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Zitiervorschlag

Sprachanbahnung ist nicht Aufgabe des Kindergartens

Martin R. Textor

 

Da steht es also vor der Tür - das fünfjährige türkische Kind, das bisher von seiner nicht erwerbstätigen Mutter betreut wurde, in der Familie und in der Nachbarschaft nur Türkisch sprach und nun ein Jahr lang den Kindergarten besuchen soll, damit es noch ganz schnell Deutsch lernt und dann eingeschult werden kann. Oder es wird ein dreijähriges Aussiedler- bzw. Asylantenkind angemeldet, das noch kein Deutsch kann. Ist es nun Aufgabe des Kindergartens, diesen Kindern die deutsche Sprache zu vermitteln?

In vielen kommunalen Einrichtungen in Großstädten tritt ferner folgende Situation auf: Die vielen türkischen Kinder in der Gruppe hocken wie üblich in einer Ecke, spielen miteinander - und sprechen Türkisch. Etwas weiter weg drei polnische Kinder, die Freunde für 's Leben geworden sind - und die ganze Zeit Polnisch sprechen. Was soll nun die Erzieherin tun bei 15 ausländischen Kindern in der Gruppe? Und gleich um die Ecke ist der katholische Kindergarten, wo nur drei ausländische Kinder pro Gruppe aufgenommen werden - der hat schließlich einen freien Träger und muss nicht "alle" nehmen...

Bisher haben Erzieherinnen solche Situationen akzeptiert. Sie haben gedacht, die ausländischen Kinder werden schon die deutsche Sprache automatisch in der Interaktion mit ihnen und den anderen Kindern lernen. Sie waren der Meinung, die Integration ausländischer Kinder ist ein wichtiger Auftrag des Kindergartens, der auf hohen ethischen Werten beruht. Und die Erzieherinnen waren der Auffassung, dass so die interkulturelle Erziehung mit Zielen wie gegenseitiges Verständnis, Toleranz und Lernen von anderen Kulturen leichter zu realisieren sei.

Im Zusammenhang mit der PISA-Studie wird Erzieherinnen nun von Lehrerverbänden und Bildungspolitiker/innen vorgeworfen, dass sie bei der Sprachförderung versagt hätten: Das extrem häufige Versagen ausländischer Kinder in unserem Schulsystem - 17% erhalten keinen Schulabschluss (gegenüber 9% der deutschen) und 33% keinen Berufsabschluss (gegenüber 8%) - läge an den Kindergärten: Dort hätten die ausländischen Kinder kein Deutsch gelernt. Und Deutsch muss man an der Schule können, denn das braucht man in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern genauso wie in Geschichte, Erdkunde und Ethik. Der Kindergarten habe versagt, denn in der Kleinkindheit gibt es in der Gehirnentwicklung eine kritische Phase für das Sprachenlernen - und wenn diese verpasst wurde, wird das Kind nie die jeweilige Sprache beherrschen, egal was die Schule unternimmt.

Und es gibt noch mehr Kritik: Erzieherinnen hätten nicht nur bei der Sprachförderung ausländischer Kinder versagt, sondern auch deren Integration ließe zumindest in Kindergartengruppen mit hohem Ausländeranteil zu wünschen übrig, und die interkulturelle Erziehung in Kindergärten (immerhin seit den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ein üblicher Erziehungsbereich) habe die Deutschen auch nicht weniger ausländerfeindlich gemacht. Die Konsequenz: Entweder werden jetzt Lehrer/innen in Kindergärten geschickt, um den ausländischen Kindern - eventuell auch deutschen Kindern mit schlechter Sprachbeherrschung - Deutschunterricht zu geben (die Erzieherinnen dürfen dann einen Raum für den Unterricht herrichten und anschließend wieder umräumen). Oder es werden Sprachlernprogramme entwickelt, die Erzieherinnen mit ausländischen Kindern umzusetzen haben, dann aber wieder in ihren Gruppen fehlen.

Würden die Erzieherinnen heute nicht besser dastehen, wenn sie früher gesagt hätten: "Wir können keine Kinder ohne Deutschkenntnisse aufnehmen, weil wir keine Sprachlehrerinnen sind. Wir können uns nicht intensiv um sie kümmern, weil wir sonst die Erziehung und Bildung der anderen Kinder vernachlässigen müssten. Wir können nicht pro Gruppe zehn ausländische Kinder aufnehmen und integrieren." Und auf die derzeitige Situation bezogen:

  • Sollten Erzieherinnen nicht die Aufnahme von nicht Deutsch sprechenden Kindern verweigern und fordern, dass diese zunächst in Kleingruppen oder durch Einzelunterricht Deutschkenntnisse von qualifizierten Fachleuten vermittelt bekommen sollen?
  • Sollten sie nicht fordern, dass alle Kindertageseinrichtungen in einem Stadtteil einen gleich hohen Prozentsatz von Ausländerkindern aufnehmen sollen, damit sich diese nicht in kommunalen Einrichtungen ballen?
  • Könnte nicht sogar ein System entwickelt werden, dass ausländische Kinder aus Stadtteilen mit hoher Ausländerkonzentration per Bus in solche mit niedrigem Ausländeranteil gebracht werden, um dort den Kindergarten (bzw. die Grundschule) zu besuchen? Wäre das nicht auch für deren Integration in die deutsche Gesellschaft und für die interkulturelle Erziehung besser?

Was bringt interkulturelle Erziehung letztlich in einem Kindergarten in einem Neubaugebiet, in dem es nur deutsche Kinder aus der Mittel- und Oberschicht gibt?

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de