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Zitiervorschlag

Wo gehört der Kindergarten hin?

Martin R. Textor

 

Am 15.01.2003 veröffentlichte das Bundesfamilienministerium die folgende Presseerklärung:

"Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt, stellt heute in Berlin das Gutachten 'Abschätzung der (Brutto-) Einnahmeneffekte öffentlicher Haushalte und der Sozialversicherungsträger bei einem Ausbau von Kindertageseinrichtungen' vor. Das Gutachten, das das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstellt hat, gibt erstmals eine differenzierte Auskunft über mögliche Einnahmen- und Einspareffekte bei einem Ausbau der Kinderbetreuung.

Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt, erklärt: 'Eine quantitativ ausreichende und qualitativ gute Kinderbetreuung bewirkt nicht nur bessere Bildungschancen für Kinder und ermöglicht Eltern eine bessere Vereinbarkeit von Kindern und Beruf, sondern bringt auch ökonomische Vorteile. Der Ausbau von Kinderbetreuung bringt jedenfalls auf lange Sicht mehr als er kostet. Er ist eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Projekte in dieser Legislaturperiode. Vor allem Westdeutschland liegt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern weit hinter den dort üblichen Standards der Kinderbetreuung zurück. Gleichzeitig gehört Deutschlands Geburtenrate zu den niedrigsten in Europa. Wir können es uns nicht leisten, in Sachen Kinderbetreuung weiterhin Entwicklungsland zu bleiben. ...'

Das Gutachten zeigt, dass durch den Ausbau von Kinderbetreuung neben den Kosten auch erhebliche Einnahmen- und Einspareffekte der öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen und der Sozialversicherungsträger entstehen. ... Die Berechnungen basieren im wesentlichen auf Daten des sozio-ökonomischen Panels (SOEP), die auch Informationen über den Erwerbswunsch und den Umfang der angestrebten Erwerbsarbeit von Müttern enthalten. Sie berücksichtigen lediglich die potentiellen Einnahmen- und Einspareffekte für Westdeutschland, da in Ostdeutschland von einer bedarfsgerechten Versorgung mit Ganztagsplätzen in Kindertageseinrichtungen ausgegangen wird.

Das Gutachten untersucht die drei wichtigsten Einnahmen- und Einspareffekte der öffentlichen Haushalte und Sozialversicherungsträger bei einem Ausbau von Kindertageseinrichtungen:

  1. Einkommensteuereinnahmen und Beitragseinnahmen für die Sozialversicherungsträger, wenn die Erwerbswünsche von arbeitslosen Müttern und Müttern in der sogenannten Stillen Reserve realisiert werden können, deren jüngstes Kind zwischen zwei und zwölf Jahre alt ist. Der Untersuchung liegen verschiedene Szenarien zugrunde: Eine Maximalvariante berechnet die möglichen Mehreinnahmen für den Fall, dass alle erwerbswilligen Mütter mit Kindern ohne bisherige ganztägige Betreuung ihren Wunsch infolge des Ausbaus der Kinderbetreuung auch umsetzen können. Eine Minimalvariante stellt die möglichen Mehreinnahmen vor, wenn allein akademisch ausgebildete Mütter mit Kindern ohne ganztägige Betreuung einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Die sich insgesamt daraus ergebenden Einnahmeneffekte bewegen sich im Bereich der Einkommensteuer zwischen 1,1 und 6 Milliarden Euro, im Bereich der Sozialversicherungen zwischen 1,4 und 8,9 Milliarden Euro.
  2. Einsparungen der Kommunen über Erwerbstätigkeit allein erziehender Mütter, die Sozialhilfe beziehen. Ein bedarfsgerechter Ausbau der familienergänzenden Kinderbetreuung ermöglicht allein erziehenden Müttern die Erwerbstätigkeit, die bislang wegen mangelnder Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das Gutachten ermittelt ein mögliches Einsparpotential für die Kommunen von insgesamt rund 1,5 Milliarden Euro für den Fall, dass alle allein Erziehenden mit Kindern unter 13 Jahren, die Sozialhilfe beziehen, eine Berufstätigkeit aufnehmen.
  3. Einkommensteuereinnahmen und Beitragseinnahmen für die Sozialversicherungsträger durch zusätzliches Personal in den Kindertageseinrichtungen. Bei der Abschätzung der entlastenden Faktoren beim Ausbau der Kindertageseinrichtungen spielen neben den potentiellen Mehreinnahmen durch die Erwerbstätigkeit der Mütter auch die Steuer- und Beitragsmehreinnahmen durch die Beschäftigung zusätzlichen Personals eine Rolle. Das Gutachten beziffert die Zahl der Arbeitsplätze, die auf diese Weise maximal geschaffen werden könnten, auf rund 430.000. Dies entspräche zusätzlichen Einkommensteuereinnahmen in Höhe von 1,3 Milliarden Euro und zusätzlichen Beitragseinnahmen der Sozialversicherungsträger in Höhe von 4,4 Milliarden Euro." (Pressemitteilung Nr. 18 des BMFSFJ vom 15.01.2003).

Diese Presseerklärung verdeutlicht, dass das Bundesfamilienministerium den Kindergarten vor allem unter wirtschafts-, arbeitsmarkt-, bevölkerungs-, frauen- und sozialpolitischen Gesichtspunkten sieht - also in erster Linie als Betreuungseinrichtung.

Zur gleichen Zeit wird in den Medien und in der Wissenschaft der Kindergarten als Bildungseinrichtung thematisiert. In der Folge von PISA-Studie und Untersuchungen wie Tietzes "Wie gut sind unsere Kindergärten" (1998) wurde die schlechte Bildungsqualität in Kindertageseinrichtungen hervorgehoben und gefordert, dass diese mehr für die Bildung von Kleinkindern tun sollen. Diese Position wird auch von der Hirnforschung unterstützt, die die große Bildsamkeit und Bildungsbedürftigkeit von Kleinkindern herausstellt.

So werden in vielen Bundesländern Bildungspläne erarbeitet, die die Vielzahl der Aufgaben von Erzieher/innen deutlich machen. Beispielsweise behandelt "Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder bis zur Einschulung in Tageseinrichtungen - 1. Entwurf" auf mehr als 150 Seiten Förderschwerpunkte wie sprachliche, mathematische, naturwissenschaftliche, technische, Medien-, ästhetische, musikalische, religiöse, Umwelt- und gesundheitliche Bildung, die Entwicklung von lernmethodischer Kompetenz und Resilienz, Bewegungs-, interkulturelle, geschlechtsbewusste und Selbständigkeitserziehung, aber auch z.B. die Erziehungspartnerschaft mit Eltern und die Gemeinwesenorientierung.

Laut §§ 22 ff. SGB VIII ist der Kindergarten jedoch eine Jugendhilfeeinrichtung. Das ist nicht nur historisch zu verstehen - ursprünglich war der Kindergarten vor allem für Kinder von Müttern gedacht, die aus finanziellen Gründen erwerbstätig sein mussten oder sich nicht um ihre Kinder kümmerten. Aber auch heute noch soll der Kindergarten der Jugendhilfe zuzuordnende Aufgaben erfüllen: Integration von behinderten Kindern sowie von ausländischen Kindern und deren Familien, Unterstützung von verhaltensauffälligen, entwicklungsverzögerten oder sprachgestörten Kindern, Suchtprävention, Elternberatung und Familienbildung.

Die Frage nach der Zuordnung des Kindergartens klären

Deutlich wird, dass der Kindergarten derzeit eine Vielzahl von Betreuungs-, Bildungs- und Jugendhilfeaufgaben erfüllen muss - eine solche Unmenge, dass das Personal damit überfordert ist (siehe hierzu z.B. meine Artikel http://www.kindergartenpaedagogik.de/917.html und http://www.kindergartenpaedagogik.de/845.html). So lange Erzieher/innen ihre Aufgabe als " Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes" (§ 22 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) definieren, werden sie nie den an sie gestellten Anforderungen und Erwartungen gerecht werden. Selbst wenn sie die Kinder neun Stunden am Tag betreuen, wird es Eltern geben, die noch längere Betreuungszeiten fordern, da sie - z.B. in Geschäften - bis 20.00 Uhr oder im Schichtbetrieb arbeiten müssen. Machen sie Bildungsangebote, wird deren mangelnde Qualität kritisiert werden, da sie sich nicht genügend vorbereiten konnten. Kümmern sie sich um ausländische, behinderte oder verhaltensauffällige Kinder, müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, sie würden diese nicht genügend fördern oder die anderen Kinder vernachlässigen.

Deshalb sollte die Politik m.E. endgültig klären, ob der Kindergarten eine Betreuungs-, Jugendhilfe- oder Bildungseinrichtung ist:

  • Sind Kindertagesstätten Betreuungseinrichtungen, sollten sich Erzieher/innen auf die Betreuung konzentrieren können. Das überragende Ziel ist hier, Kinder qualitativ gut zu betreuen, sodass für ihre Eltern eine (Voll-) Erwerbstätigkeit problemlos möglich ist. Dementsprechend sollten unterschiedlich lange Betreuungszeiten - je nach Bedarf von bis zu 10 Stunden, eventuell auch samstags - "buchbar" sein. Von den Eltern kann erwartet werden, dass sie einen je nach Betreuungsdauer (und dem Einkommen) gestaffelten, relativ hohen Beitrag zu den Kosten leisten.
  • Sind Kindertagesstätten Jugendhilfeeinrichtungen, sollten Erzieher/innen vor allem sozialpädagogische Aufgaben übernehmen - wie Förderung verhaltensauffälliger, entwicklungsverzögerter oder sprachgestörter Kinder, Integration von ausländischen und behinderten Kindern, kompensatorische Erziehung, suchtpräventive Maßnahmen, Elternbildung usw. In diesem Fall benötigen Erzieher/innen mehr heilpädagogische und therapeutische Kompetenzen. Auch kann diese individualisierende Arbeit nur in relativ kleinen Gruppen geleistet werden. Da in der Regel ein Erziehungsbedarf bei den Kindern besteht, sollte der Besuch der Kindertagesstätte - analog zu anderen Jugendhilfemaßnahmen - (weitgehend) kostenfrei sei. Zuständig sind die Sozialministerien der Bundesländer; in den acht Ländern mit der Zuständigkeit im Kultusministerium müsste der Kita-Bereich umressortiert werden.
  • Sind Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen, sollten Erzieher/innen vor allem bildend tätig sein. Da Bildungsangebote gründlich vorbereitet werden müssen, ergibt sich daraus, dass die Fachkräfte nahezu genauso viel Verfügungszeit wie Grundschullehrer/innen benötigen. Haben die Einrichtungen ganztags geöffnet, müssten diese Vorbereitungszeiten durch zusätzliches Personal abgedeckt werden (vgl. die verlässliche Grundschule: morgens Unterricht durch Lehrer/innen, nachmittags Betreuung durch andere Personen). Aufgrund der hohen Anforderungen und des großen Abstands zu Grundschullehrer/innen ergibt sich hier die größte Notwendigkeit, die Ausbildung von Erzieher/innen auf ein höheres Niveau zu heben. Auch sind Rahmenbedingungen wie z.B. die Gruppengröße zu verbessern. Als Bildungseinrichtung fallen Kindertagesstätten unter die Kulturhoheit der Länder (Zuständigkeit: Kultusministerien); damit wären §§ 22, 24 ff. SGB VIII obsolet. Wie bei der Schule dürften den Eltern für die Zeit, in der ihre Kinder Bildungsangebote erfahren, keine Kosten entstehen (jedoch durchaus für darüber hinausgehende Betreuungszeiten oder für Mahlzeiten).

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht mir hier um eine Schwerpunktsetzung - zum Beispiel steht bei der Bildungseinrichtung "Kindertagesstätte" die Bildung im Vordergrund, was aber nicht ausschließt, dass Erzieher/innen daneben auch Betreuungs- und Erziehungsaufgaben wahrnehmen. Keinesfalls können Erzieher/innen aber dem Anspruch von § 22 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ("Die Aufgabe umfasst die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes") genügen, da es m.E. unmöglich ist, alle drei Aufgaben qualitativ gut zu erfüllen. Keine andere Berufsgruppe im pädagogischen Sektor ist mit einer derart umfassenden Aufgabe (und bei so ungenügenden Rahmenbedingungen) betraut - beispielsweise zeigt ein Blick in die Schulen, dass Lehrer/innen Betreuungsaufgaben weitestgehend ablehnen und Erziehung nur in sehr begrenztem Rahmen ausüben; ihre Zuständigkeit liegt eindeutig bei der Bildung (Unterricht). Das Gleiche sollte auch für Erzieher/innen gelten: Vorrangig sollten entweder Bildung oder Erziehung oder Betreuung sein (wobei natürlich je nach Schwerpunktsetzung auch unterschiedliche Einrichtungen denkbar sind).

Anmerkung

Eine umfassendere Diskussion dieser Thematik findet man in August/September-Heft 2003 des Zentralblatts für Jugendrecht, z.B. im Artikel: Textor, M.R.: Der Kindergarten sucht eine Heimat. Ein Plädoyer für die Abschaffung von § 22 SGB VIII. Zentralblatt für Jugendrecht 2003, 90 (8/9), S. 310-313 (http://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/recht/1304)

Literatur

Tietze, W. (Hrsg.): Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag 1998

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de