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Zitiervorschlag

Aus: Becker-Textor, I./Textor, M.R.: Der offene Kindergarten - Vielfalt der Formen. Freiburg, Basel: Verlag Herder, 2. Aufl. 1998, S. 107-120

Vernetzung

Ingeborg Becker-Textor

 

Vielleicht stellt sich mancher Leser/manche Leserin die Frage, was denn Vernetzung mit dem Kindergarten zu tun habe. Handelt es sich bei dem Begriff "Vernetzung" doch scheinbar um einen Terminus aus der Technik, wie z.B. "Stromnetz" und "ans Netz gehen", oder aus der Kommunikation, im Sinne von "Kommunikationsnetz", Möglichkeiten des Informations- und Datenaustausches.

In die soziale Arbeit und die Felder der Sozialpädagogik hat etwa Mitte dieses Jahrhunderts der Begriff "Netzplantechnik" Eingang gefunden - im Sinne von Methoden zur Planung, Steuerung und Überwachung von komplexen Abläufen bei Einzelprojekten, die innerhalb eines begrenzten Zeitraumes zu Ergebnissen führen sollen. Wie für die Vorschulerziehung der sogenannte "Sputnik-Schock" ein wesentlicher Impulsgeber war, so hat auch die Netzplantechnik einen ähnlichen Ursprung: "Die Technik wurde 1957/1958 erstmals in den USA von der US-Marine zur Planung und Überwachung des Polaris-Raketenprojektes verwandt." (Kühn 1980, S. 538)

Wird versucht, einen Netzplan graphisch darzustellen, so spielen zwei Pole eine wichtige Rolle: zum einen die Ausgangslage und zum anderen das Ergebnis am Ende einer Aktivität oder eines Projektes. Dazwischen liegen viele Prozesse, die ganz unterschiedlich zeitintensiv sein können und verschiedenster Handlungsstrategien und Methoden bedürfen. Pfeile signalisieren, wohin der Weg gehen soll, verweisen also auf Ziele. Den Prozessverlauf kennzeichnen dann Verknüpfungen, aber auch weitere Aufspaltungen. Es entsteht so in der Graphik sehr schnell der optische Eindruck eines Netzes. Das Netz symbolisiert die Zusammenhänge zwischen Aktivitäten, deren Einflüsse auf das weitere Vorgehen und die Abhängigkeit einzelner prozesshafter Entwicklungen voneinander.

Die Netzplantechnik hat in den letzten Jahrzehnten auch im Bereich der sozialen Arbeit immer mehr an Bedeutung gewonnen und spielt heute in der Jugendhilfeplanung ebenso wie beim Erstellen individueller Hilfepläne eine wichtige Rolle. Wird die Trias "Bildung - Erziehung - Betreuung" in Kindertageseinrichtungen ernst genommen, so geht es auch dort nicht ohne Netzplantechniken und ohne Vernetzung. Gerade bei der Diskussion um die Qualität der pädagogischen Arbeit und um die Konzepte von Kindertageseinrichtungen kann Netzplanarbeit und damit die Offenheit für Vernetzung hilfreich sein, um die eigene Alltagsarbeit im Kontext der pädagogischen Ziele zu reflektieren und um Impulse zu erkennen, die bisher nicht wahrgenommen wurden.

"Die Netzplantechnik eignet sich vor allem für die sog. 'operative Planung', d.h. für die Projektdurchführung und die Zeitplanung der Projekte. Sie erleichtert die Übersichtlichkeit zum Projektstand, Störungen lassen sich in ihren Auswirkungen erkennen, und die Projektbeteiligten werden zur Koordination gezwungen." (Kühn 1980, S. 539) Für Kindertageseinrichtungen hat dies eine doppelte Bedeutung: zum einen was die Kooperation mit andere Diensten und Einrichtungen betrifft, zum anderen aber auch was die Projektarbeit mit Kindern angeht. Auf die Kinder bezogen wird bei so manchem Projekt deutlich, dass es nur das Projekt der Erzieherinnen ist und an den Interessen der Kinder vorbeigeht. Die Erzieherinnen können aber auch richtungsweisende Impulse der Kinder aufnehmen, und so gelingt ein Projekt, in dem sich alle Beteiligten nicht nur wiederfinden können, sondern auch wohlfühlen sowie sich mit Begeisterung und Engagement auf das gemeinsame Ziel zubewegen. Im folgenden soll nun auf den Bereich der Vernetzung vom Kindergarten mit anderen Institutionen und Angeboten der Jugendhilfe sowie mit psychosozialen Diensten näher eingegangen und an einem konkreten Beispiel die Notwendigkeit und die Möglichkeiten der Vernetzung aufgezeigt werden.

1. Vernetzung mit sozialen Diensten rund um den Kindergarten

Das Nachdenken über Vernetzung hat seinen Ursprung leider meist in der scheinbaren Unlösbarkeit von Problemsituationen. So stößt z.B. der Kindergarten X. im Fall von Kind A. - es zeigt starke Verhaltensauffälligkeiten - an seine Grenzen. Die wenigen heilpädagogisch ausgerichteten Interventionsstrategien, die der Erzieherin durch Aus- und Fortbildung bekannt sind, hat sie bereits ohne nennenswerten Erfolg eingesetzt. Sie stellt sich die Frage, ob es an ihrer eigenen Handlungskompetenz liegt, ob sie vielleicht doch eine heilpädagogische Zusatzqualifikation anstreben sollte oder ob sie nicht durch die Kooperation mit anderen Unterstützung und Hilfe für sich selbst, das Kind und seine Familie erhalten könnte. Die Akzeptanz der eigenen Grenzen und der Grenzen im Kindergartenteam ist der erste Schritt oder der Ausgangspunkt zur Vernetzung und die Basis für den Netzplan.

In der Ausbildung kann insbesondere durch Persönlichkeitsbildung der Grundstein dafür gelegt werden, dass es der Erzieherin im Praxisfeld (leichter) gelingt, die eigenen Grenzen zu erkennen und zuzulassen, dies nicht als eigenes Versagen zu empfinden oder es als Mangel der Ausbildung zu deklarieren. Auch ein Grundwissen über die Möglichkeiten der Jugendhilfe und anderer psychosozialer Dienste erweist sich als unverzichtbar in konkreten Alltagssituationen. Die Erzieherin kann, darf und muss nach der abgeschlossenen (Breitband-)Ausbildung nicht perfekt sein, aber sie sollte offen und kooperationsbereit agieren. Dies gilt im übrigen auch für alle Mitarbeiter/innen in psychosozialen Einrichtungen und Diensten. Kooperation muss freiwillig sein; eine erzwungene Zusammenarbeit verhindert oder stört gemeinsam zu verantwortende Prozesse. Im Kindergarten muss Vernetzung auch nicht erst neu erfunden werden. Die Partner sind vorhanden, jedoch kennt man sie oft nur oberflächlich oder gar nicht. Vernetzung schafft Beziehungen und umgekehrt.

Erinnern wir uns an ein Spinnennetz in der Natur. Hauchdünn und empfindlich sind seine Fäden. Ein starker Luftzug kann es zerreißen. In der Dunkelheit oder bei trübem Wetter sind die Fäden oft gar nicht zu erkennen, im Sonnenlicht glitzern und strahlen sie, werden zu einem Kunstwerk. Wie in der Natur stellt sich auch Vernetzung rund um den Kindergarten dar. Werden wir von Problemen überrollt, so erkennen wir oft nicht die nächstliegende Hilfemöglichkeit - obwohl wir wissen, dass es das Jugendamt, die Erziehungsberatungsstelle, die Frühförderstelle u.a. gibt. Wir sollten deshalb "bei gutem Wetter" den Gedanken der Vernetzung aufgreifen und uns über Hilfsangebote informieren, bevor eine akute Situation sofortige Hilfe erfordert. Wie kann dies geschehen?

Theresia Gerhard, Leiterin eines Kindergartens, und Christine Schubert, Leiterin eines Schulkindergartens, arbeiten im gleichen Stadtteil. Sie haben versucht, das vorhandene Netzwerk im Umfeld ihrer Einrichtungen darzustellen:

Vernetzung des Kindergartens

Im Mittelpunkt der Abbildung stehen die zentralen Ziele der beiden Einrichtungen: (1) die Stärkung der sozialen Kompetenz der Familien und (2) die Erhöhung der Chancengleichheit der Kinder (Anmerkung: Beide Einrichtungen liegen in einem sogenannten sozialen Brennpunkt). Der Kindergarten allein kann diese Ziele nur schwer erreichen: Er braucht Verbündete, Kooperationspartner und vor allem auch den wechselseitigen Austausch mit allen sozialen Kräften, die ebenfalls im Stadtteil im Bereich der Kinder- und Familienarbeit aktiv sind. Diese kann er mancherorts z.B. bei regelmäßigen Stadtteilkonferenzen finden. Hier treffen sich Mitarbeiter/innen aus den Kindergärten, der Erziehungsberatung und der Frühförderung, dem Allgemeinen Sozialdienst (ASD), dem Kinderzentrum, der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH), der Schule, der Drogenberatung, dem Jugendamt etc. Nicht an jedem Treffen nehmen alle teil; das jeweilige Schwerpunktthema ist ausschlaggebend.

Wie sieht nun das Netz aus, das sich um den Kindergarten spannt? Die zuvor dargestellte Graphik soll nun näher erläutert und um zusätzliche Gesichtspunkte erweitert werden: Da gibt es das Kinderspielzentrum bzw. den Aktivspielplatz. Kinder im Grundschulalter lernen hier (unter "lockerer" Anleitung durch Heil- und Sozialpädagogen), ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten. Gleichzeitig finden sie Ansprechpartner für familiäre oder schulische Schwierigkeiten, können eigene Probleme erkennen, bearbeiten und kompensieren. Sie entdecken ihre eigenen Fähigkeiten, erhalten Bestätigung und Anerkennung - was sich wiederum auf ihr Sozialverhalten und ihre soziale Kompetenz auswirkt. Der Kindergarten kann bereits auf den Besuch dieses Angebotes vorbereiten und trägt damit zur erzieherischen Kontinuität bei. Mit den älteren Kindergartenkindern werden Besuche im Kinderspielzentrum geplant und durchgeführt, auch die Eltern werden über diese Möglichkeit informiert. Der Kindergarten weiß so, dass all seine Bemühungen nicht mit der Einschulung der Kinder einfach enden, sondern in Ergänzung zur Schule fortgeführt werden können. Ähnliches gilt auch für die Kinder- und Jugendfarm. Sie ist den Kindern schon vom Kindergarten her durch regelmäßige Besuche vertraut. Vielleicht haben sie z.B. bereits regelmäßig für die Betreuung von Tieren Verantwortung übernommen.

Die Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) hilft Familien, ihre Struktur zu verändern und dadurch einen Weg aus scheinbar unlösbaren Problemlagen zu finden. Es reicht nicht das alleinige Angebot der SPFH schlechthin; es müssen vielmehr alle Beteiligten zu enger Kooperation bereit sein. Ist dies der Fall, dann gelingt es Familien, ihre Situation zu verbessern. Auch der Kindergarten kann bei diesem Prozess ein wichtiger Partner sein, wenn ein oder gar mehrere Kinder den Kindergarten besuchen. Natürlich bedarf es immer der Zustimmung der Eltern, wenn der Kindergarten in Maßnahmen eingebunden werden soll. Stimmen Eltern nicht zu, können keine Fallbesprechungen stattfinden.

Der Allgemeine Sozialdienst (ASD) unterstützt Familien und initiiert eventuell für ihr Kind bzw. ihre Kinder den Besuch des Kindergartens - im Einzelfall auch die Kostenübernahme der Kindergartengebühren, wenn nur so der notwendige Kindergartenbesuch sichergestellt werden kann. Soll es zum Austausch zwischen Kindergarten und ASD kommen, so muss auch hier das Einverständnis der Eltern vorliegen und der Datenschutz Berücksichtigung finden.

Die Betreuung von Kindern vor oder nach dem Unterricht und ihre Erziehung machen nicht nur die Kooperation zwischen Schule und Hort unverzichtbar, sondern auch den Kontakt mit dem Kindergarten. Im Kindergarten ist bereits bekannt, welches Kind auch nach der Einschulung einer weiteren Betreuung außerhalb der Schule bedarf. Nicht selten sind Eltern - gerade in sozialen Brennpunkten - nicht in der Lage, die außerschulische Betreuung zu initiieren und einen Platz in einem Hort zu suchen, oder sie erkennen überhaupt nicht die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme für ihr Kind. Hier kann bereits der Kindergarten vorarbeiten und sogar Initiator von Angeboten werden. Nach dreijähriger Erfahrung mit dem Kind und seinem Elternhaus kommt ihm eine ganz wesentliche Verantwortung hinsichtlich der Vermittlung eines außerschulischen Betreuungs- oder gar Förderangebotes zu. Besonders problematisch ist oft die fehlende Betreuung vor Beginn des Unterrichts. Es wäre hilfreich, wenn dann das eine oder andere Kind für kurze Zeit in dem ihm vertrauten Kindergarten betreut werden könnte.

Oft äußern Eltern auch bereits im Kindergarten die besorgte Frage, wie sie denn künftig die Schulferien überbrücken könnten. Hier kann die Erzieherin auf Angebote wie das schon genannte Spielzentrum, auf die Stadtranderholung oder auf Ferienmaßnahmen der Wohlfahrts- und Jugendverbände hinweisen. Der Kindergarten genießt bei Familien ein großes Vertrauen, so dass Eltern Anregungen und Vorschläge eher annehmen.

Immer mehr Sechsjährige haben noch nicht die notwendige Schulfähigkeit und können deshalb nicht eingeschult werden. Für sie wird der Schulkindergarten zu einer wichtigen Institution. In der Kleingruppe der Gleichaltrigen kann hier auf Entwicklungsverzögerungen und Defizite mit sozial- und heilpädagogischen Förderangeboten eingegangen werden. Im Schulkindergarten steht nicht die kognitive Entwicklung der Kinder im Vordergrund, sondern vielmehr die Erlangung sozialer Kompetenzen, die Überwindung von Konzentrationsmängeln und von Sprachdefiziten, aber auch von Störungen im sozial-emotionalen Bereich. Eltern muss die Arbeitsweise des Schulkindergartens in ganz besonderer Weise transparent gemacht werden. In intensiven Elterngesprächen sollten sie auch Impulse für die häusliche Erziehung erhalten. Nur so können einseitige Trainingsprogramme in der Familie vermieden werden. Auch sollten die Eltern erkennen, dass ihr Kind kein Versager ist, aber in Teilbereichen besondere Hilfe braucht.

Wird Vernetzung als Ziel angestrebt, so müssen alle Kindergärten in einem Stadtteil oder einer (kleineren) Kommune kooperieren. Jeder Kindergarten arbeitet mit anderen konzeptionellen Ansätzen und spricht damit Eltern in unterschiedlicher Weise an. Oft konzentrieren sich alle ausländischen Familien auf einen Kindergarten. Deutsche Familien meiden dann diesen Kindergarten aus der Angst heraus, dass die Sprachförderung ihrer Kinder zu kurz käme. Eine solche Entwicklung sollte durch Absprachen zwischen den Kindergärten verhindert werden. Gegebenenfalls können auch kindergartenübergreifende Angebote entwickelt werden. Der kollegialen Beratung der Kindergärten untereinander kommt eine immer größer werdende Bedeutung zu. Ein offenes Aufeinander-Zugehen ist unverzichtbar.

Die Frühförderstelle ist Partner des Kindergartens im Bereich der Diagnostik, Förderung und Beratung - und zwar nicht nur auf behinderte Kinder bezogen. Durch den multidisziplinären Ansatz und ein multiprofessionelles Team wird die Frühförderstelle zu einem zentralen "Knotenpunkt" im Netz rund um den Kindergarten. Dies gilt auch für die Elternarbeit und im Bereich der Kompetenzerweiterung von Erzieherinnen. Ein Ausbau der Frühförderstellen wäre bundesweit wünschenswert.

In der Graphik wurden weiterhin aufsuchende Erziehungs-, Beziehungs- und Sozialberatung von den beiden Kindergartenleiterinnen genannt. Es geht dabei um die Unterstützung von Familien in besonderen Lebenslagen. Da der Kindergarten in vielen Fällen die erste Anlaufstelle - insbesondere für Mütter - ist, wird er hier zum Vermittler. Der Kindergarten kann und soll Familienprobleme, die an die Erzieherin herangetragen werden, in der Mehrzahl nicht lösen. Seine Aufgabe liegt in der schon genannten Vermittlung und im vermittelnden Gespräch - eventuell auch in der Rolle als Moderator. Manchmal muss die Erzieherin auch von sich aus aktiv werden, wenn sie im Umgang mit dem Kind und durch sein Verhalten gespürt hat, dass erhebliche familiäre Probleme vorhanden sein müssen.

In dem Netzwerk rund um den Kindergarten kommt dem Jugendamt eine herausragende Bedeutung zu, denn dort werden viele der vorgenannten Dienste vermittelt, koordiniert und die notwendigen finanziellen Ressourcen für sie zur Verfügung gestellt. Es ist also an der Zeit, dass der Kindergarten das Jugendamt aus einer neuen Perspektive wahrnimmt und als "Amt für Kinder, Jugendliche und Familien" erkennt. Natürlich müssen auch die Jugendämter ihren Beitrag zum Abbau des ihnen noch immer anhaftenden Negativ-Images als "Eingriffsbehörde" leisten. Hier ist derzeit viel positive Bewegung erkennbar.

Vor einigen Jahren führte ich in einer Großstadt Fortbildungen zum Thema "Braucht der Kindergarten das Jugendamt?" durch. Ich war entsetzt, wie wenig Erzieherinnen über die Arbeit im Jugendamt und über die möglichen Hilfen für Kinder und Familien wussten. Ich halte es für dringend erforderlich, dass Jugendamtsleiter in Leiterinnenkonferenzen oder bei Fortbildungen ihr Amt für Kindertageseinrichtungen transparent machen. Anhand anonymisierter Fallbeispiele kann die Arbeit des Jugendamtes dargestellt werden. Dies würde nicht nur die Vernetzung vorantreiben, sondern auch die Angst abbauen, sich bei konkreten Fällen an das Jugendamt zu wenden. Dies verdeutlicht folgender Bericht einer Erzieherin:

"In meiner Gruppe ist ganz sicher ein Kind, das in der Familie nicht nur Gewalt erlebt, sondern auch sexuell missbraucht wird. Beim Umziehen zum Turnen habe ich schon mehrmals blaue Flecken am Rücken entdeckt. Vorsichtig habe ich die Mutter darauf angesprochen. Sie wich mir aus. Seither kommt das Kind entweder nicht am Turntag, oder es trägt ein langärmeliges T-Shirt und erklärt, dass ihm der Turnanzug zu kalt sei. Mehrmals hat es beim Rollenspiel in der Puppenecke erklärt, dass Mädchen besser bei Papas angekuschelt schlafen, weil es da wärmer sei. Auf die Gegenargumente anderer Kinder erklärte es mit starrem Blick: 'Doch, das muss sein. Mein Papa weiß das!' An das Jugendamt habe ich mich nicht gewandt, ich befürchte, dass ich dann irgendwann vor Gericht stehe, wenn an der Sache wirklich etwas dran ist. Außerdem ist dann das Vertrauensverhältnis zum Kind und zur Mutter gestört."

Dieses Beispiel macht deutlich, wie wichtig für Erzieherinnen Kenntnisse über die Arbeit des Jugendamtes sind. Es war gut, dass die Erzieherin so offen über dieses Kind berichtete sowie ihre Ängste und Unsicherheiten deutlich ausdrückte. In der Folgeveranstaltung zu meiner Fortbildung wurde der Fall von einer Mitarbeiterin des zuständigen Jugendamtes aufgegriffen und das Handeln des Jugendamtes im Falle von Gewalt oder sexuellem Missbrauch an einem Kind offengelegt.

Im Einzelfall kann Vernetzung auch noch mit weiteren sozialen Diensten notwendig werden: mit der Suchtberatung, den Anonymen Alkoholikern, der Schwangerenberatung, dem Sozialamt, dem Wohnungsamt, dem Arbeitsamt, ambulanten Diensten der Alten- und Familienhilfe etc. Es wäre daher sinnvoll, wenn die Kindergärten in einem Landkreis, einer Stadt oder einer überschaubaren Region gemeinsam auf die Suche nach Hilfen und Angeboten gehen würden, die für die Arbeit mit Eltern und Kindern, aber auch für die Erzieherinnen selbst Relevanz haben könnten. Eine solche Erhebung muss regional erfolgen, da die Versorgung mit psychosozialen Diensten sehr unterschiedlich sein kann. Auch überregionale Angebote dürfen dabei nicht ganz außer Acht gelassen werden: Ein medizinisches Kinderzentrum, ein Kinderschutzhaus oder die Kinder- und Jugendpsychiatrie können für den Kindergarten durchaus wichtig sein. Wie intensiv der Kontakt oder gar eine Vernetzung ausgestaltet werden muss, ist von Kindergarten zu Kindergarten unterschiedlich - je nach den Problemlagen der Kinder und ihrer Familien.

Da das Thema Vernetzung nicht nur im Zusammenhang mit der Öffnung des Kindergartens aktuell ist, sondern den gesamten Bereich der Jugendhilfe wie ein roter Faden durchzieht, kann davon ausgegangen werden, dass es immer mehr vernetzungsbereite Partner gibt. Inwieweit Vernetzung letztlich jedoch wirklich zufriedenstellend gelingt, wird nach wie vor von den Menschen abhängen, die in den einzelnen Feldern arbeiten, insbesondere von ihrer Bereitschaft zur Öffnung und Kooperation.

Am Beispiel der Familie S. soll nun die Bedeutung der Vernetzung verdeutlicht werden:

Herr S. ist 32 Jahre alt, Ingenieur, z.Zt. arbeitslos. Frau S. ist 28 Jahre alt und von Beruf Bürokauffrau. Sie ist berufstätig und kommt für den Familienunterhalt auf. Mit 17 Jahren hat sie das Gymnasium abgebrochen, Zwillinge geboren und einen 25 Jahre älteren Mann geheiratet. Die Ehe wurde nach drei Jahren geschieden, die Kinder verblieben beim Vater. Frau S. wurde als erziehungsunfähig hingestellt. Nach der Scheidung begann sie eine Lehre. Mit 21 Jahren heiratete sie Herrn S. Trotz Schwangerschaft erreichte sie noch vor der Geburt des Kindes den Berufsabschluss. Das gemeinsame Kind Tim ist mittlerweile sechs Jahre alt und besucht den Kindergarten.

Seit der Vater arbeitslos ist, verstärken sich die Auffälligkeiten von Tim. Seit bei Tim eine Entwicklungsverzögerung insbesondere im sprachlichen Bereich diagnostiziert wurde, beschäftigt sich der Vater täglich mehrere Stunden mit Tim. Zudem will er nachweisen, dass er seine Zeit daheim nützlich zubringt. Die Situation, dass seine Frau arbeitet und er daheim ist, kann er bei seinem traditionellen Rollenverständnis nicht verkraften. Die Spannungen in der Familie sind erheblich, zumal sich Frau S. auch noch Vorwürfe macht, dass sie bei der Scheidung nicht genug um die Zwillinge gekämpft habe. Sie hat keinen Kontakt mehr zu den Kindern; ihre frühere Familie ist ins Ausland verzogen. Eines Tages hat sie sich der Erzieherin anvertraut und ihre ganze Problematik offengelegt.

Es wäre nun einfach zu sagen: Was geht das den Kindergarten an! Der Kindergarten teilt sich aber die Erziehungsverantwortung mit den Eltern, soll die familiäre Erziehung ergänzen und unterstützen. Im Fall von Familie S. sind - damit dies gelingen kann - verschiedene Hilfen notwendig: Frau S. braucht Hilfe, um mit der Trennung von den Zwillingen fertig zu werden. Herr S. braucht Beratung in Bezug auf Berufschancen oder eine eventuelle Umschulung. Beide Ehepartner müssen lernen, über Probleme zu sprechen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Für Tim sind Angebote der Frühförderung und eventuell die Zurückstellung vom Schulbesuch sowie der Besuch eines Schulkindergartens angezeigt. Eine Schuldnerberatung könnte helfen, die prekäre Finanzsituation zu überwinden.

Eine Vielzahl von Problemen belastet die Familie. Das gemeinsame Kind Tim wird zum Symptomträger und entwickelt immer mehr Störungen. Geschieht nichts, so wird unter Umständen irgendwann die Trennung der Eltern folgen, das Kind aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten in die Sonderschule eingeschult werden und bei zunehmender Problematik vielleicht sogar eine Fremdunterbringung erfolgen. Wenn nichts geschieht, so ist Tims "Jugendhilfekarriere" regelrecht vorgezeichnet.

In diesem Fall wurde mit einer Sozialpädagogischen Familienhilfe begonnen und ein Hilfeplan für Tim erstellt. Der Kindergarten war der Vermittler, und ohne den Einsatz der Erzieherin hätte die Familie die notwendigen Schritte und die Annahme der Hilfe nicht geschafft. Immer wieder berichteten die Eltern der Erzieherin von den eingeleiteten Maßnahmen. Das Verhalten von Tim veränderte sich. Er wird noch ein Jahr in seiner Kindergartengruppe bleiben. Seine derzeitige Entwicklung wird die Einschulung in die Regelschule möglich machen.

Der Kindergarten ist Motor von Vernetzung, weil er von Eltern freiwillig gewählt wird. Diese Chance gilt es im Interesse von Kindern zu nutzen. Offenheit und Bereitschaft, Vernetzung zu initiieren, wird durch Erfolge belohnt werden. Die anfänglichen Mühen sind dann schnell vergessen.

2. Vernetzung bzw. Kooperation mit der Schule

Bezüglich der Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Schule wird bisher kaum von Vernetzung gesprochen, obwohl hier Vernetzung schon Geschichte hat (vgl. Kapitel "Öffnung nach außen"). Der Besuch der Schule ist im Gegensatz zum Kindergarten für jedes Kind Pflicht. Trotz des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz steht es Eltern nach wie vor frei, ob und ab welchem Alter sie ihr Kind für den Kindergarten anmelden wollen. Mittlerweile besuchen aber in der Bundesrepublik Deutschland nahezu alle Kinder einen Kindergarten zumindest im letzten Jahr vor der Schule. Dies bedeutet, dass fast alle Kinder ihre Schullaufbahn mit Gruppenerfahrungen beginnen.

Für Kindergarten und Schule ist eine Kooperation unverzichtbar. Diese Tatsache hat in der Vergangenheit bereits in vielen Bundesländern zu Modellversuchen geführt, um zu eruieren, wie die Zusammenarbeit erfolgreich gestaltet werden kann, ohne dass die Eigenständigkeit der beiden Bereiche beeinträchtigt wird. Die Ergebnisse solcher Modellversuche fanden Eingang in die rechtliche Verankerung der Kooperation in Kindergartengesetzen, Durchführungsverordnungen, Empfehlungen oder Bekanntmachungen der zuständigen Ministerien. Es wurden Festlegungen zu den Rahmenbedingungen, ebenso wie zu bestimmten Kooperationsformen, deren Quantität und Qualität getroffen. Wie erfolgreich sich das Miteinander im Interesse der Kinder jedoch entwickelt, hängt - wie grundsätzlich alle Formen der Vernetzung - von der Offenheit und Bereitschaft vor Ort ab und ist trotz gleicher Vorgaben regional, also von Schule zu Schule und von Kindergarten zu Kindergarten, sehr unterschiedlich ausgeprägt. Missverständnisse sind nicht vermeidbar; die Leidtragenden sind in erster Linie die Kinder.

Was sind nun zentrale Zielsetzungen für die Vernetzung beider Bereiche? Unverzichtbar ist das Kennenlernen der jeweils angewandten Methoden und didaktischen Vorgehensweisen sowie der Spezifika der Lernformen im Kindergarten- und im Grundschulalter. Der Kindergarten ist nicht eine Schule vor der Schule; so sind Methoden der Schule fehl am Platz. Die Schule wiederum ist - trotz Spielecke im Klassenzimmer - nicht eine Fortsetzung des Kindergartens. Dennoch gibt es in beiden Institutionen Elemente, die aufeinander aufbauen. So bereitet sich das Kind im Kindergarten bereits auf das Schreiben vor. Dies geschieht nicht, indem es Zeichen in Zeilen schreibt, sondern durch die Förderung der manuellen Fertigkeiten durch Malen, beidhändiges Zeichnen, Kneten und Formen mit Plastilin, Papiermaché oder Ton, Falten und Reißen von Papier usw. Alle Aktivitäten, die besonders die Grob- und Feinmotorik von Armen und Händen "trainieren" oder koordinieren, sind unverzichtbare "schreibvorbereitende" Übungen. Mit dieser Vorbereitung kann der Kindergarten keinen Fehler machen und greift keinem schulischen Schreiblehrgang vor - wohl aber mit Übungen, wie sie ein Vater schildert:

"Im Kindergarten wurde äußerster Wert auf das Zeichnen kleiner Muster gelegt. Auf Schreibpapier mussten die Kinder viele Zeilen füllen. Da dies meine Tochter begeisterte und sie stolz war, schon 'schreiben' zu können, hatte ich trotz erheblicher Zweifel nicht interveniert und auch im Kindergarten nicht weiter nachgefragt. Als Karen dann zur Schule kam, durfte sie die ganze Sammlung der Blätter mitnehmen. Mittlerweile besucht sie die 2. Klasse der Grundschule. Sie hatte große Probleme bei der Schreibanbahnung einzelner Buchstaben. Bei den Übungen im Kindergarten hatte sie sich nämlich andere Schreibbewegungen angewöhnt. Bis heute hat sie sich noch nicht gänzlich umgewöhnt. Allen Kindern aus dem gleichen Kindergarten erging es ähnlich.

Ich besuchte unsere frühere Erzieherin, um ihr über die Probleme von Karen und der anderen Kinder zu berichten. Sie fühlte sich sofort angegriffen und meinte, dass man es keinem Lehrer recht machen könne. Viele Eltern würden auch wollen, dass ihre Kinder im Kindergarten schon Schreiben lernen, erste Leseversuche machen und leichte Rechenaufgaben lösen."

Das Beispiel zeigt, dass mangelnde gegenseitige Information und Vernetzung zum Schaden für Kinder sein können. Hier sind die Lehrer- und Erzieherausbildung ebenso gefordert wie die Lehrer- und Erzieherfortbildung. Im Interesse von Kindern wären insbesondere mehr gemeinsame Fortbildungen und die Aufklärung von Eltern über das Lernen in Kindergarten und Grundschule notwendig. Ideal wäre es, wenn Erzieherin und Lehrerin gemeinsam einen Elternabend zur Schulvorbereitung gestalten könnten. Der Part der Erzieherin wäre es, über ihre Methoden und Inhalte zu berichten. Die Lehrerin kann dann darstellen, wie die Schule auf das im Kindergarten Gelernte aufbaut. Beide Seiten können auch auf sich in Kindergarten und Schule wiederholende Themen eingehen. So befürchten Lehrer/innen, dass ein Thema, das schon im Kindergarten angesprochen wurde, dann die Kinder in der Schule langweilen würde. Ebenso würden Eltern kritisieren, dass ihr Kind bestimmte Inhalte bereits im Kindergarten gehört habe. Bei näherer Kenntnis der Arbeitsweisen der beiden Institutionen sind die genannten Bedenken jedoch unbegründet. Am Beispiel eines Besuches in der Bäckerei lässt sich dies vielleicht verdeutlichen:

Die dreijährige Susanne begeistert der Duft von frischgebackenem Brot. Als ihr die Bäckersfrau eine Rosinenschnecke schenkt, ist für sie der Höhepunkt des Besuchs erreicht. Sie will wieder gehen. Anders beim viereinhalbjährigen Paul. Ihn fasziniert der Mehlstaub. Gar zu gerne würde er mal in die Mehlkiste blasen. Es gelingt ihm, aber er sieht nun selbst wie ein Bäcker aus. Es ist ihm peinlich, dass man ihm ansieht, was er gemacht hat. Die Bäckersfrau begrüßt ihn als neuen Lehrling. Da muss Paul lachen.

Jedes Kindergartenkind nimmt also ganz andere Erfahrungswerte mit. Das Thema "Bäckerei" wird deshalb in der Schule nicht langweilig sein. Die Kinder können vom Bäckereibesuch mit der Kindergartengruppe berichten. Die Beiträge können dann in einen Prozesszusammenhang gebracht und mit den Arbeitsgängen des Bäckers verglichen werden. Anschließend gilt es, die Erfahrungen zu ordnen: Mehl - Teig - Duft - Form -Backofen - Hitze - Geschmack etc.

Obwohl die Vernetzung bzw. Kooperation zwischen Kindergarten und Schule gesetzlich verankert und am weitesten fortgeschritten ist, ist sie immer noch nicht zufriedenstellend.

Autorin

Ingeborg Becker-Textor ist Kindergärtnerin und Hortnerin. Sie studierte Diplom-Sozialpädagogik an der Fachhochschule Würzburg und Diplom-Pädagogik an der Universität Würzburg und hat mehrere Zusatzqualifikationen wie z.B. den Abschluss als Fachlehrerin für Werken und das Montessori-Diplom erworben.
Frau Becker-Textor arbeitete als Kindergartenleiterin in Würzburg, als Regierungsfachberaterin für Kindertageseinrichtungen in Unterfranken, als nebenberufliche Dozentin in der Ausbildung für Kinderpfleger/innen und Erzieher/innen, in der Fortbildung für Erzieher/innen und Fachkräfte in der Jugendhilfe sowie mehr als 20 Jahre lang als Referatsleiterin im Bayer. Sozialministerium (nacheinander in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit). Im Ministerium war sie auch für zahlreiche Forschungsprojekte auf Landes- und Bundesebene zuständig. Von 2006 bis 2018 leitete sie zusammen mit ihrem Mann das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Ingeborg Becker-Textor ist Autorin bzw. Herausgeberin von mehr als 20 Büchern und über 40 Medienpaketen. Sie hat ca. 140 Fachartikel in Zeitschriften, in Sammelbänden und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de