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Zitiervorschlag

Tagesplan für eine Kinderschule

Ingeborg Becker-Textor

 

"Kinderschule", wieder ein neuer Begriff für unseren heutigen Kindergarten? Nein - nur einer der vielen Namen, dem man ihm im Verlauf seiner Geschichte gegeben hat:

  • Kinderbewahranstalt
  • Kleinkinderanstalt
  • Kleinkinderschule
  • Bewahranstalt
  • Kinderschule
  • Anstalt
  • Kindergarten.

Und zu keiner Zeit sollte er nur "bewahren" oder im Vorfeld der Schule schulische Techniken und schulisches Wissen vermitteln. Sind diese verschiedenen Namen nicht vielmehr typisch für die jeweilige Zeit? Sollten wir nicht bemüht sein, auch heute viele dieser Begriffe nicht nur abwertend, sondern auch positiv zu verstehen?

Bewahranstalt - Aufpassen auf Kinder, dass ihnen nichts zustößt. Waren das wirklich die einzigen Inhalte der Arbeit?

Neil Postman spricht vom "Verschwinden der Kindheit", Lloyd de Maus sagt "Hört Ihr die Kinder weinen", Ariès schrieb die "Geschichte der Kindheit". Könnten wir deshalb die Bewahranstalt - und dies insbesondere in der Zeit der Industrialisierung - nicht als Stätte sehen, die "Kindheit bewahrt", die Kinder vor den Gefahren des aufkommenden Verkehrs schützt? Die Kinderarbeit wird ersetzt durch das kindliche Spiel. Jeder Pädagoge mit Praxiserfahrung weiß, dass man Kinder nicht nur aufbewahren kann. Spiel, Bewegung, der Austausch mit anderen, kindliches Neugierverhalten, Spontaneität, Aktivität und Kreativität prägen den kindlichen Alltag. Ist das Aufbewahrung?

Ein Tagesplan für eine Kinderschule aus dem Jahr 1905 mag mehr Aufschluss geben:

Tagesplan für eine Kinderschule

07.00 bis 09.15 Uhr im Sommer und 08.00 bis 09.15 Uhr im Winter: die Kinder versammeln sich und spielen mit Bausteinen und Puppen, bei gutem Wetter im Freien. Die größeren Mädchen stricken. Dann werden die Spielsachen aufgeräumt, um 9.30 Uhr sitzen die Kinder an ihren Plätzen.
09.30 bis 10.00 Uhr: Singen und Beten. Erzählen der biblischen Geschichte und Lernen.
10.00 bis 10.45 Uhr: Austeilen und Essen des Brotes, Aufstellen und Hinausführen der Kinder in guter Ordnung, unter guter Aufsicht.
10.45 bis 11.15 Uhr: Spielen im Garten oder Greif- und Bewegungsspiele.
11.30 bis 12.00 Uhr: Fleckchenzupfen.
12.00 bis 13.30 Uhr: Essen, Waschen der Kinder (In einer Kinderschule, in der die Kinder über Mittag nach Hause gehen, fällt dies alles weg. Das Fleckchenzupfen geschieht dafür in der Arbeitsstunde.)
13.30 bis 14.00 Uhr: Bewegung in frischer Luft oder Marschieren im Saal.
14.00 bis 14.15 Uhr: Singen. Lernen eines Kinder-, Natur- oder Spielliedes.
14.15 bis 15.00 Uhr: im Sommer: Schlafen, im Winter: eine Viertelstunde ruhen, dann Anschauungsunterricht oder Erzählen.
15.00 bis 17.00 Uhr im Sommer, 15.00 bis 16.00 Uhr im Winter: Anschauungsunterricht oder Erzählen, Hinausführen, Spielen im Garten bis zum Schluss, Arbeiten, Beschäftigung:

  • Montag: Netz zeichnen
  • Dienstag: Bauen
  • Mittwoch: Perlen anfassen
  • Donnerstag: Figuren-, Ringe- oder Stäbchenlegen
  • Freitag: Durchstechen

Dann Anziehen der Kinder und Abschluss mit Gesang und Gebet.

Viele dieser Aktivitäten sind auch heute noch in den Kitas zu finden. Statt Ringe- oder Stäbchenlegen werden Mandalas ausgemalt. Damit sollen Beobachtung, Konzentration etc. geübt werden. Perlen anfassen oder Fleckchen zupfen diente der Förderung der Feinmotorik, war eigentlich eine Art "schreibvorbereitende" Übung. Ob man vergessen hat, was in Perlen alles verborgen ist? Das Kind übt sich im Greifen, in der Ordnung von Farben und Formen, in der Treffsicherheit beim Auffädeln... usw. Heute werden viele solcher Fähigkeiten auf Arbeitsblättern geübt.

So ist es nicht uninteressant, wenn man Tagespläne aus verschiedenen Zeiten vergleicht!

Wie sieht ein Tagesplan eines Kindes im Jahre 1987 aus?

07.30 bis 09.00 Uhr: Freispiel (Bauen, Malen, Basteln, Puppenecke ... usw.).
09.00 bis 09.30 Uhr: Aufräumen.
09.30 bis 10.00 Uhr: Gemeinsames Frühstück (in der Mehrzahl der Kindergärten wird nach wie vor gemeinsam gefrühstückt).
10.00 bis 11.00 Uhr: Gezielte Beschäftigung - sog. 2. Spielzeit mit Angeboten wie z.B. Bilderbuchbetrachtung, Faltarbeit, Gespräch über eine Pflanze oder ein Tier usw.).
11.00 bis 11.30 Uhr: Aufräumen. Bis zum Abholen gemeinsames Singen, Bewegungsspiele im Freien, Erzählen einer Geschichte ... usw.
11.30 Uhr: Abholen. Kinder, die über Mittag bleiben, essen um 11.30 Uhr oder 12.00 Uhr und werden von der Erzieherin, die Mittagsdienst hat, betreut (ideal wäre die gemeinschaftliche Erledigung der hauswirtschaftlichen Aufgaben der Erzieherin zusammen mit den Kindern). Häufig ist es jedoch "bequemer", wenn dies die Spülmaschine oder die Putzfrau am Abend erledigt. So werden Kinder und Erzieher/innen aus der Verantwortung entlassen.
12.30 bis 13.30/14.00 Uhr: Ruhen der Kinder (in einigen Kindergärten können die Kinder selbst wählen, ob sie ruhen möchten, in einigen müssen sie alle schlafen - Liege oder Bettchen an Bettchen).
14.00 bis 16.30 Uhr: Freispiel im Raum oder im Freien, Förderangebote für Einzelkinder, Kleingruppen, Spaziergänge ... usw.

Auch hier kann man kritisieren oder positive Förderaspekte hervorheben.

Wodurch unterscheiden sich konkret unsere Tagespläne?

Sind es nicht in erster Linie nur die Rahmenbedingungen, die verschieden sind?

Damals: 1 qm pro Kind
Heute: 2-3 qm.

Damals: 60-70 Kinder in einer Gruppe
Heute: 20-25 Kinder.

Damals: 1 Kraft (oft ohne Ausbildung) pro Gruppe
Heute: 1-2 Kräfte mit pädagogischer Fachausbildung.

Damals: Arbeit in der Großgruppe
Heute: Gruppendifferenzierung bei verschiedenen Angeboten.

Wo liegt wirklich der Unterschied?

Damals sah man die Kindergruppe als Kollektiv, heute gehen wir verstärkt auf das Kind als Einzelwesen zu. Aber haben sich nicht auch unsere Kinder und die Bedürfnisse unserer Kinder verändert?

Bei dem Tagesplan aus dem Jahre 1905 stoßen wir uns an der Formulierung. Was können wir jedoch diesen Aussagen aus unserer modernen Kinderpädagogik gegenüberstellen? Wir wollen es versuchen:

1. Damals: Versammeln der Kinder.
Heute: Die Kindergruppe trifft sich im Kreis, setzt sich auf dem Bauteppich zusammen, versammelt sich auch. Kinderkonferenz heißt das Schlagwort.

2. Damals: Stricken der größeren Mädchen.
Heute: Auch heute lieben die Kinder die "Arbeit" mit der Strickliesel, weben gerne mit Wollfäden oder Stoffstreifen, häkeln Schnüre mit dem Finger, gestalten mit textilen Materialien.

3. Damals: Aufräumen der Spielsachen.
Heute: Ohne bestimmte Ordnungsprinzipien und einen gewissen Ordnungsrahmen kommt auch der heutige Kindergarten nicht zurecht. Es muss auch heute noch aufgeräumt werden.

4. Damals: Sitzen an ihren Plätzen.
Heute: Kinder möchten auch heute einen eigenen Platz: "Mein Platz", "Mein Fach"... usw.

5. Damals: Singen und beten.
Heute: Singen und Beten gehören zum früheren Ordnungsrahmen. Heute "schrumpft" der Gesang im Kindergarten zusehends, und das Gebet gehört leider nicht mehr zur Selbstverständlichkeit im Tagesablauf.

6. Damals: Biblische Geschichte erzählen und lernen.
Heute: Biblische Geschichten werden heute viel zu wenig erzählt, und die kirchlichen Träger sind ganz besonders unglücklich darüber. Wir sprechen stattdessen von religiösen Grunderfahrungen. Gelingt aber auch immer der Transfer zur biblischen Aussage oder scheitert dies an der Verunsicherung bei Erzieher/innen und Eltern?

7. Damals: Aufstellen und Hinausführen in guter Ordnung.
Heute: Wie behalten wir heute den Überblick, wenn wir mit der Gruppe einen Spaziergang machen und schnell erfassen wollen, ob alle Kinder da sind? Die Kinder stellen sich an. Spaziergänge in der heutigen Verkehrssituation - geht das ohne "gute Ordnung"?

8. Damals: Kreis- und Bewegungsspiele.
Heute: Kreis- und Bewegungsspiele werden von den Kindern auch heute geliebt, aber leider in der Ausbildung der Erzieher stark vernachlässigt. Sie bieten uns auch heute noch viele Möglichkeiten im Bereich der Sozial- und der motorischen Erziehung, zum Erlernen von Spielregeln usw.

9. Damals: Fleckchen zupfen.
Heute: Fleckchen zupfen, scheinbar monoton. Wir ersetzen es durch Puzzles, Puzzles, Puzzles...

10. Damals: Arbeitsstunde.
Heute: gezielte Beschäftigung, Fördereinheit, gezieltes Angebot.

11. Damals: Bewegung in frischer Luft oder Marschieren im Freien.
Heute: Ist es nicht erschreckend, wenn eine süddeutsche Großstadt ihren Kindergärten zur Auflage machen muss, dass Erzieher bei jedem Wetter vor- und nachmittags jeweils 30 Minuten mit den Kinder ins Freie gehen müssen?

12. Damals: Lernen eines Kinder-, Natur- oder Spielliedes.
Heute: Das Lied kommt heute viel zu kurz! Dafür findet häufig ein viel zu schwieriger Orff-Unterricht, verfrühter Instrumentalunterricht u.ä. statt.

13. Damals: Anschauungsunterricht.
Heute: Anschauungsübungen - die Tulpe, der Maikäfer, das Ei usw. - gehören noch immer zu den klassischen Kinderbeschäftigungen. Sie kommen dem Neugierverhalten und den Interessen unserer Kinder an naturwissenschaftlichen Gegebenheiten nach.

14. Damals: Netz zeichnen.
Heute: In diesem Zusammenhang darf an die Arbeitsblätter und Vorschulmappen der 70er Jahre erinnert werden. Sie sind noch immer nicht "ausgestorben".

15. Damals: Perlen anfassen.
Heute: Perlen werden von den Kindern noch immer geliebt und sind im Kindergarten nicht wegzudenken - Ketten, Armbänder...

16. Damals: Figuren-, Ringe- oder Stäbchenlegen.
Heute: Fröbelstäbchen sind noch vorhanden, nur leider vermittelt die Ausbildung keine oder zu wenig Einsatzmöglichkeiten. Führt man Kinder an dieses Material heran, so sind sie begeistert bei der Sache und können elementare mathematische Grunderfahrungen machen.

17. Damals: Durchstechen.
Heute: Es gibt zwar kaum noch Durchstechkärtchen, aber immer wieder begegnet man Kindern, die sich ein Haus, eine Blume o.ä. aufzeichnen und dann mit Hilfe von Nadel und Faden als Bild aussticken. Sie haben viel Freude dabei!

18. Damals: Schluss mit Gesang und Gebet.
Heute: In der Mehrzahl der Kindergärten findet am Ende des Vormittags kein Abschluss mehr statt. Ab einem bestimmte Zeitpunkt wird ein Kind nach dem anderen abgeholt. Wäre es nicht zu überlegen, ob ein gemeinsamer Abschluss wieder anzustreben wäre? Wäre ein "Abschließen" des Vormittags nicht wünschenswert?

Wenn wir den Wochenplan der Kinderschule näher betrachten, so finden wir alle Beschäftigungen von damals auch heute noch in unserem Tagesablauf. Wie viele der Kinder lieben es, auf dem Bauteppich zu sitzen und wahre Kunstwerke entstehen zu lassen? Wie gerne malen Kinder? Wie gerne legen und bauen Kinder? Wie gerne sind die Kinder im manuell-handwerklichen Bereich beschäftigt und basteln, falten, malen, kleben usw.

Wir sollten uns auch bewusst machen, dass wir trotz heute schwieriger Kinder mit einer kleinen Gruppe bessere und differenziertere Möglichkeiten haben als der Kindergarten um die Jahrhundertwende. Nimmt die Erzieherin des Jahres 1987 oder 2002 aber auch all diese Chancen wirklich wahr?

Bevor wir den Begriff der Bewahranstalt nur negativ interpretieren, sollten wir uns wirklich gründlich mit den früheren Angebotsstrukturen beschäftigen. Viele Spielmaterialien müssten nur wieder "ausgemottet" werden. Stattdessen "erfinden" wir Spiele zur mathematischen Früherziehung. Könnten uns da nicht Fröbel und Montessori helfen? Ich wüsste keine Alternative zu den Fröbelgaben oder dem Perlensystem von Montessori!

Verabschieden wir uns doch von dem Gedanken, dass wir alles "neu erfinden müssen". Gerade die Reformpädagogen können uns wunderbare Anregung für kindgemäße und moderne Kindergartenarbeit und Elementarförderung gegeben. Es wäre schön, wenn so mancher pädagogischer Gedanke offen aber kritisch aufgegriffen würde. Viele unserer sogn. Neuheiten sind nämlich nur langweilig, setzen nicht bei der Lernbereitschaft des Kindes an, entsprechen vielleicht Vorstellungen von Erwachsenen, holen die Kinder aber nicht dort ab, wo sie stehen.

Wie wäre es mit dem Besuch einer Fortbildung zu den Besonderheiten der Reformpädagogik und zu ihrer Bedeutung für unsere moderne Pädagogik?

Autorin

Ingeborg Becker-Textor ist Kindergärtnerin und Hortnerin. Sie studierte Diplom-Sozialpädagogik an der Fachhochschule Würzburg und Diplom-Pädagogik an der Universität Würzburg und hat mehrere Zusatzqualifikationen wie z.B. den Abschluss als Fachlehrerin für Werken und das Montessori-Diplom erworben.
Frau Becker-Textor arbeitete als Kindergartenleiterin in Würzburg, als Regierungsfachberaterin für Kindertageseinrichtungen in Unterfranken, als nebenberufliche Dozentin in der Ausbildung für Kinderpfleger/innen und Erzieher/innen, in der Fortbildung für Erzieher/innen und Fachkräfte in der Jugendhilfe sowie mehr als 20 Jahre lang als Referatsleiterin im Bayer. Sozialministerium (nacheinander in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit). Im Ministerium war sie auch für zahlreiche Forschungsprojekte auf Landes- und Bundesebene zuständig. Von 2006 bis 2018 leitete sie zusammen mit ihrem Mann das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Ingeborg Becker-Textor ist Autorin bzw. Herausgeberin von mehr als 20 Büchern und über 40 Medienpaketen. Sie hat ca. 140 Fachartikel in Zeitschriften, in Sammelbänden und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de