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Zitiervorschlag

Zuhören und Zuhören erfahren: Lernen fördern - Beziehungen stärken

Martin R. Textor

 

Kleinkinder erleben es heutzutage eher selten, dass ihnen ein Erwachsener längere Zeit konzentriert zuhört, ihre Aussagen wertschätzt und darauf angemessen reagiert. Heute sind in der Regel beide Elternteile (voll-) erwerbstätig und lassen ihre Kinder zumeist ganztags in Kitas und von Tagespflegepersonen betreuen. So ist die "Familienzeit" im Vergleich zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark geschrumpft. Hinzu kommt, dass Eltern die eigene Freizeit aktiver - und häufiger alleine oder zu zweit - gestalten, da das Angebot an Events größer geworden ist und mehr Wert auf die sportliche Betätigung gelegt wird (z.B. in Fitnessstudios). In der wenigen Zeit, in der Eltern mit ihren Kleinkindern kommunizieren, hören sie oft nur "mit halben Ohr" zu, da sie gleichzeitig Fernsehen schauen oder mit ihrem Tablet, Laptop bzw. Smartphone beschäftigt sind. Zudem lassen berufliche Anforderungen und "Freizeitstress" Eltern häufig gereizt reagieren, wenn Kinder ihre Zeit beanspruchen. Ruhige, ungestörte Gespräche, bei denen ihnen wirklich zugehört wird, führen Kleinkinder vielfach nur noch mit ihren Großeltern, sofern sie diese häufiger für sich alleine haben. Solche Situationen treten aber seltener als früher auf, da heute viele Großväter und -mütter noch erwerbstätig sind, oft weit entfernt wohnen oder bei Besuchen eher das Gespräch mit ihren Kindern als mit den Enkeln suchen.

Obwohl Kleinkinder im Durchschnitt rund 36 Stunden pro Woche in Kindertageseinrichtungen verbringen, erleben sie auch dort nur selten, dass eine Fachkraft ihnen längere Zeit interessiert zuhört. Das mag daran liegen, dass in vielen Bundesländern die Gruppen größer bzw. die Betreuungsschlüssel schlechter geworden sind. Auch hat die Zeit für Gespräche abgenommen, da Erzieher/innen im Gegensatz zu früher mehr Bildungsangebote machen, Kinder regelmäßig beobachten und darüber Dokumentationen anlegen, Kinder mit Sprachdefiziten, "Schulanfänger" und andere Kinder mit besonderen Bedarfen individuell bzw. in Kleingruppen fördern, intensiver mit Eltern kooperieren und mehr Verwaltungsaufgaben erledigen müssen. So ist es nicht verwunderlich, dass sie im Verlauf einer Woche mit vielen Kindern kein einziges Gespräch führen (vgl. Textor 2007).

Die Bedeutung des Zuhörens

Die Erfahrung, dass man als Kleinkind nur selten die ungeteilte Aufmerksamkeit von Erwachsenen erhält, hat Folgen für die soziale, emotionale, kognitive und sprachliche Entwicklung. So ist Zuhören für das Entstehen und Aufrechterhalten von Beziehungen von großer Bedeutung: Hört ein Elternteil oder eine Erzieherin einem Kind nur selten zu, entsteht zwischen beiden Seiten kein wirklicher Austausch. Anstatt Zuwendung, Wertschätzung, Verständnis und Empathie zu erfahren - wichtige Voraussetzungen für intensive (Bindungs-) Beziehungen -, erlebt sich das Kind als "Störfaktor" in der Welt der Erwachsenen. Es fühlt sich ignoriert, ungeliebt und wertlos. Zudem lernt das Kleinkind nicht das "richtige" Zuhören. Dies kann sich im späteren Leben negativ auswirken, wenn Partner, Freunde, Vorgesetzte und Arbeitskollegen den Eindruck haben, ihnen würde nicht zugehört.

Hinzu kommt, dass in der Schule, aber auch in anderen Bildungseinrichtungen und am Arbeitsplatz, Kenntnisse weitgehend über das Zuhören erworben werden. Kann sich ein Schüler nicht auf den Unterricht konzentrieren und den vom Lehrer vermittelten Stoff aufnehmen, wird er bei Prüfungen schlechter abschneiden. Außerdem wird die Sprachentwicklung beeinträchtigt: Sie verläuft schlechter, wenn das Kleinkind nur selten sprachlich kompetenteren Erwachsenen zuhören und mit ihnen ein Gespräch führen, also von ihnen neue Begriffe und einen komplexeren Sprachstil übernehmen kann. Kinder mit Migrationshintergrund und aus sozial schwachen Familien sind hier besonders benachteiligt: Wenn sie von ihren Eltern nur einen kleinen Wortschatz vermittelt bekommen haben, viele Begriffe nicht verstehen und das Zuhören nicht gelernt haben, können sie dem Unterricht nicht folgen und versagen in der Schule.

Zuhören - eine anspruchsvolle Leistung

Deutlich wird, dass Zuhören eine komplexe Fähigkeit ist: Sie umfasst das Hören des gesprochenen Wortes und das Wahrnehmen der parallel erfolgenden nonverbalen Kommunikation sowie das kognitive Verarbeiten dieser Botschaften. So muss eine Person nicht nur die verwendeten Wörter kennen, sondern auch die grammatikalische Struktur der einzelnen Sätze erfassen. Vor allem aber müssen die Inhalte der verbalen und nonverbalen Botschaften in ihrem Zusammenhang und aus der Situation heraus verstanden werden, aber auch im Kontext der Beziehung, der jeweiligen (Sub-) Kultur usw. Dazu muss oft auf frühere Erfahrungen und zuvor erworbene Kenntnisse zurückgegriffen werden. Zugleich müssen die eventuell eine Aussage begleitenden Gefühle empathisch erfasst sowie durch die Botschaft ausgelöste Emotionen kontrolliert werden. Hat eine Person den Eindruck, eine Mitteilung nicht richtig verstanden zu haben, kann sie durch Rückfragen die Unklarheiten zu beseitigen versuchen (Feedback).

Nur wenigen Menschen ist bewusst, dass Zuhören eine schwierige Aufgabe ist - anspruchsvoller als z.B. das Lesen: Es müssen sowohl verbale als auch nonverbale Botschaften aufgenommen und verstanden werden (und nicht nur ein Text); das Zuhören muss an die Redegeschwindigkeit des Sprechers angepasst werden (ein Text kann je nach Schwierigkeit schneller oder langsamer gelesen werden); beim Zuhören zählt nur die Gegenwart (beim Lesen kann vor- und zurückgeblättert werden). Hinzu kommt, dass beim Zuhören die Ablenkung größer ist - beispielsweise durch Hintergrundgeräusche, aus denen die verbale Botschaft erst herausgefiltert werden muss, aber auch durch Ereignisse, die sich vor, hinter oder neben dem Sprecher abspielen.

Kita-Kindern mehr zuhören

Kleinkinder haben ein Recht darauf, dass ihnen richtig zugehört wird. Wenn ihr Gesprächsbedarf unbefriedigt ist, viele ihrer Fragen unbeantwortet blieben und (emotionale) Erlebnisse oft keine Resonanz fanden, sollten Erzieher/innen mehr Zeit zum Zuhören einplanen. Hilfreich sind hier folgende Reflexionsfragen:

  • Wie viel Zeit verwende ich in meiner Gruppe auf das Sprechen und wie viel auf das Zuhören? Was wäre das Ideal?
  • Habe ich in der vergangenen Woche mit jedem Kind ein (zumindest kurzes) Gespräch geführt? Wen habe ich übersehen?
  • Nehme ich mir bei Einzelgesprächen genug Zeit zum Zuhören? Kann ich abwarten, wenn ein Kind nach Worten sucht, minutenlang überlegt?
  • Welchen Zuhörstil praktiziere ich? Konzentriere ich mich eher auf die Person des Kindes, also auf seine Bedürfnisse, Gefühle und Interessen? Oder lege ich den Schwerpunkt auf den Inhalt seiner Botschaft, also auf den Informationsgehalt und die geäußerten Gedanken? Oder interessiert mich vor allem der Handlungsaspekt, also was das Kind getan hat bzw. machen möchte? Sollte ich nicht alle Zuhörstile beherrschen und sie je nach Bedarf einsetzen?
  • Habe ich empathisch zugehört, als ein Kind über Probleme und starke Emotionen sprach (z.B. über eine auseinander gebrochene Freundschaft mit einem anderen Kita-Kind oder über den Tod eines Haustiers)? Oder bin ich darüber hinweggegangen, weil ich keine Zeit hatte, mich in der Situation unwohl fühlte oder nicht wusste, wie ich reagieren soll?
  • Welchen Kindern höre ich häufiger zu? Den viel erzählenden, den stillen, den eher laut oder den eher leise redenden, den gut Deutsch sprechenden oder den radebrechenden Kindern? Den "normalen" Kindern oder den Kindern mit besonderen Bedürfnissen? Den verhaltensauffälligen oder den hoch begabten Kindern?

Erzieher/innen müssen in den ersten Berufsjahren lernen, wie man längere Zeit mit einem Kleinkind kommuniziert - wie man auf seine Äußerungen eingeht, Rückfragen stellt und das Gespräch aufrechterhält. Sie müssen sich auf das Kind konzentrieren, sich ihm körperlich zuwenden, es anschauen, Interesse an seinen Aussagen zeigen, auf seine Gefühle sensibel reagieren, das eigene emotionale Beteiligtsein ausdrücken und Ablenkungen ausblenden (z.B. durch andere Kinder oder durch eigene Gedanken, die nichts mit dem jeweiligen Thema zu tun haben). Dann wird das Gespräch auch zu einer Stärkung der Erzieherin-Kind-Beziehung beitragen.

Das Zuhören ist auch eine wichtige Methode, mit deren Hilfe Erzieher/innen ein Kind in seiner ganzen Individualität erfassen können: seine besonderen Stärken und Schwächen, seine Bedürfnisse und Bedarfe, seine soziale und kulturelle Einbindung. Erst wenn sie ein Kind wirklich kennen, können sie für es notwendige und sinnvolle Erziehungsmaßnahmen und Bildungsangebote auswählen.

Die Kompetenz "Zuhören" in der Kita fördern

Da das Zuhören eine große Bedeutung für das Lernen bzw. die kognitive Entwicklung hat, sollten Kleinkinder bewusst beim Ausbilden dieser Fähigkeit unterstützt werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass Erzieher/innen zunächst einmal überprüfen, ob - und vor allem wann! - Kleinkinder ihnen zuhören. Sie werden feststellen, dass dies eher der Fall ist, wenn sie

  • für Ruhe sorgen, also Hintergrundgeräusche und Ablenkungen reduzieren, sodass sich die Kinder auf ihre Botschaft konzentrieren können;
  • den Abstand zum Kind bzw. zu den Kindern möglichst gering halten;
  • kurze Sätze verwenden und nach jedem Satz pausieren;
  • altersgerecht, klar und eindeutig formulieren;
  • durch Fragen überprüfen, ob sie verstanden wurden;
  • sich an den Interessen der Kinder orientieren;
  • nur wenige Sätze hintereinander sprechen und dann dem Kind bzw. den Kindern das Wort geben;
  • dabei den Kindern genau zuhören und so richtiges Zuhören modellhaft vormachen.

Erzieher/innen sollten die Kinder auch dazu anhalten, Rückfragen zu stellen, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Da Kleinkinder immer wieder solche Erfahrungen machen, halten sie diese für "normal". Sie müssen also lernen, dass dies nicht der Fall ist...

Ferner sollten Kleinkinder lernen, einander zuzuhören (z.B. indem sie gelegentlich gefragt werden, was ein anderes Kind gerade gesagt hat) - was eher in Kleingruppen als beispielsweise im Morgenkreis gelingt. Aber auch im Stuhlkreis kann geregelt werden, dass immer nur das Kind sprechen darf, das einen bestimmten Gegenstand in der Hand hält, und die anderen ihm zuhören müssen. Schließlich gibt es noch eine ganze Reihe von Spielen, durch die das Zuhören gefördert werden kann.

Literatur

Textor, M.R.: Die Erzieherin-Kind-Beziehung aus Sicht der Forschung (2007). http://www.kindergartenpaedagogik.de/1596.html (03.07.2014)

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de