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Zitiervorschlag

Zwischen Sozial- und Schulpädagogik: die Ganztagsgrundschule

Tassilo Knauf

 

Die Entwicklung der Ganztagsschule in Deutschland

Der Erziehungswissenschaftler Ludwig Furck beschrieb im Jahr 1963, wie er sich die Schule der Zukunft vorstellte: "Die Schule im Jahr 2000 wird eine 'Tagesheimschule' von 8.00 bis 16.30 sein. Das bedeutet keineswegs, dass die Zahl der Unterrichtsstunden einfach vermehrt wird, sondern man wird Erfahrungen der Jugendpflege und der Gruppenpädagogik weitgehend berücksichtigen. Dazu gehört auch all das, was in der schwedischen [...] Schule selbstverständlich ist: das Mittagessen, die Mittagsruhe, Sport und Spiel. Die neue Schule bietet individuelle Studienmöglichkeiten in Werkstatt, Labor oder Bibliothek. Sie ist offen für Initiative der Schüler und ein Ort jugendgemäßen Lebens und Arbeitens" (Furck 1963, S. 501).

Doch so neu ist die Idee der Ganztags- oder Tagesheimschule gar nicht. Eine ganztägige Organisation der Schule war in Deutschland und in anderen europäischen Ländern bereits im 19. Jahrhundert üblich. Der Unterricht fand in der Regel von 8 bis 12 Uhr und nachmittags von 14 bis 16 Uhr statt. Die mittägliche Unterbrechungszeit diente dem Mittagessen zu Hause, als Pause und zur Vorbereitung für den Nachmittagsunterricht (vgl. Ludwig 2008, S. 261).

Bereits im 17. Jahrhundert hatte der damals bedeutendste Pädagoge Johann Amos Comenius (1590-1670) eine solche Form der Schulorganisation empfohlen. Sie entsprach dem damals üblichen Tätigkeitsrhythmus der Arbeitswelt, vor allem dem des Handwerks. Das inhaltliche Hauptkennzeichen dieser traditionellen Ganztagsschule war die Konzentration auf den Unterricht. Aus diesem Grund wurde sie als Schule mit geteilter Unterrichtszeit bezeichnet. Diese Organisationsform hielt sich in Deutschland im Volksschulbereich noch bis in das 20. Jahrhundert hinein. Doch schrittweise wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland aus dieser Ganztagsschule eine Halbtagsschule. Die Umstellung zur Vormittagsschule erleichterte zudem die bis zum Ersten Weltkrieg noch verbreitete Kinderarbeit in Landwirtschaft und z.T. auch im Gewerbe.

Zur gleichen Zeit, als sich in Deutschland die Halbtagsschule durchzusetzen begann, forderten Reformpädagogen eine Ganztagsschule, die sich von der bisherigen reinen Unterrichtsschule unterscheiden sollte. Die pädagogischen Programme der Landerziehungsheime und der "Erziehungsschule" legten den Fokus auf eine ganzheitliche Menschenbildung. Es wurde ein rhythmisierter Tagesablauf entworfen, der es ermöglichte, den Regelunterricht mit körperlichen Betätigungen, Formen musisch-künstlerischer Bildung und meditativen Elementen in Gestalt von abendlichen Besinnungsstunden zu vereinbaren (vgl. Ludwig 2005, S. 263).

Weitere Impulse für eine Veränderung im deutschen Schulwesen gingen im frühen 20. Jahrhundert von der Wald- und Freiluftschulbewegung aus. Auch in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gingen wichtige Anregungen für die Gestaltung einer ganztägigen Schule von der Reformpädagogischen Bewegung aus. Die damals entworfenen Konzepte enthielten bereits die Aspekte der "Öffnung von Schule" und der "Rhythmisierung des Tages" (vgl. Appel/ Rutz 2009, S. 19 f.). Man forderte wie heute eine Mittagsmahlzeit, Freizeitangebote, Arbeitsgemeinschaften und Förderunterricht.

Diese Konzepte blieben vereinzelt. Erst ein halbes Jahrhundert später (1968) gab es mit der Empfehlung des Deutschen Bildungsrats zur Entwicklung von Ganztagsschulen ein bildungspolitisch hochrangiges Votum zugunsten schulischer Ganztagserziehung. Aber auch diese Empfehlung blieb zunächst weitgehend ohne Wirkung, bis Anfang der 1990er Jahre eine Neubelebung der Bemühungen um ganztägige Schulkonzepte einsetzte. Diese Entwicklung wurde wesentlich ausgelöst durch den erheblichen öffentlichen Druck, die schulischen Öffnungs- und Betreuungszeiten familien- und beschäftigungsfreundlicher zu gestalten. Hintergrund war die kontinuierlich wachsende Beteiligung von Frauen, auch jüngerer Mütter, am Erwerbsleben. Ihre Wiedereingliederung in den Beruf wurde umso schwieriger, je länger ihre "Babypause" dauerte.

Die Politik begnügte sich zunächst mit der Zwischenlösung einer Halbtagsgrundschule mit verlässlichen Öffnungszeiten zwischen 8 und 13 Uhr und prägte dafür neue Begrifflichkeiten: "Schule von 8 bis 1", "Ganze Halbtagsschule", "Volle Halbtagsschule", "Verlässliche Grundschule" (vgl. Holtappels 1997; Brei/ Knauf 2000). Mit dem Modellversuch der Bund-Länder-Kommission "Integration schul- und sozialpädagogischer Handlungskonzepte im Rahmen ganztägiger Gestaltung des Schullebens in der Grundschule" (1993-1998) wurden dann aber auch pädagogische Qualitätsmerkmale für den schulischen Ganztagsbetrieb im Primarbereich herausgearbeitet (vgl. Knauf u.a. 1996).

Als mit den ersten Ergebnissen der PISA-Studie Ende 2001 deutlich wurde, dass vor allem die Staaten beim Schulleistungsvergleich der 15-Jährigen erheblich besser abgeschnitten haben, die über ganztägige schulische oder schulnahe Betreuungsangebote verfügten, war die deutsche Bildungspolitik schließlich bereit, konsequenter die Ganztagsschulidee zu verfolgen. So wurde im Mai 2003 als Reaktion auf die schlechten Leistungen bei PISA die Verwaltungsvereinbarung zum Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung (IZBB)" von Bund und Ländern unterzeichnet.

Mit dem IZBB "...soll die Schaffung einer modernen Infrastruktur im Ganztagsschulbereich unterstützt und der Anstoß für ein bedarfsorientiertes Angebot in allen Regionen gegeben werden"(Bundesministerium für Bildung und Forschung 2003, S. 2). Durch das Investitionsprogramm sollen zusätzliche Ganztagsschulen geschaffen und bestehende Ganztagsschulen qualitativ weiterentwickelt werden. Die Fördersumme von vier Milliarden Euro, die vor allem die baulichen Rahmenbedingungen für den Ganztagsschulausbau schaffen sollte, war zunächst für den Zeitraum von 2003 bis 2007 bestimmt. Die Förderlaufzeit wurde 2005 bis zum Jahr 2009 verlängert. Gefördert werden sollten neu entstehende oder für einen Ausbau vorgesehene Ganztagsschulen, die ein eigenes pädagogisches Konzept aufweisen. Zudem sollten Schulen mit Hort sowie Kooperationsmodelle zwischen Schulen und Trägern der Jugendhilfe finanziell gefördert werden, sofern sie über ein gemeinsames pädagogisches Konzept verfügen.

Die angestrebte Richtung einer pädagogisch integrativen Ganztagsschulentwicklung wurde zunächst in Rheinland-Pfalz (2002) und dann in Nordrhein-Westfalen (2003) aufgegriffen. Die Initiative in Rheinland-Pfalz ist nicht auf die Grundschule konzentriert und sieht auch eine zahlenmäßige Begrenzung der beteiligten Schulen vor (immerhin 300 im Primar- und Sekundarbereich bis zum Jahr 2006). 2002 starteten in Rheinland-Pfalz rund 80 Ganztagsschulen, in NRW ein Jahr später etwa 240 (vgl. Blum 2006, S. 26 ff.; Adelt/ Reichel 2009, S. 59 ff.). Im Jahre 2009 waren in NRW bereits rund 2.400 Schulen in Ganztagsschulen umgewandelt (vgl. ebd., S. 60). Dabei handelt es sich um so genannte offene Ganztagsschulen.

Formen ganztägiger Betreuung und Erziehung

Es gibt viele Formen, aber auch Begriffe im Bereich der Ganztagsbetreuung. Zudem hat es innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte, in denen sich die Ganztagschulidee und dann auch ihre Umsetzung stark entwickelten, Begriffsverschiebungen gegeben. 1991 teilen Jörg Ramseger und Ursula Neumann Schulen In Hinblick auf den Zeitrahmen der täglichen Verweildauer der Kinder in der Schule so ein:

  1. Halbtagsschulen

  2. Vollständige Halbtagsschulen: Das sind Schulen mit einer für alle Kinder durchgängigen Unterrichts- oder Betreuungszeit von 8 bis 13 Uhr auch bei Erkrankung einzelner Lehrkräfte.
  3. Erweiterte Halbtagsschulen: Das sind Schulen, die für Kinder, deren Eltern es wünschen, ein Mittagessen und eine anschließende pädagogische Veranstaltung (z.B. Hausaufgabenbetreuung) anbieten.
  4. Tagesheimschulen: Das sind Schulen wie erweiterte Halbtagsschulen, die aber zusätzlich über ein Betreuungsangebot vor 8 und nach 16 Uhr verfügen.
  5. Ganztagsschulen: Das sind Schulen, die einen durchgängigen pädagogisch gestalteten Aufenthalt aller Kinder an fünf Tagen von 8 bis 15.30 Uhr anbieten; dabei ist es für die Kinder verpflichtend, dieses Angebot an mindestens drei Tagen zu nutzen.
  6. Schule-Hort-Kombinationen: Diese entstehen, wenn Halbtagsschulen mit organisatorisch und personell selbstständigen Horten oder Kindertagesstätten zusammenarbeiten, dabei die gleichen Gebäude nutzen und eventuell auch punktuell gemeinsame pädagogische Angebote entwickeln (vgl. Neumann/ Ramseger 1991, S. 16 ff.).

Zwölf Jahre später vereinfacht der Ganztagsschulexperte Heinz Günter Holtappels die Liste der Grundformen von Ganztagsbetreuung und kommt auf drei Modelle:

  1. "Ganztagsschule in gebundener Form als integriertes Modell"
  2. "Schule in offener Form als Ganztagsangebot"
  3. "Kooperation von Schule und Jugendhilfe als additiv-duales System" (Holtappels 2003, S. 10 f.)

Neben der Kooperation von Schule und Jugendhilfe (= Schule-Hort-Kombination) konzentriert sich Holtappels auf die Unterscheidung zwischen einer verpflichtenden Ganztagsschule und eine offenen Ganztagsschule, deren Ganztagsangebote nur von einem Teil der Schülerinnen und Schüler genutzt wird. Beide Schulformen verfügen über "erweiterte Lernangebote in Arbeitsgemeinschaften, Kursen, Projekten, Fördermaßnahmen und Hausaufgabenbetreuung, eine Mittagsmahlzeit und offene Spiel- und Freizeitangebote" (ebd., S. 11). Doch die gebundene Ganztagsschule verbindet diese Aktionsformen mit dem Unterricht zu einem pädagogischen Gesamtkonzept, für das alle an dieser Schulform tätigen Pädagoginnen und Pädagogen gemeinsam verantwortlich sind. Dabei wird darauf geachtet, dass Unterricht und andere Aktionsformen, z.B. Spiel und Entspannung, aber auch Hausaufgabenbetreuung, Förderangebote, musisch-kulturelle, bewegungsorientierte oder andere Angebote, möglichst in einem lebendigen Wechsel stattfinden. Zugleich wird versucht, von einem kleinteiligen Stundenplan wegzukommen, um Lernhandlungen der Kinder in größere Zeitblöcke einzubinden, mindestens in Doppelstunden. Man spricht bei diesen Bemühungen dann von der Herstellung einer "Rhythmisierung" von Zeit und Aktivitäten.

Die Konferenz der Kultusminister der deutschen Bundesländer (KMK) hat sich intensiv mit dem Thema Ganztagsschulen beschäftigt. Sie definiert Ganztagsschulen als Schulen, die an mindestens drei Tagen in der Woche (über den Vormittagsunterricht hinaus) ein mindestens siebenstündiges Ganztagsangebot bereitstellen. Ferner müssen die Schülerinnen und Schülern, die am Ganztagsangebot teilnehmen, ein Mittagessen erhalten können. Die Angebote am Nachmittag sollen in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem vormittäglichen Unterricht stehen. Die Schulleitung hat die Aufsicht und Verantwortung bei der Organisation der Ganztagsangebote (vgl. KMK 2007, S. 4).

Die KMK unterscheidet zwischen vollgebundenen, teilgebundenen und offenen Ganztagsschulen. Entsprechend muss zwischen drei Formen der Ganztagsversorgung differenziert werden, zwischen

 

  • Integrierter,
  • additiver und
  • additiv-dualer Ganztagsversorgung.

 

Das integrierte Modell existiert in gebundener Form mit fester und verpflichtender Schulzeit für alle Schüler der Schule. Es erfolgt möglichst in zeitlicher Rhythmisierung und Verzahnung von Unterricht, Arbeitsgemeinschaften, Projekten, Fördermaßnahmen, Hausaufgabenbetreuung und Freizeitangeboten. Lehr- und sozialpädagogisches Personal arbeiten zusammen.

Das additive Modell besteht beim schulischen Ganztagsangebot in offener Form mit fester Schulzeit und freiwillig zu nutzenden Angebotselementen für einen Teil der Schülerschaft. Schwerpunktmäßig konzentriert sich dieses Angebot auf Mittagessen, Spiel, Sport und Freizeitgestaltung sowie Hausaufgabenhilfe. Erbracht wird es durch Lehr- und sozialpädagogisches Personal, z.T. in außerschulischer Trägerschaft (vgl. Prüß 2008, S. 622).

Das additiv-duale Modell sieht eine Kooperation von Schule und Jugendhilfe vor. Hier findet die Betreuung auf freiwilliger Basis zu festen Zeiten meist in Horträumen außerhalb schulischer Unterrichtszeiten statt oder ist Bestandteil von Angeboten der Jugendhilfe mit Schwerpunktsetzungen auf Freizeitangeboten und Hausaufgabenbetreuung (vgl. Holtappels 2006, S. 6).

Politische und finanzielle Bedingungen von Ganztagsschulgründung und Ganztagsschulbetrieb

Ganztagsschulen und Schulen, die zu Ganztagsschulen umgewandelt werden sollen, haben in der Regel nicht den Spielraum, sich für das eine oder andere Modell zu entscheiden. Denn der Schulträger - das sind meistens die Städte oder Gemeinden - legt vorab fest, welche Form eine Ganztagsschule haben soll. Die Option des Schulträgers kann dem Wunsch eines Kollegiums Rechnung tragen, wenn dieses seine Ziele begründet, hartnäckig und geschickt in die Öffentlichkeit und in die politischen Entscheidungsgremien einbringen kann. Ein viel höheres Gewicht bei der Entscheidungsfindung haben allerdings der Elternwille und vor allem die bildungspolitischen Zielvorgaben auf kommunalpolitischer Ebene. Der Elternwunsch wird oft sogar durch schriftliche Befragung der Familien in Gemeinden oder Stadtteilen erhoben. Ihre bildungspolitischen Zielvorgaben haben die Parteien beschlossen und in ihren Kommunalwahlprogrammen dokumentiert.

Ein besonders wichtiger Faktor für die kommunalpolitische Entscheidung zugunsten einer Ganztagsschule und für ein bestimmtes Ganztagsschulmodell sind die Finanzierungsgrundlagen. In der Regel werden diese nicht allein aus den Haushaltsmitteln des Schulträgers gespeist, sondern basieren auf der Nutzung verschiedener Quellen. Die wichtigsten sind Zuschüsse des Bundeslandes und Elternbeiträge. Landeszuschüsse ergeben sich meistens erst dann, wenn das Land - ähnlich wie die einzelne Kommune - ein bildungspolitisches Programm zugunsten schulischer Ganztagsbetreuung und -erziehung beschließt. Dies wurde in den Jahren 2003 bis 2009 den Ländern relativ leicht gemacht, weil der Bund im Rahmen des Investitionsprogramms "Zukunft Bildung und Betreuung (IZBB)" den Länder insgesamt vier Milliarden Euro zur Verfügung stellte (s.o.).

Nordrhein-Westfalen bekam als bevölkerungsreichstes Bundesland am meisten von dieser Summe und entwickelte schon 2003 ein ausgeklügeltes Programm, um die verfügbaren Bundesmittel gezielt einzusetzen (vgl. Adelt/ Reichelt 2009). Dazu wurden zusätzliche Landesmittel flüssig gemacht und zugleich die Kommunen verpflichtet, für den Ganztagsschulausbau eigene Finanzmittel beizusteuern. Da die Kommunen in Nordrhein-Westfalen wie in den anderen Bundesländern finanziell unterschiedlich und z.T. eher schlecht gestellt sind, erhielten sie die Möglichkeit, ihren jährlichen Finanzierungsanteil durch die Beteiligung von Eltern als Nutznießer von Ganztagsangeboten zu senken. Die Eltern bezahlen in NRW einen monatlichen Elternbeitrag, der nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt etwa zwischen 30 und 100 Euro liegt. Ein Elternbeitrag darf allerdings nur dann erhoben werden, wenn die Nutzung der Ganztagsangebote durch die Kinder nicht verpflichtend ist. Dies ist einer der Gründe, weswegen sich das Land NRW bei der Entwicklung seines Ganztagsschulprogramms für die eindeutige Bevorzugung der offenen Ganztagsschule entschieden hat. Bei der Darstellung der Formen der Ganztagsschule wurde ja bereits darauf hingewiesen, dass die "Schule in offener Form als Ganztagsangebot" nur für einen Teil der Schülerinnen und Schüler Ganztagsangebote macht, nämlich für den der Schülerschaft, der von seinen Eltern gegen Bezahlung eines monatlichen Beitrags für den Ganztag angemeldet wurde. Das geschieht in der Regel jeweils für ein Jahr.

Politische Erwartungen an Ganztagsschulen und Zielperspektiven für Ganztagsschulen

Bund, Länder und Kommunen verbinden bildungs-, sozial-, beschäftigungs- und familienpolitische Erwartungen mit dem Ausbau von Ganztagsschulen. Der vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Schule, Jugend und Kinder entwickelte Runderlass zur "Offenen Ganztagsschule im Primarbereich" vom 12.02.2003 nennt z.B. Zielperspektiven und Grundsätze für die Ganztagsgrundschule:

  • Schaffung einer "neuen Lernkultur zur besseren Förderung der Schülerinnen und Schüler"
  • Förderung der "Zusammenarbeit von Lehrkräften mit anderen Professionen"
  • Ermöglichung von "mehr Zeit für Bildung und Erziehung, individuelle Förderung, Spiel- und Freizeitgestaltung"
  • Verbesserung der "Rhythmisierung des Schulalltags" (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder 2004, S. 4 f.).

Die offene Ganztagsgrundschule soll die "Selbstständigkeit und Eigenverantwortung" der Schülerinnen und Schüler und die "Erziehungsarbeit" der Eltern unterstützen. Voraussetzung ist die "Kooperation mit vielfältigen Partnern", zum Beispiel (kommunale) Einrichtungen der Kulturvermittlung, Kirchen, Vereine und engagierte Einzelpersonen (vgl. ebd.).

Ähnlich wie in Rheinland-Pfalz wird von vier Inhaltsbereichen der außerunterrichtlichen Ganztagsangebote ausgegangen; diese sind u.a. dem Gedanken der Schulöffnung und Projektorientierung verpflichtet:

  1. Förderangebote insbesondere für Kinder mit besonderen Bedarfen oder Begabungen
  2. themenbezogene, klassenübergreifende Aktivitäten, Arbeitsgemeinschaften und Projekte
  3. Angebote zur musisch-ästhetischen Erziehung und Bildung sowie Bewegung und Spiel
  4. Projekte der (außerschulischen) Kinder- und Jugendhilfe (vgl. ebd., S. 6).

Unter pädagogischen Aspekten lassen sich folgende Hintergründe und Zieldimensionen von Ganztagserziehung und Ganztagsbetreuung formulieren (vgl. Holtappels 2003):

  1. Stark angestiegener Bedarf an sozialerzieherischer Betreuung: "Veränderte Erwerbs- und Familienstrukturen gewährleisten heute oft keine verlässliche Betreuung der Kinder. Die Gründe liegen in gestiegenen Anteilen Alleinerziehender, erwerbstätiger Mütter und beiderseits erwerbstätiger Eltern sowie in der Tatsache, dass mittlerweile weniger Familien mit mehr als zwei Generationen zusammen leben" (ebd., S. 2).
  2. Wachsender Bedarf der Kinder nach regelmäßigen, selbstorganisierten Sozialerfahrungen mit Gleichaltrigen: "Eine weitere Begründungslinie ergibt sich aus den heutigen Kontaktmöglichkeiten der Kinder ... Analysen zeigen, dass knapp ein Drittel 31 % aller Kinder zeitweise als Einzelkinder aufwachsen... Hinzu kommen Veränderungen im räumlichen und sozialen Umfeld der Familien, die es für einen großen Teil der Kinder offensichtlich erschweren, in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld umfangreiche Kontakte zu Gleichaltrigen aufzubauen" (ebd., S. 3). Kinder brauchen aber Erfahrungen der Partizipation und des Gemeinsinns (vgl. ebd., S. 4).
  3. Wandel der Bildungsanforderungen: Für das Bestehen in einer zunehmenden Komplexität von Lebensalltag und Berufsleben werden immer wichtiger "...vor allem Schlüsselqualifikationen und metakognitive Kompetenzen, die quer zu den Fachgebieten liegen: Fähigkeiten zum Denken in Zusammenhängen und Durchschauen komplexer Prozesse, Umgang mit Informationssystemen, Analyse- und Planungsfähigkeit, logistisches Denken, Dispositionswissen, kommunikative Kompetenz und Teamfähigkeit" (ebd., S. 3).
  4. Medienkompetenz und Zurückgewinnung unmittelbarer Erfahrungen: "...der Lebensalltag (wird) immer mehr von Medieneinflüssen, Informationsüberflutung und Expertenwissen bestimmt. In dem Maße, wie in der Wohnumwelt Spiel- und Erfahrungsräume verloren gehen und die Mediatisierung von Erfahrung voranschreitet, werden praktische Eigentätigkeit und authentische Erfahrungen verdrängt, gewinnt selbsttätiges und erfahrungsbezogenes Lernen ebenso wie (...) Lernen in Zusammenhängen an Bedeutung" (ebd.).
  5. Verstärkung von Fördermaßnahmen: "Strukturelle und schulorganisatorische Defizite hat (...) die PISA-Studie aufgedeckt... Die leistungsschwächsten Schüler/innen schneiden hierzulande im Vergleich schlechter ab als der OECD-Durchschnitt. Ein beträchtlicher Teil der Schüler/innen, besonders die lernschwächeren, werden offensichtlich mit der bislang entwickelten Lernkultur und Unterrichtsgestaltung nicht wirksam erreicht... Schüler/innen aus unteren sozialen Schichten und damit aus weniger bildungsorientierten Elternhäusern einerseits und aus einem nicht-deutschen familiären Umfeld andererseits haben erheblich mehr Probleme, bei der Kompetenzentwicklung mitzuhalten, und gehören überproportional zu den Risikogruppen" (ebd., S. 4 f.).

Aus dieser Analyse folgert Holtappels die Notwendigkeit, folgende Zieldimensionen mit ganztägig gestaltetem Schulalltag zu verknüpfen:

  1. Intensivierung von Förderung und Optimierung von Lernchancen
  2. Schulöffnung und Entwicklung einer differenzierten Lernkultur Freizeit im Schulleben
  3. Schule als Raum für Gemeinschaftserleben, soziales und kulturelles Lernen
  4. Schulleben als Feld für Partizipation und Demokratielernen (vgl. ebd., S. 5 ff.; Holtappels 2003, S. 18 f.).

Betreuung und Erziehung werden dabei integriert in Handlungsstrukturen, in denen das Kind im Mittelpunkt steht und in der Auseinandersetzung seiner Lebenswelt selber Bildungsprozesse entfaltet.

Gestaltungsmöglichkeiten und Leitbilder für Ganztagsschulen

In den wenigen Jahren seit Start des Investitionsprogramms "Zukunft Bildung und Betreuung (IZBB)" im Jahr 2003 hat sich die Zahl der Ganztagsschulen, insbesondere der Ganztagsgrundschulen, in Deutschland vervielfacht. Jede der neu entstandenen Ganztagsschulen hat einen komplizierten Gründungs- oder Umwandlungsprozess hinter sich. Für die elf Ganztagsgrundschulen in der westfälischen Stadt Herford ist er dokumentiert worden (vgl. Knauf 2004; Knauf 2008):

Bei der Planung der Offenen Ganztagsgrundschulen in Herford haben sich in ganz spezifischer Weise Impulse aus der Schulpraxis, kommunalpolitische Interessen und bildungspolitische Rahmenvorgaben des Landes miteinander verschränkt: Ausgangspunkt war im Herbst 2002 das Interesse einer Schulleiterin, mit ihrer Schule an den sich anbahnenden Planungen des Landes zur Einführung Offener Ganztagsschulen zu partizipieren. Der Schulleiterin gelang es, den Schulträger für die Idee zu interessieren, der einen externen Experten mit der Prozessberatung beauftragte. Bei den Vorarbeiten wurde klar, dass es vor allem darum gehen musste, verschiedene Organisationen mit unterschiedlichen Kompetenzen in eine netzwerkartige Zusammenarbeit einzubinden:

  • die Einzelschulen, auf die bei der Planung, Umsetzung und beim langfristigen Betrieb die Hauptlast an Verantwortung und Arbeit ruhen würde,
  • der Schulträger, der politische, finanzielle und administrative Risiken und Belastungen eingehen musste, allerdings auch ein erweitertes Dienstleitungsspektrum für die Stadt gewinnen konnte,
  • die Schulaufsicht, die beratend und Ressourcen sichernd an dem Gesamtprozess zwangsläufig beteiligt war,
  • "Schule & Co" als Gemeinschaftsprojekt des Schulministeriums NRW und der Bertelsmann-Stiftung, das sich für die Entwicklung des Kreises Herford zu einer Bildungsregion engagierte und dafür bundesweit Beachtung fand,
  • die Kinder- und Jugendhilfeträger, die bislang den wesentlichen Anteil an der Schulkinderbetreuung hatten, dafür auch Ressourcen zur Verfügung stellten, deren Abbau nun mit der Entstehung offener Ganztagsgrundschulen drohte,
  • der externe Berater von der Universität Duisburg-Essen, der Überzeugungsarbeit gegenüber den Schulen, der Schulöffentlichkeit und den Kinder- und Jugendhilfeträgern leisten und Vorschläge für den Planungsprozess vorlegen musste.

Anfangs wurden verschiedene informelle Gespräche mit Vertretern der verschiedenen Beteiligtengruppen geführt. Auf deren Grundlage konnte dann im Februar 2003 ein Workshop mit allen involvierten Organisationen und Gruppen veranstaltet werden. Er diente vorrangig der Verständigung über Qualitätsmerkmale offener Ganztagsgrundschulen in Herford. Die in mehreren Arbeitsgruppen erzielten Ergebnisse wurden ausführlich protokolliert. Auf der Grundlage der Protokolle wurden ein Leitbild und ein Handlungskonzeptes für die Entwicklung Offene Ganztagsgrundschule in Herford erstellt. Im März 2003 konnte dann bereits eine Beschlussfassung des Schul- und Jugendhilfeausschusses über die Umgestaltung von Grundschulen in offene Ganztagsgrundschulen erzielt werden. Einen Monat später beschlossen dann auch die Lehrerkollegien und Schulkonferenzen von fünf Grundschulen die Umwandlung ihrer Schulen in Ganztagsgrundschulen und erarbeiteten dafür pädagogische Konzepte. Unmittelbar darauf wurden entsprechende Anträge bei der Bezirksregierung eingereicht, die im Juni/Juli 2003 genehmigt wurden.

Dann begann die konkreten Arbeit in den Stadtteilen: Es mussten die erarbeiteten pädagogischen Konzepte in Aktivitäten-, Zeit-, Raum- und Personalpläne überführt werden. Dabei wurde immer wieder auf das im Frühjahr entwickelte Leitbild und Handlungskonzept als Orientierungshilfe zurückgegriffen. Hieraus ein Ausschnitt: "Die Stadt Herford übernimmt Verantwortung für ihre Kinder. Sie sichert ihnen eine qualitative Vielfalt von Lern-, Handlungs-, Welt- und Ich-Erfahrung, um sie für das Leben jetzt und in der Zukunft stark zu machen. Die Offene Ganztagsgrundschule unterstützt den schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag, sie vermittelt Kindern in einer sich verändernden Lebenswelt entwicklungsnotwendige Erfahrungen, sie unterstützt und entlastet die Familien und nicht zuletzt erleichtert sie den Frauen die Teilhabe am berufliche, sozialen und kulturellen Leben. Die Offene Ganztagsschule erfüllt damit sowohl pädagogische als auch gesellschaftliche Funktionen" (Knauf 2004, S. 38).

In den sieben Seiten umfassenden Gesamttext werden folgende Qualitätskriterien für offene Ganztagsgrundschulen angesprochen:

  • Elternpartizipation
  • Offene Ganztagsgrundschule als Nachbarschaftsschule
  • Anknüpfen an gewachsene Angebotspalette
  • Kooperation mit verschiedenen Partnern
  • Einsatz Professioneller und (ehrenamtlich) Engagierter
  • Gleichberechtigung, Kooperation und Zuständigkeitsklarheit der Akteure
  • kontinuierliche Qualitätsprüfung
  • Balance zwischen Verantwortung der Einzelschule und zentraler Koordination
  • Weiterentwicklung der Schulprogramme
  • OGS als bewegte, ästhetische und kulturelle Schule
  • Orientierung an Bildungsansprüchen:
    • Sprachkompetenz
    • individuelle Förderung
    • Persönlichkeitsentwicklung
    • soziale Kompetenzen
    • lebenspraktische Kompetenzen
    • Schlüsselqualifikationen
    • Zeitrhythmisierung
    • flexibles Verhältnis von Wahlfreiheit und Verbindlichkeit
    • Beratung von Eltern und Kindern.

Die Ganztagsschule als kindorientierte Schule

Bei der Gestaltung der Einzelschule als Ganztagsschule ergibt sich die Chance, mit Professionellen aus verschiedenen pädagogischen Bereichen, mit ehrenamtlich Tätigen und den Familien eine Schule als Bildungs-, Erfahrungs- und Lebensort zu gestalten, in der Kinder Schulzeit als Lebenszeit erfahren können (vgl. Preiß 2009, S. 94). Eine solche Schule müsste nach Christine Preiß folgende Momente sicherstellen:

  • ein "breites, auswahlfähiges Angebot" an "freizeitpädagogisch orientierten außerunterrichtlichen Aktivitäten" (ebd., S. 97)
  • "die Öffnung von Schule für außerschulische Institutionen und Personen" (ebd., S. 99)
  • "Partizipation (...), damit die Schüler/innen frühzeitig lernen, ihren Neigungen und Fähigkeiten nachzuspüren" (ebd.)
  • das gemeinsame Mittagessen als Erfahrung "sozialer und kultureller Traditionen und Riten (Esskultur)" (ebd., S. 100)
  • "eigene Räume" für das Ausleben kindlichen "Bewegungs-, Spiel- und sportlich-kulturellen Aktivitätsdrangs, aber auch als "Inseln der Ruhe" für "physische und mentale Regeneration" (ebd.).

Einen besonderen Stellenwert für die Ausprägung einer kindorientierten Ganztagsschule nehmen die Freizeitangebote ein. Sie bieten Schülerinnen und Schülern "Gelegenheit, ihren sozialkommunikativen Bedürfnissen, die ein wichtiger Teil informellen Lernens sind, Raum zu geben. Freundschaften und Cliquen machen die Schule für Kinder und Jugendliche zu einem attraktiven Treffpunkt. Gerade im Kindesalter sind Schulen wahre Kontaktbörsen für Beziehungen, Orte der Begegnung..." (ebd., S. 98).

Eine Schule, die solche Gesichtspunkte in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, verändert das Bild von Schule als einer Unterrichtsanstalt, in der Erwartungen an die Schulkinder gestellt werden wie

  • "still sitzen
  • leise sein
  • Konzentration auf Dinge, die sich Erwachsene ausgedacht haben
  • Kommunikationsbedürfnis unterdrücken
  • 'lernen' nur durch Erwachsene
  • verhalten wie Erwachsene" (Enderlein 2006, S. 28).

In einer kindorientiert gestalteten Schule kommt es zu einer Änderung der Blickrichtung: "Weg von der Frage: 'Wie muss ein Kind sein, damit es der Schule gerecht wird?' hin zu der Frage: 'Wie muss die Schule sein, damit sie dem Kind gerecht wird?'" (ebd., S. 52). Das bedeutet konkret, dass Kinderwünsche, wie sie verschiedentlich empirisch erfasst wurden, in das Schulkonzept einbezogen und in der schulischen Alltagspraxis umgesetzt werden, z.B. ein Mehr an

  • "Sport, Spiel, Bewegung
  • in Kleingruppen (...) zusammen sein
  • Projektarbeit
  • Nutzung von Turnhalle, Computerräumen" (Kinderbarometer NRW 2003 und Hessen 2004; zit. nach Enderlein 2006, S. 38).

Die Berücksichtigung von Kinderwünschen in der (Ganztags-) Schule bedeutet nicht nur mehr Freude bei der täglichen Schulzeit und mehr Identifikation mit der Schule, sondern auch eine Förderung "geistig-kognitiver und sozialer Kompetenzen" sowie der "Ich-Entwicklung" (ebd., S. 18 ff.).

Schulöffnung und Kooperation mit außerschulischen Partnern

"Öffnung von Schule war das Motto der 90er Jahre. Jetzt öffnen sich zahlreiche Partner zur Schule, weil sie sie angesichts des veränderten Zeitbudgets der Kinder ihre Angebote (...) verändern müssen" (Adelt/ Reichel 2009, S. 62). Mit Schulöffnung wird der von dem Philosophen Seneca vor fast 2000 Jahren formulierten Forderung nachgegangen: Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir.

Mit der Schulöffnung werden "Erfahrungsbrücken zur natürlichen, sozialen, technischen und kulturellen Umwelt" geschaffen (Knauf 2009) und damit Weiterentwicklungen des Lernbegriffs vollzogen (vgl. Fuchs 2004, S. 7). Nach Heinz Günter Holtappels ermöglicht die Schulöffnung als Chance der erweiterten Schulzeit in der Ganztagsschule eine "...Anreicherung der Lerninhalte durch Lernanlässe der Schulumwelt (...), es werden Fragen und Lösungsansätze erarbeitet, Produkte erstellt (z.B. Auswertungen, Ausstellungen, Aufführungen), wie etwa Unterrichtseinheiten zum Gewässerschutz, zur Wohnsituation, zur Verkehrsberuhigung oder zu Lebensproblemen alter Menschen. Methodisch geschieht dies in projektartigen Lernarrangements über Formen wie Spurensuche, Werkprodukte, Ausstellungen, Aufführungen, Experimente, Analysen oder Gestaltungspläne. In räumlicher Hinsicht werden außerschulische Lernorte erschlossen und genutzt (...) (z.B. Verkehrsstraße, Museum, Handwerksbetrieb, Bachbett, Zoo, Stadtparlament)" (Holtappels 2003, S. 7).

Ein großer Teil dieser Aktivitäten lässt sich kaum ohne Kooperationspartner verwirklichen. Das können Einzelpersonen (Laien oder Experten) oder Organisationen (z.B. Behörden, Verbände oder Vereine) sein (vgl. ebd.). Holtappels unterscheidet dabei zwischen verschiedenen Formen oder Zielsetzungen der Kooperation:

  • gemeinsames Engagement von Schule und außerschulischem Partner bei der Bearbeitung eines gerade behandelten Themas, etwa mittels "...Anreicherung der Lerninhalte durch Fachleute (Zeitzeugen im Geschichtsunterricht, Künstler für Kunstprojekte, Übungsleiter in Sport-AG, Ökologiefachleute im Biologie-Projekt, Museumspädagogen im Fach Technik etc.)" (ebd.)
  • gemeinsames Gestalten eines außerunterrichtlichen Ganztagselements wie das Mittagessen (vgl. ebd.)
  • "Durchführung von Arbeitsgemeinschaften und Freizeitangeboten durch nicht-schulische Träger" (ebd.)
  • "Gemeinsame Projekte (etwa Schülertheater in Kooperation mit den städtischen Bühnen, interkulturelle Projekte mit Dritte-Welt-Initiativen, Fassadenbegrünung mit Öko-Initiativen, Kunstprojekte mit beruflichen Schulen)" (ebd., S. 8)
  • "...aktive Teilhabe an gemeinwesenorientierten Belangen (z.B. Biotop-Patenschaften, Anlage von Naturpfaden, Beteiligung an Sammelaktionen, Ausstellungen, Stadtteilfesten, Wettbewerben)" (ebd.)
  • "Angebote der Schule für Schulgemeinde und Nachbarschaft (Elterncafé, Theater für Seniorenheim, Rockkonzert für Stadtteiljugend)" (ebd.).

In den letzten Jahren sind an Ganztagsschulen zahllose Kooperationsprojekte realisiert worden, die der einen oder anderen Kategorie zugeordnet werden können. Viele davon sind auch publiziert worden, z.B. im "Handbuch Zusammenarbeit macht Schule" von Andreas Blum (2006). Zwei der dort dokumentierten Projekte seien hier kurz skizziert:

Das Projekt "Umweltdetektive dem Wetter auf der Spur" wurde von der Naturfreundejugend Rheinland-Pfalz an einer ländlichen Ganztagsschule durchgeführt. "Zu den Themenschwerpunkten gehörte zunächst eine Einführung in die Wetterkunde und Wettervorhersage. Danach wurden eine Wetterstation und verschiedene einfache Messgeräte gebaut sowie Messungen und Experimente durchgeführt. Außerdem ging es um Wetterphänomene, Wetterzeichen in der Natur, das Thema Sonne, Wind, Luft und Luftverschmutzung. Die konkreten Themenschwerpunkte wurden unter Berücksichtigung der Wünsche, Ideen und Möglichkeiten der Schule sowie der teilnehmenden Schüler/innen individuell besprochen, geplant und umgesetzt (ebd., S. 59).

Das Projekt "Abenteuer, Spiel, Spaß" wurde an zwei Ganztagförderschulen in Koblenz mit dem Jugendwerk der Arbeiterwohlfahrt Rheinland/Hessen-Nassau verwirklicht. Schwerpunkt war das soziale Lernen, dem in Kleingruppen durch "Ausflüge in die nähere Umgebung", "Klettern in der freien Natur" und "Bau einer Seilrutsche" nachgegangen wurde (ebd., S. 62).

Qualitätsmerkmale von Ganztagsschule

In vielen Veröffentlichungen werden die Kategorien Zeit, Raum, Aktionen und Personal als zentral für die Qualität von Ganztagsschulen herausgestellt. Repräsentativ hierfür sind z.B. die Veröffentlichungen von Holtappels (vgl. u.a. Holtappels 2003, S. 7 ff.). Mit weitgehend den gleichen Kategorien hat schon Aristoteles die Qualität der in der Antike wichtigsten Bildungsinstitution, nämlich des Theaters, einer Analyse unterzogen (vgl. Knauf 2005, S. 190). Dabei spielt das Aushalten und Ausbalancieren von Gegensätzen bzw. Spannungsbögen ("Antinomien") eine besondere Rolle.

Das Prinzip des Ausbalancierens von Spannungsbögen spielt in der pädagogischen Literatur insgesamt eine große Rolle. So fragt Ralf Laging: "Wie können Anspannung und Entspannung, Konzentration und Zerstreuung, Ruhe und Bewegung in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden?" (Laging 2006, S. 81). Heike de Boer thematisiert einen anderen Gegensatz: das Spannungsverhältnis zwischen Verpflichtung und Spiel, zwischen Regulierungen und Gemeinsinn einerseits sowie Spontaneität, Lustbetonung, individuellen Bedürfnis andererseits (vgl. de Boer 2006, S. 61 ff.).

Gegensatzpaare durchziehen notwendigerweise eine Lern- und Bildungskultur, die sich sowohl auf die Bedürfnisse der Kinder als auch auf die Erwartungen der Gesellschaft an die nachwachsende Generation bezieht:

  • Geborgenheit versus Öffnung
  • Verlässlichkeit versus Flexibilität
  • Konzentration versus Spontaneität
  • Nähe, Wärme versus Distanz, Autonomie
  • Offenheit versus Struktur
  • Differenzierung versus Gemeinschaftlichkeit
  • Spiel versus Arbeit
  • Sinnlichkeit versus Abstraktion
  • Situationsbezug versus Zielorientierung
  • Vielfalt versus Übersichtlichkeit.

Qualität ganztägiger Bildungsangebote prägt sich auch in Spannungsbögen der bereits genannten Kategorien aus:

  • Aktion,
  • Person,
  • Raum und
  • Zeit.

Diese Kategorien sind allerdings nicht durchgängig sauber zu trennen. Beim Thema Hausaufgabenbetreuung kommt man schnell von der Betrachtung der Art und Bearbeitungsweise der Hausaufgaben (Aktion) zu Fragen nach der Qualifikation und Betreuungsintensität des Personals, der Gestaltung eines Hausaufgaben-Raumes und nach der Festlegung oder Flexibilität von Hausaufgaben-Zeiten.

Greifbar wird die Verzahnung der vier Kategorien auch in den zehn Merkmalen entwickelter Schulkultur, die von der Niederländerin Grazena van Bijk formuliert wurden:

  1. Schaffung einer flexiblen Lernumwelt mit Werkstattcharakter
  2. Gestaltung der Schule als "kommunikative Drehscheibe" für selbst organisiertes Lernen
  3. Flexibilisierung und Bedürfnisorientierung der Lernzeiten
  4. Öffnung der Schule als Begegnungsstätte z.B. zwischen den Generationen und Kulturen
  5. Verstärkung des Erfahrungslernens gegenüber der Belehrung
  6. "bewegliche Choreographie" des Methodenwechsels im Unterricht
  7. Verstärkung des Lernens mit allen Sinnen in Verfolgung des Ziels, die Einheit von kognitiver, sozialer und körperlich-ästhetischer Erziehung erfahrbar zu machen
  8. Aufklärung und Bildung als gemeinsame Aufgabe von Schulen und Eltern
  9. Verstehen von Störungen und Verhaltensauffälligkeiten als Signale zur Verbesserung der Kommunikation
  10. Vernetzung des (fachlichen) Lernens mit dem Ziel der Förderung von Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit sowie sozialer Verantwortung (vgl. Knauf 2001, S. 274).

Doch lassen sich auch Präzisierungen vornehmen:

Qualitätskategorie Aktion

Erweiterte Bildungszeiten ermöglichen eine erweiterte Palette von Formen und Inhalten der Auseinandersetzung der Kinder mit sich und den Gegenständen, Strukturen und Prozessen der (Lebens-) Welt:

  • Erkunden
  • Experimentieren
  • Sammeln und Ordnen
  • Körpererfahrung, Ausagieren und Entspannen
  • Zeigen und Vorführen
  • Üben und Trainieren.

Diese Aktionsformen lassen sich innerhalb unterschiedlicher Angebote in Ganztagschulen realisieren:

  • selbst organisierte oder betreute Freizeitaktivitäten
  • Hausaufgabenbetreuung
  • Fördermaßnahmen (z.B. LRS, Sprachförderung, Ergotherapie)
  • Sport und Bewegung, Spiel und Entspannung
  • musisch-kulturelle und ästhetische Bildung einschließlich von Grenzaktivitäten zu Bewegungsangeboten (wie Tanz)
  • schulbezogene Projekte (z.B. Schulgestaltung, Schulgarten, Schulzeitung, Ausstellungen...)
  • stadtteil- oder gemeindebezogene Projekte (z.B. zu Umweltthemen, Kooperation mit Altenheim...)
  • Erwerb alltagsbezogener Fertigkeiten (z.B. Kochen, Backen, Reparieren, Umgang mit dem PC...).

Dieses große, nicht einmal vollständig beschriebene Angebotsspektrum zeigt die großen Möglichkeiten für das Gewinnen von Erfahrungen auf den verschiedenen Ebenen von Kompetenzgewinn. Es zeigt zugleich die Gefahren neuer Unübersichtlichkeit und damit die Notwendigkeit auf, den Gegensatz (die Antinomie) zwischen Vielfalt und Unübersichtlichkeit zu reflektieren.

Eine Rolle spielt dabei das Spektrum der Sozialformen: diese können eher größere Bandbreiten erreichen als in der traditionellen Vormittagsschule: von der Einzel- über Partner-, Kleingruppen bis zur Klassen- und zur Großgruppe (Chor; Gymnastik...). Wichtiger noch ist die Erweiterung der Partizipations- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten. So können Kinder bei der Angebotsplanung beteiligt werden und dabei unterschiedliche Grade der Eigenverantwortung, Mitbestimmung und der Akzeptanz von Vorgaben erfahren (vgl. de Boer 2006).

Partizipative Anteile in der Ganztagsschule lassen sich beispielsweise realisieren bei

  • der Angebotsplanung
  • der inhaltlichen Akzentuierung der Angebote
  • der Wahlmöglichkeiten, Auswahlverfahren und Verbindlichkeiten der Angebotsauswahl
  • der Zeitdauer der Angebote
  • der individuellen Personalwahl...

Die Hausaufgabenbetreuung gilt in der Wahrnehmung der Eltern als "Herzstück" der Ganztagsgrundschule (vgl. Deckert-Peaceman 2006, S. 97). Im Einzelnen zeigt sich aber ein versteckter Aushandlungsprozess zwischen Eltern, Lehrkräften, Betreuungskräften und Kindern über die Bedingungen der Hausaufgabenerledigung (vgl. ebd., S. 98). Im Hintergrund steht die Grundfrage nach Sinn und Unsinn von Hausaufgaben. Deren Sinn lässt sich auf prinzipieller Ebene so skizzieren:

  1. Hausaufgaben können die Trennung und Isolation von schulischem Lernen und außerschulischer Freizeit überwinden.
  2. Sie können ein Interessen- und Kommunikationsdreieck zwischen Kindern, Eltern und Lehrkräften schaffen.
  3. Sie fördern den Aufbau lernökologischer Erfahrungen der Kinder in Hinblick auf günstige Zeit- und Raumstrukturen eigenverantwortlichen Lernens.
  4. Sie verstärken die Ausbildung individueller Lernstrategien ohne kontinuierliche Erwachsenenkontrolle (vgl. Knauf 2001, S. 214 f.).

Die letzten beiden Aspekte legen ein "Loslassen" der Kinder nahe. Dieses kann aber bei der Verschiedenheit der Kinder nur schrittweise und bei manchen Kindern nur von Beratung begleitet erfolgen (vgl. ebd., S. 222). Orientierung und Freiraum könnte daher ein wichtiges Gegensatzpaar bei der Hausaufgabenbetreuung sein. Ein konkreter Vorschlag wäre:

  • Kindern feste und betreute Zeiten für die Hausaufgabenerledigung in einem Hausaufgabenraum täglich vorgeben.
  • Kindern entsprechend ihrer sich stabilisierenden Selbstständigkeit individuell die Möglichkeit anbieten, selber Zeiten und Orte der Hausaufgabenerledigung auszuwählen und dabei die Betreuung auf punktuelles in Anspruch nehmen von Beratung zu reduzieren.

Ein solcher Vorschlag kann durch drei Bedingungen unterstützt werden:

  1. Hausaufgaben mit Formen offenen Unterrichts verknüpfen (vgl. ebd., S. 219 ff.)
  2. Hausaufgaben verstärkt mit Kindern oder Kindergruppen differenziert vereinbaren (vgl. ebd.)
  3. Langzeitaufgaben vergeben (vgl. Höhmann 2006, S. 30 f.).

Qualitätskategorie Person

Seit der Entwicklung der Ganzen (Vollen) Halbtagsgrundschule als Betreuungsschule oder Verlässlichen Grundschule in den frühen 1990er Jahren hat sich das Personalspektrum an Grundschulen mit erweiterten Bildungszeiten erheblich ausdifferenziert. Nicht mehr nur Lehrer/innen und (Hort-) Erzieher/innen sind hier tätig, sondern auch selbstständige Künstler und Musiker, Sport-Übungsleiter, Eltern, Studierende auf Honorarbasis oder ehrenamtlich, "Ein-Euro-Kräfte" und Personen aus der Kooperation mit außerschulischen Partnern wie Theater, Kunst- und Musikschule, Museen, Vereinen oder Umweltorganisationen (vgl. Kamski/ Schnetzer 2005, S. 84 f.).

Diese Entwicklung lässt sich unter zwei Aspekten betrachten:

  1. Ist diese Heterogenität der Akteure ein Gewinn für die Bildungsprozesse von Kindern?
  2. Ist die Heterogenität der Akteure im "Haus des Lernens" überhaupt organisierbar und produktiv nutzbar?

Kinder brauchen Verlässlichkeit der Bezugspersonen, aber auch Wahlmöglichkeiten für die von ihnen bevorzugten Ansprechpartner und erwachsenen "Verhaltensmodelle". Bei der Heterogenität der Kinder sind beide Bedürfnisse unterschiedlich ausgeprägt. Das bedeutet, dass es für die so verschiedenen Kinder günstig ist,

  • (soweit wie möglich) im Ganztag eine kontinuierlich präsente Person erreichen zu können (auch wenn diese sich in einem anderen Raum aufhält),
  • aber auch noch unbekannte Menschen kennen zu lernen und dabei auf Personen zu stoßen, die ihnen besonders "liegen" und zu denen sie eine neue Vertrauensbasis aufbauen können,
  • über Personen Herausforderung zum selbstständig werden zu erfahren und dabei unterschiedliche Grade an Zuwendung und Betreuung kennen zu lernen.

Kinder erweitern auf ihrem Weg zur Selbstständigkeit dabei ihr Spektrum von Bezugspersonen, von Lernformen und Erfahrungsräumen sowie von Themen, die Bildung in einem erweiterten Sinn repräsentieren. Personen mit unterschiedlicher Professionalität können sie als "Lernbegleiter" mitnehmen in unvertraute Erfahrungsregionen und Lernräume. Dies kann vor allem gelingen, wenn Multiprofessionalität an der Schule nicht einhergeht mit "Verinselungen" von pädagogischen Positionen und Verhaltensstilen. Es bedarf großer Anstrengungen, Professionelle mit verschiedenen Schwerpunkten und Ehrenamtliche in eine schulische Personalentwicklung einzubeziehen (vgl. ebd., S. 85 ff.). Es überwiegt zwischen den verschiedenen Professionen ein hohes Maß an Sprachlosigkeit (vgl. Knauf 1995, S. 155 ff.). So bedarf es erheblicher Anstrengungen, um Zeit und Strukturen zu finden für formelle und informelle Kommunikationsformen (Konferenzen, Klausursitzungen, Mitarbeitergespräche, Feste, private Treffs; vgl. u.a. Kamski/ Schnetzer 2005, S. 85 ff.). Ebenso wichtig ist die Pflege von Kommunikationsritualen und von gemeinsamen Aufgaben bei Projekten, Festen und vor allem bei der Weiterentwicklung des Schulprogramms.

Qualitätskategorie Raum

Johanna Forster und Christian Rittelmeyer haben versucht, pädagogische Räume mit Kategorien und Methoden der Wohnforschung zu untersuchen. Forster kommt zu einer Zusammenstellung von Faktoren gebauter Umwelt, die Einfluss auf das Wohlbefinden Heranwachsender haben (vgl. Forster 1997, S. 177 ff.). Sie beschreibt insbesondere die Bedeutung von

  • Licht und Farben
  • Ausblicken in eine natürliche Umgebung
  • Bewegungsmöglichkeiten
  • Balancen zwischen Reizvielfalt und Strukturiertheit der Umgebung
  • Balancen zwischen Dichte und Distanz
  • Bedürfnissen nach Stimulierung, Exploration und Abwechslung
  • Bedürfnissen nach Aneignung, Identifikation und Zugehörigkeit
  • private Räumen und "Exklusivität von Sozialkontakten in kleinen Gruppen".

Rittelmeyer geht von einer anthropologischen Gesamtsicht auf die Interaktion Mensch - Architektur aus. Betont wird die sensumotorische Eigentätigkeit des Heranwachsenden: Architekturbegegnung hat mit Sehen, Tasten, Riechen, Hören und dem Gleichgewichtssinn zu tun (vgl. Rittelmeyer 2004, S. 22 ff.). Gebäudewahrnehmung ist auch Wahrnehmung des eigenen Körpers (vgl. ebd., S. 24). Dabei werden Gebäuden eine menschenähnliche Struktur zugewiesen, sie werden "gestisch-gebärdenhaft" erlebt (vgl. ebd.) und z.B. als "brutal" oder "feindlich" empfunden (ebd., S. 27 u. 29).

Ein Haus des Lernens muss solche emotionalen Komponenten des Wohlfühlens in schulischen Räumen berücksichtigen. Räume in Ganztagsschulen müssen das Wohlbefinden der Kinder über manchmal die doppelte Zeitspanne aufrecht erhalten als in der traditionellen Halbtagsschule; die Ansprüche an Raumqualität sind dementsprechend besonders hoch. So wurden bei der Ausgestaltung der offenen Ganztagsgrundschulen in der Stadt Herford dann auch folgende Prinzipien reflektiert: Räume

  • besitzen menschliches Maß,
  • sind binnenstrukturiert und bieten persönliche Rückzugsmöglichkeiten,
  • sind nicht zu dicht gefüllt,
  • sind von den Kindern mit gestaltbar (vgl. Frey 2005, S. 25).

Das Spektrum von Handlungsformen in Ganztagsschulen ist gegenüber der Halbtagsschule signifikant ausdifferenziert. Parallel erweitert sich die Palette von Kinderbedürfnissen. Opaschowski spricht u.a. von den Bedürfnissen nach Rekreation, Kommunikation, Partizipation, Kompensation und Kontemplation (zit. nach Burow 2006, S. 113). Dies muss sich in der Funktionalität des Raumangebots widerspiegeln. So sind möglichst ein Speisebereich, Bewegungs- und Entspannungsräume, Begegnungsräume, Werkstätten, Räume für gestaltende Aktivitäten, Ausstellungs- und Präsentationsräume vorzuhalten. Dabei entsteht ein antinomisches Verhältnis zwischen zweckmäßiger, funktionaler und flexibler Raumgestaltung, die verschiedene, nicht alle vorab planbare Raumnutzungen ermöglicht.

Qualitätskategorie Zeit

Die Dimension Zeit ist naturgemäß das zentrale Thema bei der Gestaltung von Schulen mit erweiterter Bildungszeit. Die Diskussion des Zeit-Themas enthält vorrangig zwei Komponenten: die "Entdichtung" und die "Rhythmisierung" von Schulzeit.

Mit Entdichtung ist vor allem das Ziel gemeint, enge Zeittakte, die das Lernen in mechanische Ablaufschemata zwängen, zu überwinden. Der 45-Minuten-Takt und die in ihn gepressten standardisierten Unterrichtsphasen bilden solche verdichteten Lernstrukturen. Sie führen zu Hektik und Störungen, denn Lernen und Denken brauchen Zeit. Ein Vorschlag zur Entdichtung wäre, Lernaktivitäten nicht auf dem stets gleichen, abstumpfenden Anspannungsgrad zu halten. Durch Wechsel der Intensitätsgrade des Lernens lassen sich prägnante, sich voneinander unterscheidende Situationen schaffen, die der Bedürfnisstruktur von Kindern folgen (vgl. Knauf 1997, S. 37).

Bei der schon in der Reformpädagogik geforderten Rhythmisierung täglicher Schulzeit geht es um die Herstellung von Balancen zwischen Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit einerseits sowie Offenheit und Situationsbezug andererseits. Rhythmisierung meint darüber hinaus den Wechsel der Lehr-/ Lernmethoden (vgl. Kummer 2006, S. 20) sowie zwischen "Anspannung und Entspannung, Konzentration und Zerstreuung, Ruhe und Bewegung" (Laging 2006, S. 81). Der Bildungsprozess soll damit nicht mehr dem "Diktat" der Zeitstruktur unterworfen sein (vgl. Ramseger 2009, S. 121 ff.)

Wichtige Elemente einer schulischen Zeitrhythmisierung sind

  • ein gleitender täglicher Schul- und Unterrichtsbeginn
  • Herstellung großer Zeitblöcke (z.B. 90 Minuten), die flexibel binnenstrukturiert werden können
  • individuell variable Pausenlösungen
  • Bewegungs- oder Entspannungs-"Bänder", die den Unterricht unterbrechen (vgl. u.a. Knauf 1997, S. 37).

Ein weiterer wichtiger Aspekt einer Rhythmisierung von Schulzeit ist das Einführen von Ritualen, wie dem Morgen- und dem Abschlusskreis, die als Eckpunkte oder Zwischenakzente dem Schultag Momente erlebbarer Strukturierung verleihen (vgl. Knauf 2001, S. 186 ff.; Ramseger 2009, S. 123 u. 127 ff.).

Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung von Ganztagsschulen

In den letzten anderthalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam es in Deutschland zu intensiven Versuchen, Ansätze des Qualitätsmanagements von der Privatwirtschaft auf den Non-Profit-Bereich und speziell auf den öffentlichen Jugend- und Bildungsbereich zu übertragen. Vor allem die Kommunen bemühten sich vor dem Hintergrund knapper Haushaltmittel um die Optimierung von Kosten-Nutzen-Relationen. Ziel war es,

  • mit einem streng kontrollierten Ressourceneinsatz ein definierbares Qualitätsniveau öffentlicher Dienstleistungen zu sichern und
  • den Einsatz von Haushaltsmitteln gegenüber der Steuer zahlenden Öffentlichkeit transparent zu machen (vgl. Tietze/ Viernickel 2003, S. 10).

Die seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre entstanden Qualitätsmanagementkonzepte haben alle mit einem Basisdilemma zu tun: Wer besitzt die Autorität der Definition von Qualität?

  • Die Kinder als Besucher von Bildungseinrichtungen,
  • ihre Eltern als diejenigen, die den Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsauftrag vergeben,
  • die Lehr- und pädagogischen Fachkräfte, die der Einrichtung ein Profil geben und sich täglich mit den Kindern in Interaktion befinden,
  • die Leitungen, die Verantwortung für die Arbeit und ihre Qualität in der Bildungseinrichtung übernehmen,
  • die Träger, die Einrichtungen gründen, (teil-) finanzieren und beaufsichtigen,
  • die staatliche Öffentlichkeit, die nach dem Grundgesetz für die Gleichheit der Lebensverhältnisse und für das Wohlergehen der Mitglieder der Gesellschaft verantwortlich ist,
  • die Vertreter der einschlägigen Fachdisziplinen, die Studien über das anstellen, auswerten und vergleichen, was Kinder für ihre Entwicklung brauchen und wie dies mit gesellschaftlichen Strukturen und Veränderungen in Einklang zu bringen ist (vgl. Tietze/ Viernickel 2003, S. 10 f.)?

Tietze und Viernickel leiten aus dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ab, dass "die Interessen, Bedürfnisse und Sichtweisen der Kinder und ihrer Familien ins Zentrum zu stellen" sind (ebd., S. 11). Von zentraler Bedeutung für die Konstruktion von Qualitätsmanagementkonzepten ist die Differenzierung zwischen verschiedenen Ebenen oder Dimensionen der Qualität in Kindertageseinrichtungen. Tietze unterscheidet zwischen

  • Strukturqualität,
  • Prozessqualität und
  • Orientierungsqualität, mit der die pädagogischen Überzeugungen und Werte der professionellen Akteure gemeint sind, z.B. ihr Bild vom Kind (vgl. ebd., S. 11).

Ein wichtiger Aspekt bei Entwicklung und Anwendung von Verfahren der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung ist die Grundsatzfrage: Was steht im Vordergrund:

  1. das Messen und Prüfen pädagogischer Dienstleistungen sowie deren Planung und Erstellung nach standardisierten Kriterien, um Fehler und Nutzungsdefizite der Dienstleistungen möglichst zu vermeiden (vgl. Rugor/ Studzinski 2003) oder
  2. die Entfaltung einer breiten, Professionelle, ehrenamtlich Tätige, Eltern und auch Kinder einbeziehende Diskussion über Qualitätsziele und deren Erreichung bis hin zur Entfachung von Begeisterung für die Verbesserung von Arbeitsprozessen und deren Ergebnissen (vgl. Engelhardt 2001).

In den letzten Jahren haben sich Tendenzen verstärkt, beide Konzepte miteinander zu verbinden. Dabei spielen Verfahren der Organisationsentwicklung, Mitarbeitergespräche, Kinder- und Elternbefragungen, Zielvereinbarungen und Controlling eine große Rolle. Wichtig geworden ist die Verknüpfung von Methoden der Selbstüberprüfung der professionellen Akteure (Selbstevaluation) mit der gelegentlichen Fremdüberprüfung durch die Visitation (Besuche und Befragungen) externer Experten.

In NRW ist diese Entwicklung besonders weit vorangeschritten. Seit 2006 gibt es hier einen landesweit organisierten Qualitätsentwicklungsprozess speziell für Ganztagsschulen. In ihm verständigen "...sich Land, Schulträger, öffentliche und freie Träger der Jugendhilfe, Sport- und Kulturorganisationen sowie die Schulaufsicht über gemeinsame Ziele und Umsetzungsschritte" (Adelt/ Reichel 2009, S.65). Zur Initiierung und Umsetzung von Qualitätsentwicklungsprozessen in den einzelnen Ganztagsschulen hat die Serviceagentur "Ganztägig Lernen (SAG)" in Münster im Auftrag des Ministeriums für Schule und Weiterbildung das Evaluationsinstrument "Qualitätsentwicklung in Ganztagsschulen (QUIGS)" erarbeitet. Die Ganztagsschulen verfügen damit über ein strukturiertes Verfahren zur Selbstevaluation bei der Überprüfung von Unterricht und außerunterrichtlichen Angeboten mithilfe der Kriterien Raum, Zeit, Umgang mit Heterogenität, Lebensweltbezug, Sozialräumlichkeit, Partizipation und Kooperationskultur (vgl. ebd., S. 64). Zusätzlich gibt es in NRW ein dichtes Netz von Beratung durch 54 regionale "Kompetenzteams" der Lehrerfortbildung, rund 50 auf die Ganztagsschulentwicklung spezialisierte örtliche "Qualitätszirkel" sowie durch die Fachberatung der Landesjugendämter und Unterstützungssysteme der Sport- und Kulturorganisationen (vgl. ebd., S. 65 f.).

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