die, in denen Interessen ausgeglichen werden, und zwar nach Maßstäben und Regeln, die man erklären kann.

Viele Sozialpsychologen haben den Kinderstreit und die Kindereinigung auf fairen und gerechten Umgang miteinander für den Nährboden - "das Sumpfbeet" hat Fritz Oser einmal gesagt - der Entwicklung einer autonomen, verantwortungsbereiten Person angesehen. Gibt es diese Kindergruppen noch, gibt es noch die "besten" und "allerbesten" Freundinnen und Freunde, die all diese Zerwürfnisse, Neuanfänge, geteilten Geheimnisse, Entdeckungen, von denen andere nichts wissen dürfen, Regeln und Rituale durchstehen und miteinander teilen? Ja, aber dennoch sind Kinder dieses Alters offenbar sehr viel mehr als früher darauf angewiesen, dass die langwierigen Aushandlungsprozesse unterstützt werden. Ich erzähle immer gern, dass in dem Fußballspiel zehnjähriger Jungen, das wir gefilmt hatten, länger gestritten als der Ball getreten wurde. Diese Zeit zur Auseinandersetzung, zum Streit und eben auch zur Einigung darf den Kindern nicht beschnitten werden. "Das gehetzte Kind" war übrigens schon vor 30 Jahren einmal ein Bestsellertitel (19).

Kinderromantik ist nicht am Platz. Im Namen von Gleichheit und Gerechtigkeit wird in diesem Alter noch viel nach dem Motto "Wie Du mir, so ich Dir" aufgerechnet; der Respekt für die Interessen und Bedürfnisse des anderen geht manches Mal unter; es gibt erstickenden Gruppendruck, auch Vorurteile, Mobbing und Diskriminierung, daneben jedoch ebenfalls hochherzige Hilfen, erstaunliches Einfühlungsvermögen und manches Mal mutiges Eintreten gegen Gemeinheiten. All das ist Stoff der Moralentwicklung.

Die Kinder verstehen, dass Mutter und Vater, Lehrerin, Lehrer, Erzieherin, Erzieher manche Probleme nicht mehr für sie lösen können. Eigene Verantwortung beginnt. Mutter oder Vater mögen sagen: "Versuch 's doch noch mal!" Hingehen und es tun muss das Kind selber, und Kinder dieses Alters wissen, dass die Eltern ihnen manche Probleme nicht mehr abnehmen können. Die Chancen für diese Erfahrungen zunehmender Eigenverantwortung müssen den Kindern gesichert werden.

Nun aber zu einem Bereich der Kinderwelt, den es in den 1980er und 1990er Jahren noch nicht gab und der vieles zu überwuchern scheint, was vorher Kinderwelt bestimmte:

Medien im Leben der Kinder

Viele Beobachter glauben, dass Medien traditionelles Kinderleben weitgehend zerstören. Es geht ja längst nicht mehr allein um Fernsehen und Video, sondern um technisch perfekte Spiele, einige amüsant und lehrreich, andere fragwürdig, aber technisch perfekt, um Internet, iPhones, Smartphones, iPads, Mails, Twitter und Netzwerke. Man befürchtet, das alles verschöbe die Grenze zwischen Realität und virtueller Welt.

Wir beobachten alle, wie fasziniert Kinder von dieser Technik sind; sie sind hinter dem Modernsten her, übertrumpfen sich mit den Raffinessen, sind traurig, wenn sie nicht das Tollste haben; verstehen viel davon und erleben es ohne Kulturpessimismus.

Zerstört es die Kinderwelt wirklich? In der jüngsten Befragung des LBS-Kinderbarometers geben die Kinder an, dass ihnen Sport und Zeit mit Eltern viel mehr Spaß bereiten. Dennoch verbringen sie viel Zeit mit diesen Geräten - Zeit, die von ohnehin knapper Zeit abgeht. Was bleibt für die Peers und Freunde, ist die Sorge. Vielleicht geht die Entwicklung mehr zu Lasten der verzweigten Kindergruppen, aber weniger zu Lasten der Freundschaften? Freundinnen, Freunde sind den Kindern offensichtlich nach wie vor wichtig.

Ein anderes Bedenken kreist um den Ausweg, den diese Medien Kindern anbieten, wenn es Ärger mit den Freunden gibt. Das spannende iPad könnte die Abwägung, wann man weggeht oder gegenhält, nachteilig beeinflussen und damit wichtige Sozialerfahrung reduzieren.

Besonders bedenklich ist für viele Erwachsene, dass diese Medien nun endgültig die Grenzen zwischen Erwachsenenwelt und Kinderwelt einzureißen scheinen. Kinder können ohne viel Aufwand alle die Themen aufdecken, vor denen sie schützende Eltern und Lehrer/innen bewahren wollten: Gewalt, Porno, Katastrophen, Elend. Es sind grausame Realitäten dieser Welt, und statt länger zu versuchen, sie zu verbergen, müsste man den Kindern endlich helfen, sich von diesen Themen nicht ängstigen und nicht falsch faszinieren zu lassen, sondern sich mit ihnen, soweit sie es zunehmend können, aktiv auseinanderzusetzen. Was für hervorragende Themen könnten sie für Schule und andere Bildungsstätten sein!

Rechte des Kindes

Die Kinder, über die wir sprechen, sind nicht Objekte des Wohlwollens, sondern Subjekte mit Rechten, die völkerrechtlich kodifiziert sind. Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes, ratifiziert von der DDR 1990 und von der Bundesrepublik 1992, enthält selbstverständlich einen Artikel über das Recht auf Bildung, und zwar auf eine umfassenden Bildung, die - ich zitiere den Artikel 29 - "darauf ausgerichtet sein muss, die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen" (20).

Es geht den Staaten, die die Konvention ratifiziert haben - so gut wie alle! - , nach dem Wortlaut der Konvention um weit mehr als um schulischen Fächerunterricht. Wenn die Staaten umsetzen würden, was sie in der Konvention beschlossen haben, müssten die Schulen ihre Zielsetzungen erweitern, um dem Sport, der Musik, den Künsten, der natürlichen Umwelt, den Menschen- und Kinderrechten, also auch der Verständigung, der Toleranz, der Beteiligung und der demokratischen Bildung, in Theorie und Praxis mehr Raum zu geben.

Mit Sicherheit können Schulen das nicht allein. Zu einem Verbund von Einrichtungen, die das breite Spektrum von Entwicklung und Bildung der Kinder fördern, könnte auch der Hort gehören, der sich an vielen dieser Themen beteiligt könnte.

Viele einzelne Artikel aus der Konvention sind für Bildungsstätten, auch den Hort, relevant, besonders jedoch die übergreifenden Prinzipien der Konvention:

  • das Recht auf Nicht-Diskriminierung (Artikel 2),
  • das Recht auf vorrangige Erwägung des Kindeswohl (Artikel 3),
  • das Recht darauf, dass die weitere Entwicklung des Kindes immer offen zu halten ist (Artikel 6), und
  • das Recht auf Gehör und Beteiligung (Artikel 12).

Ich möchte hier nur auf das zentrale Recht auf Beteiligung eingehen (21). Nach der Gesetzeslage überall in der Welt kann ein Kind - abhängig vom Alter - viele Entscheidungen noch nicht selber fällen. Aber es kann daran beteiligt werden - bis hin zu dem Punkt, dass das Kind einen Vorschlag macht, der von Eltern, Schule oder in Gerichtsverfahren von einem Richter angenommen wird.

Beteiligung ist manchmal auch ein Element eines formellen Verfahrens: Klassenrat, Kinderkonferenz, Schülersprecher. Vorher und zuerst ist Beteiligung jedoch: mit dem Kind reden, zuhören, dem, was es sagt, Gewicht geben. Und das bezieht sich auf alle kleineren und größeren Fragen und Probleme, aber ist gerade im Bildungsprozess von essentieller Bedeutung.

Wir alle wissen, dass Bildung, Lernen und Persönlichkeitsentwicklung an dem anschließen müssen, was ein Kind - für den Erwachsenen gilt das ebenso - schon weiß, schon kann und worum seine Gedanken ohnehin schon kreisen. Orientierung an der "zone of proximal development" hat dies Vygotsky genannt, zu übersetzen mit: Zone, in der die nächsten Entwicklungs-/ Lernschritte zu erwarten sind. Diese Zone muss man erkennen, und dafür muss man mit den Kindern reden, ihnen zuhören und das Gesagte aufgreifen. Beteiligung ist das Lebenselixier von Entwicklung und Bildung.

Ich denke, es ist die Stärke des Horts, mit den Kindern reden zu können, und dabei alles einzufangen, was ich in meinen Punkten vorher als Entwicklungsaufgaben dieser Altersstufe ausgeführt habe:

  • Eltern anzusprechen, aufzuklären und zu ermutigen und das Gespräch zwischen Eltern und Kindern zu stärken;
  • die Themen der Schule zu ergänzen, indem die Fragen, Ängste und Sehnsüchte der Kinder aufgegriffen werden;
  • die Kinder untereinander dazu zu bringen, sich zuzuhören und die Sichtweisen und Erwartungen der anderen ernst zu nehmen;
  • mit den Kindern zu erkunden, was fair, gerecht und rücksichtsvoll ist und an welche Regeln und Grenzen man sich halten soll; sowie
  • die Medien als Teil ihrer Realität anzuerkennen und das, was sie in Kinderzimmer und Gehirne spülen, mit ihnen zu bearbeiten.

Manches davon könnten auch die Schulen übernehmen und werden es auch tun, vor allem wenn sie sich weiter über den Tag ausdehnen. Es tut den Kindern jedoch gut, noch einen anderen Ort zu haben, mit der Schule verbunden, aber doch auch eigenständig,

  • den sie freier mitgestalten können als die Schule,
  • an dem sie Interessen verfolgen können, die in der Schule zu kurz kommen,
  • wo sie miteinander Fähigkeiten entwickeln und praktisch erproben können, die sie im sozialen, emotionalen, praktischen und mitbürgerlichen Leben brauchen, und
  • wo sie nicht unter Leistungsdruck stehen, sondern Neugier Vorrang hat.

Daher unterstütze ich den selbständigen Hort - um der Kinder und ihrer Entwicklung willen!

Anmerkung

Dieser Artikel entspricht einem Vortrag auf der Tagung "Welche Horte brauchen Kinder", veranstaltet von der Abteilung Kindertagesbetreuung und familienunterstützende Angebote des Brandenburgischen Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport, im Jugendbildungszentrum Blossin (Brandenburg) vom 27. bis 28.02.2012.

Endnoten

  1. Krappmann, L. (2000): Die Entwicklung der Kinder im Grundschulalter und die pädagogische Arbeit im Hort. In: Berry, G./Pesch, L. (Hrsg.): Welche Horte brauchen Kinder? Ein Handbuch. Neuwied: Luchterhand, S.130-150
  2. www.ganztaegig-lernen.de/23-thesen-fuer-eine-gute-ganztagsschule
  3. Ganztägige Bildung und Betreuung an Schulen (GBS) - Evaluation der Pilotierung an sieben Standorten im Schuljahr 2010/2011
  4. Daten zur körperlichen Gesundheit und zum psychischen Wohlbefinden sind zu finden im Jugendgesundheitssurvey 2003, DJI-Kinderpanel 2005, LBS-Kinderbarometer Deutschland 2007, KiGGS 2007, HBSC 2008 und der mit dieser Studie verbundenen BELLA-Studie 2006. Ich habe sie aus Oggi Enderleins Text übernommen: Pädagogische Beziehungen und Menschenrechtsbildung in der Schule. Vortrag in der Internationalen Konferenz "Menschenrechtsbildung in Schule und KiTa". Reckahn (Brandenburg), 03.-04.10.2011. Es gibt außerdem noch die World Vision Kinderstudie 2010, die KIM- und die FIM-Studien des Medienpädagogischen Verbunds Südwest aus 2010 und 2011 sowie international vergleichende und nationale UNICEF-Studien aus 2010 und 2011.
  5. Kinder- und Jugendberichte sind Pflichtberichte nach dem KJHG für den Deutschen Bundestag. Die Ritalin-Daten stammen vom Bundesinstitut für Arzneimittel und stehen auf S. 113. Der 13. Kinder- und Jugendbericht ist zu finden unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93144/f5f2144cfc504efbc6574af8a1f30455/13-kinder-jugendbericht-data.pdf
  6. Kerstan, T./Kammertöns, H.-B.: "Deutsch ist der Schlüssel": Sinkende Schülerzahlen, mehr Einwandererkinder - der PISA-Forscher Jürgen Baumert warnt vor einem Bildungsabstieg. DIE ZEIT, Nr. 17 vom 20.04.2011. Im Internet unter: www.zeit.de/2011/17/C-Interview-Baumert
  7. Expertenrat "Herkunft und Bildungserfolg": Empfehlungen für bildungspolitische Weichenstellungen in der Perspektive auf das Jahr 2020 (BW 2020): Stuttgart: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2011. www.kultusportal-bw.de/servlet/PB/show/1285001/ExpertenberichtBaW%FC_online.pdf
  8. Heckman, J.J./Krueger, A.B. (2004): Inequality in America: What role for human capital policies? Cambridge, MA: MIT Press. Auch: Heckman, J.J. (2006): Skill formation and the Economics of Investing in Disadvantaged Children. Science, 312 (no. 5782), S. 1900-1902
  9. Ludwig Liegle hat dies jüngst kritisch angemerkt: Liegle, L. (2012): Vorschulische Frühförderung oder Innere Reform der Sekundarschule? Lehren und Lernen, 38, 2, S. 36-39
  10. Consortium for Longitudinal Studies (1983): As the wing is bent...: Lasting effects of pre-school programms. Hillsdale NJ: Erlbaum
  11. Sammons, P./Sylva, K./Melhuish E./Siraj-Blatchford I./Taggart, B./Hunt, S./Jelicic, H. (2008): Effective Preschool and Primary Education 3-11 Project (EPPE 3-11). Influences on children's cognitive and social development in year 6. Nottingham: DCSF Publications (Research Brief) (DCSF-RB048-049). Anmerkung: Year 6 bezieht sich nicht aufs Alter des Kindes, sondern auf die sechste Schulklasse. Siehe auch: Forschungsergebnisse zur Effektivität frühkindlicher Bildung: EPPE, REPEY und SPEEL. www.kindergartenpaedagogik.de/1615.html
  12. Erster Kinder und Jugendreport. Berlin: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) 2010, S. 18, und Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2012): FIM-Studie 2011. Familie, Interaktion, Medien, www.mpfs.de
  13. Zweite World Vision Kinderstudie: "...Vielmehr sind es mit einem Anteil von 30% vorrangig die Kinder, deren Eltern arbeitslos sind oder die aus sonstigen Gründen keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, sowie im Falle von Erwerbstätigkeit zu 31% die Kinder von erwerbstätigen Alleinerziehenden, die fehlende elterliche Zuwendung beklagen". www.worldvision-institut.de/kinderstudien-kinderstudie-2010-zusammenfassung.php?mysid=bqruxvtz
  14. UNICEF Innocenti Research Centre (2010): The children left behind: A league table of inequality in child wellbeing in the world's rich countries, www.unicef-irc.org/publications/619, und (2007): Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries, www.unicef-irc.org/publications/445
  15. Sullivan, H.S. (1982): Die interpersonale Theorie der Psychiatrie. Frankfurt a.M.: Fischer. Man sollte sich vom Titel nicht abschrecken lassen: Es ist ein gutes Buch über Kinder und ihr Heranwachsen.
  16. Einige Information dazu auf der Internetseite: www.unicef.org/education/index_focus_schools.html
  17. Tenorth, E. (2010): Rochow redivivus. Festrede anlässlich der Wiedereröffnung des Rochow-Museums Reckahn am 20. August 2011.
  18. Krappmann, L./Oswald, H. (1996): Alltag der Schulkinder. Weinheim: Juventa
  19. Elkind, D. (1991): Das gehetzte Kind. Köln: Bastei-Lübbe. Amerikanische Erstauflage in den 1970er Jahren.
  20. Text der Konvention auf der UNICEF-Internetseite: www.unicef.de/fileadmin/content_media/Aktionen/Kinderrechte18/UN-Kinderrechtskonvention.pdf. In anderen Artikeln wird vom Recht des Kindes "auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung" angemessenen Lebensstandard gesprochen, oder davon, dass die "körperliche, geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung" des Kindes sichergestellt werden muss (Artikel 32).
  21. Ein anderes, auch für den Hort sehr relevantes Thema ist die Inklusion der Kinder mit Behinderung, die nicht nur in Artikel 23 der Kinderrechtskonvention verlangt wird, sondern eine zentrale Forderung der UN-Konvention über die Rechte der Personen mit Behinderung ist.