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Zitiervorschlag

Kinder gut begleiten (Teil 2): Autonomie in den ersten Lebensjahren

Inga Oberzaucher-Tölke

 

Aus entwicklungspsychologischer Perspektive steht im ersten Lebensjahr eines Kindes die Entwicklung einer sicheren Bindung und damit verbundene Erfahrungen von Schutz, Geborgenheit und Vertrauen im Vordergrund[1]. Die sichere Bindung ist jedoch gleichzeitig die Grundlage für die ersten Schritte der Autonomieentwicklung, welche sich schwerpunktmäßig im Verlauf des zweiten Lebensjahres vollziehen. Das kindliche Bedürfnis nach Autonomie bzw. Selbstständigkeit und die damit verbundenen Erfahrungen wie auch Krisen sind für eine gesunde kindliche Entwicklung notwendig und wichtig. Gleichzeitig werden hier sowohl das Kind, als auch Eltern und pädagogische Fachkräfte vor besondere Herausforderungen gestellt: Nicht umsonst ist z.B. die so genannte „Trotzphase“ bei Eltern wie Fachkräften verschrien bis gefürchtet – führen die damit verbundenen kindlichen Gefühle wie Wut, Zorn und Enttäuschung doch immer wieder zu Unsicherheiten und situativen Überforderungen bei begleitenden Erwachsenen.

Der folgende Text basiert auf psychoanalytischen Erkenntnissen über die Autonomieentwicklung in den ersten Lebensjahren[2]. Er soll Eltern sowie pädagogischen Fachkräften diese Kenntnisse komprimiert vermitteln und zu einer bewussten Begleitung von Kleinkindern in ihrer Autonomieentwicklung ermutigen. Vor allem die in dieser Entwicklungsphase bedeutsamen Themen Trennung und Aggression konfrontieren Eltern und Fachkräfte immer auch mit den eigenen Erfahrungen mit diesen Themen und damit verbundenen, vielleicht belastenden Gefühlen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst kann hier also notwendig, entlastend und hilfreich sein.

  1. Autonomie und die Bedeutung von Aggression

Nach der britischen Psychonanalytikerin und Säuglingsforscherin Margaret Mahler (1987) lebt ein Kind in seinen ersten Lebensmonaten in einer so genannten Symbiose mit der Mutter bzw. ersten Bindungsperson[3]. Das bedeutet, dass das Kind sich selbst weder physisch noch psychisch als eigenständiges Wesen wahrnimmt, sondern als eine Einheit mit der Mutter bzw. Bindungsperson. Dies erklärt nicht zuletzt die enge Bindung zwischen Kind und Mutter in den ersten Lebensmonaten sowie die Herausforderungen, die damit verbunden sind, wie z.B. der enge Zusammenhang von mütterlichem und kindlichem Stress.

Ungefähr im sechsten Lebensmonat geht die symbiotische Phase schließlich in die Loslösungs- und Individuationsphase über. Während einer ersten Differenzierungsphase beginnt das Kind zunächst, sich als körperlich getrennt von der Mutter wahrzunehmen. Parallel dazu beginnt die Übungsphase, während der das Kind sich zunehmend für seine Umwelt interessiert und diese zu erkunden beginnt. Die Übungsphase erreicht ihren Höhepunkt zu Beginn des zweiten Lebensjahres und geht einher mit für die Autonomieentwicklung bedeutsamen körperlichen Entwicklungsschritten wie Zahnen, Essen fester Nahrung, Laufen etc. Das wachsende Interesse an der Umwelt während der Übungsphase und das Bedürfnis, diese zu erkunden, begründet der britische Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby mit dem so genannten Explorationssystem. Es sei wie das Bindungssystem genetisch angelegt und motiviere das Kind zunehmend, seine Umwelt zu erkunden. Dieses Verhalten sei „vorprogrammiert“ und müsse nicht erzwungen werden, sofern eine sichere Bindung vorliege. Von besonderer Bedeutung während der Exploration ist nämlich, dass das Kind immer wieder zur Mutter zurückkehren und auftanken kann, die Mutter also als sichere emotionale Basis funktioniert (vgl. Brisch 2011, S. 38f.). Bindungs- und Explorationssystem sind damit als wechselseitig voneinander abhängig zu verstehen.

Ungefähr im 18. Lebensmonat folgt auf die Übungsphase die Wiederannäherungsphase, während der das Kind beginnt, sich auch psychisch als von der Mutter getrenntes Wesen wahrzunehmen. Die Autonomieentwicklung erlebt hier oft einen vorläufigen Höhepunkt, so dass diese Phase nicht umsonst oft als „Trotzphase“ wahrgenommen wird. Das Kind gerät in einen Konflikt zwischen Autonomie und Abhängigkeit, da ihm einerseits seine zunehmende Unabhängigkeit und die damit verbundenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, andererseits seine Abhängigkeit von der Mutter bewusst werden. Das Erkennen der eigenen Grenzen und Hilflosigkeit kann mit einer ausgeprägten Enttäuschungswut verbunden sein, gleichzeitig führt der Wunsch nach Selbstständigkeit häufig zu einer zeitweisen Ablehnung der ersten Bindungsperson. Aus dem Konflikt des Kindes folgt häufig eine so genannte „Ambitendenz“ im kindlichen Verhalten, die Margaret Mahler anhand ihrer Forschungen wie folgt beschreibt:

„Um den 18. Lebensmonat herum waren unsere Spielkinder eifrig darauf bedacht, ihre rasch wachsende Selbstständigkeit gründlich zu üben. In steigendem Maße zogen sie es vor, nicht daran erinnert zu werden, dass sie gelegentlich noch nicht alleine zurechtkamen. Konflikte entstanden, die mit dem Wunsch zusammenhängen schienen, einerseits getrennt, groß und allmächtig zu sein, während andererseits die Mutter Wünsche magisch erfüllte, ohne dass die Kinder zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Hilfe von außen kam. In der überwiegenden Zahl der Fälle wechselte die vorherrschende Stimmung von Unzufriedenheit, Unersättlichkeit und der Neigung zu raschen Stimmungsschwankungen und Wutausbrüchen. Diese Periode war also dadurch gekennzeichnet, dass man die Mutter in schneller Folge abwechselnd wegstieß und sich an sie klammerte“ (Mahler 1987, S. 124f.).

Eltern von Kleinkindern und Fachkräfte, die Kinder und Eltern in dieser Phase begleiten, wissen an dieser Stelle meist von zahlreichen eigenen Erfahrungen mit kindlichen Frustrationen, Ambivalenzen und Gefühlsausbrüchen zu berichten. Da das Gefühl der Wut oft als zentrales Gefühl dieser Phase erlebt wird, möchte ich im Folgenden auf die entwicklungspsychologische Bedeutung von Wut in der frühen Autonomieentwicklung eingehen.

Dem Gefühl der Wut liegt wie den Gefühlen Irritation, Frustration, Zorn und Hass die psychische Triebkraft der Aggression zugrunde (vgl. Juul 2007, S. 115). Die Kraft der Aggression wiederum beschreibt der Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Winnicott als eine der beiden Hauptquellen der Energie des Menschen (vgl. Winnicott 2003, S. 123). Aggression trete schon früh im Kind auf und zentral sei es, wie es ihm gelinge, damit umzugehen und seine aggressiven Kräfte konstruktiv zu nutzen, also laut Winnicott zum „Leben, Lieben, Spielen – und schließlich – Arbeiten einzusetzen“ (ders., S. 129). Aus dieser konstruktiven Perspektive auf Aggression benötigt das Kind im Zuge der Autonomieentwicklung seine aggressiven Energien, um sich aus der Symbiose mit der Mutter zu lösen, seine Motivation zur Exploration umzusetzen und sich der Mutter schließlich wieder anzunähern. Denn nur über Aggression, wird sie konstruktiv eingesetzt, ist ein „Nach vorne gehen“, ein „Zur Tat schreiten“ sowie eine Abgrenzung vom Gegenüber möglich. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul beschreibt dies wie folgt:

„Aggression ist viel mehr als Wut, Reizbarkeit und Brüllen. Ohne Aggression wären wir nicht imstande, uns Ziele zu setzen und sie zu verfolgen. Wir wären nicht fähig, Karriere zu machen, guten Sex zu haben oder unsere Träume zu verwirklichen. Wir könnten nicht Fußball oder Tennis spielen und auch keinen Marathon bis zu Ende laufen. Wir wären nicht in der Lage, jemanden zu verführen, unsere Grenzen zu bestimmen oder unsere Kinder zu beschützen“ (Juul 2017, S. 107).

Dem Trieb der Aggression und den damit einhergehenden Gefühlen kommt also eine zentrale Bedeutung für die Autonomieentwicklung des Kindes zu. Um diese Entwicklung als Eltern, Fachkräfte oder sonstige Bezugspersonen gut zu begleiten, ist ein eigener positiver Bezug zu Aggression und den damit verbundenen Gefühlen und Bedürfnissen nötig – denn haben wir selbst nicht gelernt, konstruktiv mit Aggression umzugehen, wird das Kind für seine Wut vielleicht verurteilt, abgelehnt und darüber letztlich in seiner Autonomieentwicklung behindert. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden näher auf die Herausforderungen für Eltern und Fachkräfte in der Begleitung der kindlichen Autonomieentwicklung eingegangen.

  1. Herausforderungen der Begleitung in der Autonomieentwicklung für Eltern

Zwei zentrale Herausforderungen ergeben sich für Eltern bei der Begleitung ihrer Kinder in der Autonomieentwicklung: Erstens die Fähigkeit, dem Kind Trennung und Autonomie zu ermöglichen und zweitens die Fähigkeit, dem Kind dabei aggressive Gefühle und ihren Ausdruck zuzugestehen. Wichtig ist dabei – und das ist vielleicht die größte Herausforderung – trotz Trennung, Autonomie und Aggression in einer intensiven Bindungsbeziehung mit dem Kind zu bleiben. Denn nur vor diesem Hintergrund ist eine gesunde, schrittweise Autonomieentwicklung möglich.

Nach der sehr engen Bindung in den ersten Lebensmonaten kann es besonders für die erste Bindungsperson herausfordernd sein, dem Kind zu ermöglichen, sich zeitweise aus der engen bis symbiotischen Bindung zu lösen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn eigene, unbearbeitete Verlassensheitsängste bestehen. So zitiert der US-amerikanische Säuglingsforscher und Psychoanalytiker Daniel Stern eine Mutter, die aufgrund ihrer eigenen biographischen Erfahrungen ihr Kind so sehr an sich bindet, dass ihm Autonomie und Unabhängigkeit nur begrenzt möglich sind:

„In meiner Familie ging alles schief. Wir waren vier Schwestern, eine verrückte Mutter und ein überaus schweigsamer Vater. Unser Umgang miteinander war von Emotionen bestimmt, selbst heute noch können wir nicht miteinander reden, ohne dass wir in unsere alten Muster zurückfallen und zuerst streiten, uns dann als Opfer fühlen und uns gegenseitig ins Wort fallen. Das kommt hauptsächlich von meiner Mutter. Sie brachte uns bei, wie man den anderen verletzt, vor allem denjenigen, den man eigentlich lieben sollte. Als ich mich dann in der Klinik mühsam zum Sitzen hochzog und der Arzt mir mein Kind in die Arme legte, ich kann Ihnen sagen, da sah ich auf die Kleine hinab und wusste in meinem Herzen, dass dies der Mensch war, der immer für mich da sein würde, der mich verstehen und sich nie vor mir verschließen würde. Das würde ich gar nicht zulassen“ (Stern 2002, S. 78f.).

Hier wird deutlich, wie eigene, bisher unerfüllte Wünsche nach Bindung und Nähe auf das Kind übertragen werden und es dafür verantwortlich gemacht wird, diese Wünsche der Mutter zu erfüllen bzw. ihre emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen. Die entwicklungsimmanenten kindlichen Bedürfnisse nach Exploration, Autonomie und Unabhängigkeit können in diesem Fall höchstwahrscheinlich von der Mutter kaum zugelassen werden, weil sie eine Bedrohung für sie darstellen. Neben eigenen unerfüllten Bedürfnissen nach Bindung und Nähe können auch übermäßige Ängste der Eltern, z.B. vor Verletzungen oder anderen Gefahren, das Kind in seinen Explorationsbedürfnissen und seiner Autonomieentwicklung hemmen (vgl. Brisch 2011, S. 39).

Auch der eigene fehlende und/oder negativ gefärbte Zugang zu Aggression und Wut kann eine Rolle spielen bei der Hemmung des Explorations- und Autonomiebedürfnisses des Kindes. Habe ich selbst nicht gelernt, positiv und konstruktiv mit meiner Aggression umzugehen, sondern die damit verbundenen Gefühle z.B. zu unterdrücken oder zu verleugnen, so werde ich diese auch (m)einem Kind kaum zugestehen können. Für einen altersentsprechenden Wutanfall wird das Kind dann vielleicht getadelt oder gar bestraft. Oder aber ich versuche, Wut und andere aggressive Emotionen beim Kind zu vermeiden, indem ich z.B. Grenzsetzung vermeide und/oder ihm alle Wünsche erfülle. Und selbst, wenn ich Wutanfälle des Kindes zulasse, können sie bei mir tiefe Unsicherheits-, Insuffizienz- und/oder auch Schamgefühle vor Dritten auslösen. Dies betrifft nicht nur einzelne Eltern, sondern ist durchaus auch als gesellschaftliches bzw. kulturelles Phänomen zu verstehen. So ist unser eigener Umgang mit Wut neben unserer ureigenen Biografie und Erziehung z.B. auch abhängig von unserem Geschlecht, da Mädchen* bis heute weniger Aggression und Wut als Jungen* zugestanden werden, was Folgen bis ins Erwachsenenalter hat. Auch stellt sich die Frage, wie in unserer gesellschaftlichen Tradition insgesamt mit Wut umgegangen wird und welche Auswirkungen das bis heute hat. Jesper Juul dazu:

„In der heute überholten, superhierarchischen, patriarchalen Kleinfamilie war es üblich, Kinder zu sehen, aber nicht zu hören. Jedes hörbare Zeichen kindlicher Aggression gegen die Eltern stand der „natürlichen“ Machtstruktur im Weg, das heißt, es wurde als Zeichen von Ungehorsam betrachtet und deshalb – aggressiv und konsequent – bestraft“ (Juul 2017, S. 29).

Auch wenn dies laut Juul heute als „überholt“ gilt (was auch nur bedingt zutrifft, denn physische wie psychische Gewalt gegen Kinder ist ein nach wie vor großes gesellschaftliches Problem), so speisen sich dennoch viele Vorstellungen vom Umgang mit Kindern aus dieser Tradition: Kinder haben auf ihre Eltern zu hören (und nicht umgekehrt), zu folgen und sind ansonsten zu disziplinieren – verbal oder auch über „Konsequenzen“, welche in ihrer Funktion und Anwendung häufig mit „Strafen“ gleichzusetzen sind.

Ein positives und konstruktives Verständnis von Aggression und Wut, vor allem bei Kindern, ist also keinesfalls selbstverständlich und wird unter unseren gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen eher erschwert bis verhindert.

  1. Herausforderungen der Begleitung in der Autonomieentwicklung für Fachkräfte

Vor oben beschriebenem Hintergrund sind Fachkräfte bei der Begleitung von Kindern in der Autonomieentwicklung oft vor ähnliche Herausforderungen gestellt wie Eltern, allerdings unter anderen Bedingungen.

Zunächst geht es auch für Fachkräfte darum, einen persönlichen positiven und konstruktiven Bezug zu Aggression zu entwickeln. Nur so können die damit verbundenen Gefühle auch den von ihnen betreuten Kindern zugestanden werden. Da die außerfamiliäre Betreuung von Kleinkindern bzw. professionelle Care-Arbeit in diesem Bereich oft von Frauen* übernommen wird, kommt auch hier die geschlechtsspezifische Sozialisation bezüglich Aggression und Wut zum Tragen und mit ihr ihr historisch-kultureller Hintergrund. Jesper Juul hierzu:

„Tatsache ist [...], dass der Großteil der Menschen, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, (noch) nicht in der Lage sind, ihre eigenen aggressiven Emotionen zu integrieren. Insbesondere Frauen, deren Vorgängerinnen über Jahrhunderte – weder als Kind noch als Erwachsene – aggressive Gefühle ausdrücken durften, haben damit Schwierigkeiten“ (Juul 2017, S. 30).

Dementsprechend kann uns die Wut von Kindern schnell hilflos, ohnmächtig oder selbst wütend werden lassen. Sich zuzugestehen, den eigenen Aggressionen und damit verbundenen Gefühlen ausreichend Raum zu geben, kann hier klärend, entlastend und hilfreich sein und den Umgang mit Kindern in der Autonomieentwicklung erleichtern.

Eine weitere Herausforderung in der Begleitung von Kindern in der Autonomieentwicklung durch Fachkräfte stellt das Setting der professionellen Betreuung dar. Laut der Psychoanalytikerin Gisela Geist geht es in der Autonomieentwicklung darum, „dass das Kind auf dem Boden einer sicheren Bindungsbeziehung seine eigene, noch unsichere Identität erfahren und seine Autonomie mit allen Gefühlen, die diesen Prozess begleiten, erfahren und erproben kann“ (Geist 2023). In der Krippe müsse sich das Kind jedoch ständig auf neue Situationen und Betreuer:innen einstellen. Dies führe oft dazu, dass die Kinder ihre Gefühlsäußerungen tendenziell reduzierten und anpassten (vgl. ebd.). Dies trifft in besonderem Maße auch auf aggressive Gefühle zu, sind diese doch vor o.g. Hintergrund in der Krippe oft nicht erwünscht. Darüber hinaus wird die natürliche Autonomienentwicklung in der Krippe oft besonders „vorangetrieben“, um einen funktionierenden Alltag zu ermöglichen und die Fachkräfte zu entlasten:

„Oft werden in der Krippe schnell gelernte Fertigkeiten, wie z.B. selbständiges Essen oder Ankleiden oder, dass die Kleinen weniger die Nähe zu Erwachsenen oder deren Hilfe suchen, als Fortschritte in der Autonomieentwicklung interpretiert. Dagegen sind sie eher als notwendige Anpassungsleistungen zu verstehen“ (Geist 2023).

Diese Anpassungsleistungen an die Gegebenheiten und Erfordernisse der Fremdbetreuung erschweren eine Autonomieentwicklung im individuellen Tempo des jeweiligen Kindes und im notwendigen ständigen Rückbezug auf eine sichere Bindung.

Weiterhin, so Geist, sei die Gruppensituation in der Krippe für Kinder in der Autonomientwicklung oft grundsätzlich überfordernd, da sie sich während dieser Phase in einer „entwicklungsbedingten Ich-Bezogenheit“ befänden. Das bedeutet, dass das Kind noch ganz auf seine eigenen Wünsche und Vorstellungen fixiert sei (vgl. ebd.). Das, was gemeinhin unter sozialen Kompetenzen verstanden wird (z.B. Teilen, Empathiefähigkeit etc.) ist noch nicht ausgeprägt und macht in dieser Phase entwicklungspsychologisch auch keinen Sinn, da das Kind hier erstmal ein Gefühl für sich selbst ausbilden muss. Dementsprechend sind Konflikte unter Kleinkindern im Gruppensetting an der Tagesordnung und können Fachkräfte wie Kinder heraus- oder auch überfordern. Eine schrittweise und „sichere“ Autonomieentwicklung im Tempo des jeweiligen Kindes ist demnach im institutionellen Setting nur eingeschränkt bzw. unter dem besonderen Einsatz von Fachkräften möglich.

  1. Gute Bedingungen schaffen: Aggression, Wut und Grenze

Wie in diesem Text dargestellt, kann die Autonomieentwicklung von Kleinkindern keinesfalls auf eine „Trotzphase“ reduziert werden. Stattdessen sind das in dieser Phase auftretende Verhalten und die auftretenden Gefühle wichtig und notwendig für eine gesunde Ich-Entwicklung. Auch die Bedeutung einer sicheren Bindung als „Basis“ für die ersten Schritte in die Autonomie und damit die wechselseitige Abhängigkeit von Bindung und Autonomie sind hoffentlich deutlich geworden.

Eltern und Fachkräfte sind bei der Begleitung von Kindern in der Autonomieentwicklung vor einige Herausforderungen gestellt, welchen mit dem Schaffen guter Bedingungen für die Begleitung begegnet werden kann. Auf einer strukturell-gesellschaftlichen Ebene wird eine entwicklungsbezogene und bewusste Begleitung von Kleinkindern jedoch oft erschwert, was im ersten Teil von „Kinder gut begleiten“ ausführlicher behandelt wird[4]. Auf der persönlichen Ebene von Eltern und Fachkräften stellt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Zugang zu Aggressionen und Wut einen Schlüssel für gute Bedingungen dar. Eine Beschäftigung mit folgenden Fragen kann hier hilfreich sein und eine professionelle Begleitung dabei ggf. Unterstützung und Halt bieten:

    • Welche Gefühle löst es in mir aus, wenn mein Kind wütend ist, sich sein Ärger vielleicht sogar gegen mich richtet?
    • Welche Gefühle löst die Vorstellung aus, dass mein Kind selbstständiger wird, mich eines Tages weniger brauchen wird?
    • Welche Vorstellungen habe ich von wütenden Kindern? Sind sie ungehorsam, frech, schlecht erzogen? Oder kann ich ihnen ihre Wut zugestehen?
    • Wie ist mein persönlicher Zugang zu Wut? Nehme ich dieses Gefühl an bzw. in mir wahr? Wenn ja, (wie) findet es Ausdruck?
    • Wie wurde in meiner eigenen Kindheit mit Wut umgegangen? Hatte sie Raum? Durfte ich sie zeigen? Durfte ich „trotzen“?
    • Was sind meine inneren Bilder/Vorstellungen zu Wut? Glaube ich z.B., dass Mädchen keine Wut zeigen dürfen?

Zum Abschluss sei schließlich noch einmal Jesper Juul zitiert:

„Es gibt sehr viele Dinge, die wir nicht erfolgreich tun können, wenn wir keinen vollen Zugang zu unserer Aggression haben und mit ihr nicht umgehen können“ (Juul 2017, S. 30f.).

Es lohnt sich also, sich diesen Zugang zu erschaffen bzw. ihn freizulegen – um unsere Kinder gut in die Autonomie begleiten zu können, um sie bei Bedarf zu beschützen, aber auch, um für uns selbst und unsere Grenzen einstehen zu können, unsere Ziele zu erreichen und vieles Wichtige mehr.

Endnoten

[1] Siehe hierzu „Kinder gut begleiten (Teil 1)“ unter https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/soziale-und-emotionale-erziehung-persoenlichkeitsbildung/kinder-gut-begleiten-teil-1-bindung-in-den-ersten-lebensjahren/

[2] Weitere bedeutende Schritte der Autonomieentwicklung vollziehen sich vor allem mit der Pubertät, in diesem Rahmen wird jedoch ausschließlich die Autonomieentwicklung in den ersten Lebensjahren behandelt.

[3] Ich spreche hier im weiteren Verlauf von „Mutter“ in dem Bewusstsein, dass auch andere Personen wie Vater, Großeltern, Pflegeeltern etc. die Rolle der primären Bindungsperson eines Kindes übernehmen können. Mehr zu Bedeutung und Funktion der primären Bindungsperson siehe „Kinder gut begleiten (Teil 1)“.

[4] https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/soziale-und-emotionale-erziehung-persoenlichkeitsbildung/kinder-gut-begleiten-teil-1-bindung-in-den-ersten-lebensjahren/

Literatur

Brisch, K. H.: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta 2011

Geist, G.: Autonomie-Entwicklung in sicherer Bindung. https://gute-erste-kinderjahre.de/autonomie-entwicklung-in-sicherer-bindung/ Aufgerufen am 23.11.2023

Juul, J.: Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist. Frankfurt am Main: Fischer 2017

Mahler, M., Pine, F. & Bergman, A.: Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Framfurt am Main: Fischer 1987

Stern, D. N. & Bruschweiler-Stern, N.: Geburt einer Mutter. Die Erfahrung, die das Leben einer Frau für immer verändert. München: Piper 2002

Winnicott, D. W.: Aggression. Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz. Stuttgart: Klett-Cotta 2003

Autorin

Dr. Inga Oberzaucher-Tölke, Diplom-Pädagogin, arbeitet seit vielen Jahren therapeutisch und beratend mit Kindern, Jugendlichen und Eltern sowie mit Studierenden und Fachkräften. www.ingaoberzaucher-toelke.de