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Zitiervorschlag

Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Pauline Christine Wilhelmine Fürstin zur Lippe-Detmold

Manfred Berger

 

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es vereinzelte Bemühungen um eine sinnvoll bewahrende und förderliche Betreuung von Kleinkindern, die ohne gezielte Fürsorge aufwuchsen. Erstmals wurde in Deutschland 1802 von der regierenden Fürstin zur Lippe-Detmold in ihrer Residenzstadt Detmold eine "Aufbewahrungs-Anstalt für kleine Kinder" ins Leben gerufenen. Die hocharistokratische Frau hatte aus einem Journal erfahren, dass Madam Josephine Buonaparte, die Frau Kaiser Napoleons, und "mehrere zierliche und vornehme Damen" in den Pariser Armenvierteln "Depots oder Säle" auswählten, "wo die zarten Kleinen armer, mit auswärtiger Arbeit beschäftigter Mütter einstweilen genährt, verpflegt, versorgt werden" (zit. n. Meyer 1901, S. 33) sollten.

Ihre hochfürstliche Durchlaucht selbst berichtete in einem ausführlichen Beitrag über ihren "Vorschlag, eine Pariser Mode nach Detmold zu verpflanzen": "Wie manches bedrängte Weib wäre ihrer peinlichsten Sorgen entlastet, könnte den Ihrigen durch fleißige Arbeit und unermüdete Geschäftigkeit zu weiterem Emporkommen recht viel sein, wenn die Pflege ihrer Kinder bis zum vierten und fünften Jahre es nicht hinderte; wie manche muß die Kleinen verlassen und bebt nun im Kampf zwischen Brotsorgen und der Angst, wie es ihren armen Kindern ergehen wird, während sie fern ist. Wie manche bis dahin ziemlich bemittelte beginnt zu verarmen, sobald der Himmel ihre Ehe reichlich segnet, und betrachtet dann das schönste Geschenk Gottes, gesunde zahlreiche Nachkommenschaft, als Bürde, als Unglück; wie manche endlich verleugnet das Mutterherz und vernachlässigt, verwahrloset ganz, was der Vater der Liebe ihr anvertraute, mit ihr im Augenblick des werdenden Daseins so fest, so bewundernswürdig verband! Nicht minder groß ist die Verlegenheit der Männer, denen ihre Gattinnen in der ersten Lebenszeit ihrer Kinder geraubt wurden und deren Vermögen keine Wärterinnen zu besolden gestattet, eine Quelle jener oft so unüberlegt schnellen, das Zartgefühl der Sittlichkeit verletzenden zweiten und dritten Ehen, oft schon geschlungen, wenn die Erdenhülle der ersten Freundin kaum erkaltet ist. Und allen diesen Gefahren reiner Pflichterfüllung häuslicher Tugend ließe sich hier, wie an jedem Ort, durch eine dem Lokale angepasste Übertragung jener Pariser Sitte, jener wohlthätigen Einrichtung abhelfen? Allerdings, und ich kündige den in den Sommermonaten, während der dringendsten Zeit der Ernte zu machenden Versuch hierdurch an, und zwar in dem mir so treuen Bezirke, wohin schon der Name Pflegeanstalt ihn hinweiset. Jede arme Mutter wird dort tags vorher ihre Absicht anzeigen, und dann am folgenden Morgen, ehe ihre auswärtige Arbeit begänne, ihre Kinder mit Ruhe und Vertrauen hinbringen, und am Abende wieder abholen. Die Kleinen verlebten, verspielten ihren Tag unter steter Aufsicht, aber ohne Zwang, wenn das Wetter schön wäre im Garten, sonst im noch nicht gebrauchten Saal des Krankenhauses. Sie würden bei ihrem Eintritte gewaschen, gesäubert, und wann ihr Bedürfnis es heischte, für die Zeit des Dortseins mit dazu vorrätigen im Waisenhause, in der Erwerbsschule gefertigten Kittelchen und reiner Wäsche versehn, bekleidet, überhaupt genährt, getragen, gepflegt; ihnen würden vorzüglich Milchspeisen zu teil, und wir sännen auf ihrem Alter angemessene Beschäftigung. Man erführe dadurch genau ihr Alter, und ihr bisheriges, leider oft zu spätes Schulgehen würde vermieden. Zu Wärterinnen wählten wir die älteren Töchter des Waisenhauses und der Erwerbsschule, in der Periode der herannahenden Konfirmation und Entlassung aus der Pflegeanstalt, um sie sodann auch praktisch zu Kinderwärterinnen zu bilden. Die wirklich treue Aufseherin der Waisenmädchen übernähme auch diese Inspektion, und alles übrige folgte so leicht, so natürlich als anspruchslos von Selbst, wenn die Anstalt nur erst begonnen ist. Mir dünkt, es wäre jedem Bewohner, besonders jeder Bewohnerin Detmolds, ein angenehmer Gedanke, einer recht bangen Sorge manches guten, braven Weibes dadurch begegnet zu sehen, einen Ort zu wissen, bisweilen zu besuchen, wo der Versammlungsplatz, die Zuflucht der kleinen verlassenen Hilflosen ist, und jeder Blick in das frohe Gewühl, das lautete, zwanglose Gewimmel des kleinen Ameisenhaufens werde erfreuen, und so verlange ich die Belohnung, das Ganze einrichten und alle Kosten übernehmen zu dürfen, bitte und wünsche aber, daß es mehreren Gebildeten meines Geschlechts, sie mögen nun verheiratet oder unverheiratet sein, interessant genug werden könne, um sich einen Wochentag zur Übernahme der Oberaufsicht zu wählen: das heißt, vormittags und nachmittags jedesmal eine Viertelstunde, aber nicht immer zu nämlichen Zeit, hingehn, selbst sehn, wie den Kleinen begegnet wird, Mißbräuche abstellen und Vorschläge thun zu ihrem Besten" (zit. n. Meyer 1901, S. 34 f).

Zahllose Besucher aus dem In- und Ausland kamen nach Detmold, um diese so bedeutsame erste Vorform des Kindergartens kennen zulernen: "Große Beachtung fanden die Detmolder Anstalten damals auch bei den Engländern. In ihrem Lande hatte die fortschreitende Industrialisierung mit ihren schwerwiegenden sozialen Folgeerscheinungen (Lohnarbeit von Mann und Frau, weit verbreitete Kinderarbeit, Wohnungselend) bereits weitgehend die familiären Zusammenhänge in der Arbeiterbevölkerung im Kern zerstört... Den interessierten englischen Besuchern in Detmold gebührt das Verdienst, unter besonderer Beachtung der pädagogischen Ideen Pestalozzis und Oberlins in ihrer Heimat zu einer weitgehend allgemeinen Verbreitung und ersten systematischen Einrichtung von Kleinkinderbewahranstalten in Europa vorgestoßen zu sein" (Koch 1990, S. 19).

Die Detmolder "Aufbewahrungs-Anstalt für kleine Kinder" wurde vor allem durch die 1805 erschienene "Kurze Erziehungslehre" von Christian Heinrich Wolke berühmt. Dieser hob das Beispiel der fürstlichen Gründung hervor, "um seinem Plan Nachdruck zu verleihen, flächendeckend 'Bewahr- und Vorbereitungsanstalten für junge Kinder beiderlei Geschlechts, während drei bis vier Jahre vor ihrem Eintritt in die Schule' einzurichten, der inhaltlich jedoch deutlich über den reiner Aufbewahrungsanstalten hinausging" (Prieur 2003, S. 90).

Prinzessin Pauline Christine Wilhelmine erblickte am 23. Februar 1769 im Schloss zu Ballenstedt das Licht der Welt. Sie war das jüngste von zwei Kindern des Friedrich Albrecht Fürst von Anhalt-Bernburg und dessen Ehefrau Louise Albertine, geb. Prinzessin von Schleswig-Holstein-Sonderburg. Wenige Tage nach ihrer Geburt starb die Mutter an Masern. Prinzessin Pauline erhielt gemeinsam mit ihrem etwas älteren Bruder Privatunterricht u.a. in Sprachen, Geschichte, Politik und Religion; auch Reiten und Schießen standen auf dem Unterrichtsplan. Ab 1790 unterstützte die Prinzessin ihren Vater aktiv in allen Regierungsangelegenheiten. So arbeitete sie Gesetzesvorlagen aus, fertigte Gutachten an und besorgte die Privatkorrespondenz des regierenden Fürsten.

Am 2. Januar 1796 ehelichte Pauline Prinzessin von Anhalt-Bernburg den Fürsten Friedrich Wilhelm Leopold zur Lippe-Detmold. Aus der Ehe gingen zwei Söhne und eine Tochter, die nur einen Tag lebte, hervor. Bereits nach sechs Ehejahren starb der Fürst. Daraufhin überging die vormundschaftliche Regentschaft auf seine Witwe, die sich fortan insbesondere für die Hebung der "allgemeinen Wohlfahrt des Volkes von innen heraus" (Meyer 1901, S. 8) einsetzte: "Darum suchte sie in der Anschauungsweise der damaligen Zeit die sittlichen Faktoren des Volkslebens zu stärken. Kirche und Schule ermunterte sie auf jede nur mögliche Weise zu fernerer Berufsfreudigkeit und verbesserte so viel wie möglich die äußere Lage... Besonders aber arbeitete sie der Armut und Bettelei und der damit verbundenen sittlichen Verwahrlosung entgegen, zu welchem Ende sie eine ausgedehnte Liebesthätigkeit entfaltete" (Meyer 1901, S. 8).

Von schweren körperlichen Leiden befallen starb Pauline Fürstin zur Lippe-Detmold am 29. Dezember 1820 in Detmold an einer schmerzhaften Lungenvereiterung.

Wenngleich sich letztlich die Pioniertat der Fürstin zur Lippe-Detmold auf deutschem Boden nicht durchsetzte, so gebührt ihr sicherlich das Verdienst, dass sie "unter die Reihen der Männer aufgenommen werden kann, welche den Tempel der Pädagogik zieren" (Hergang 1852, S. 369).

Literatur

Arndt, J.: Fürstin Pauline zur Lippe. Regentin im Geist des Aufgeklärten Absolutismus. Versuch einer Neubewertung, in: Arndt, J./ Nitschke, P. (Hrsg.): Kontinuität und Umbruch in Lippe. Sozialpolitische Verhältnisse zwischen Aufklärung und Restauration 1750-1820, Detmold 1994

Berger, M.: Pauline (Paulina) Christine Wilhelmine Fürstin zur Lippe-Detmold, in: Bautz, T. (Hrsg.): Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Nordhausen 2003, Sp. 1048-1057

Hergang, K.G. (Bearb.): Pauline, in: Pädagogische Real-Encyclopädie oder Encyclopädisches Wörterbuch des Erziehungs- und Unterrichtswesens und seiner Geschichte, Grimma/ Leipzig 1852

Kiewning, H.: Fürstin Pauline zur Lippe 1769-1820, Detmold 1930

Koch, H.: Heimat für Kinder. Osnabrück und seine Kindergärten 1840-1990, Osnabrück 1990

Krücke, S.E.M.: Die Pflegeanstalt in Detmold, oder historischer Bericht über die Versorgung der Armen in dieser Residenz, Lemgo 1813

Meyer, K.: Die Fürstin Pauline zur Lippe und ihre Liebesthätigkeit, Detmold 1901

Priuer, J.: Frauenzimmer Regentin Reformerin. Fürstin Pauline zur Lippe 1802-1820, Detmold 2003