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Zitiervorschlag

Aus: Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland (Bericht der Sachverständigenkommission). Bonn: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002, S. 213-214

Migration und Mobilität: Beispiel: Kindertageseinrichtungen

Sachverständigenkommission für den Elften Kinder- und Jugendbericht

 

Das öffentliche Interesse an einer Einbindung Zugewanderter in Kindertageseinrichtungen - und dabei vor allem: in Kindergärten bzw. andere Einrichtungen des Vorschulbereichs - ist besonders hoch, da hiermit eine frühzeitige zweisprachige bzw. zweitsprachliche Sozialisation sowie ein Einleben in die institutionelle Erziehung verbunden sind, die die familiale Erziehung ergänzen können. Eine Unterstützung der Familien ist insbesondere im Bereich der sprachlichen Sozialisation wichtig. Es ist bekannt, dass die sprachliche Erziehung in zugewanderten Familien häufig auf die mitgebrachte(n) Sprache(n) konzentriert ist, obwohl diese Familien auch das Deutsche benutzen und am Ausbau der Deutschkenntnisse interessiert sind. Hierfür kann verantwortlich sein, dass die umgebende Mehrheitssprache von geringerer Bedeutung in der familialen Kommunikation ist und oft auch von den Erziehenden in geringerem Maße beherrscht wird. Es kann auch eine Rolle spielen, dass die Familien die Entwicklung der Zweitsprache Deutsch nicht als ihre Aufgabe ansehen, sondern als Verpflichtung der deutschen Institutionen. So argumentieren insbesondere Eltern, die die eigenen Deutschkenntnisse für wenig geeignet halten, als sprachliches Vorbild für die Kinder zu fungieren (vgl. Neumann 1997). Aus spracherwerbs- bzw. sprachlerntheoretischer Sicht ist dies eine wohlbegründete und umsichtige Auffassung. Kinder aus zugewanderten Familien sollten daher einen Anspruch auf Förderung ihrer Zweisprachigkeit vom Kindergarten ab haben.

Seit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz ist der Versorgungsgrad Zugewanderter deutlich angestiegen. Regionalstudien zufolge erreicht die Versorgung zwar nach wie vor nicht das Niveau der Versorgung deutscher Kinder, aber es reicht vielerorts dicht heran (wobei regionale Disparitäten wahrscheinlich sind). Festgestellt wurden unterschiedliche Nachfrageprofile bei deutschen und bei ausländischen Eltern. Bei Zugewanderten sind Nachfrage und Belegung im Hortbereich höher als bei Deutschen; deutsche Familien sind hingegen stärker an Plätzen für unter Dreijährige interessiert (vgl. Deutsches Institut für Urbanistik - difu - 1998). Deutlich unterrepräsentiert sind ausländische Kinder bei der Versorgung mit Kindergarten-Ganztagesplätzen (Ministerium für Arbeit, Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen - MASQT/NRW - 2000, S. 48).

Instrumente zur Regulierung des Anspruchs können unerwünschte Nebenfolgen für die Versorgung haben. Es ist insbesondere darauf zu verweisen, dass der Zugang zu diesen Einrichtungen häufig an das Kriterium der Berufstätigkeit beider Eltern geknüpft ist. Dies aber entspricht den Lebenslagen vieler zugewanderter Familien keineswegs. Sie sind zum einen überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Zum anderen ist die Erwerbsquote nicht deutscher Frauen beträchtlich geringer als die deutscher Frauen (vgl. Senat der Freien und Hansestadt Hamburg 1999; Boos-Nünning 1999). Die Kommission weist darauf hin, dass die Kommunen einen großen Gestaltungsraum haben. Sie können bei zugewanderten Familien besonders für den Besuch der Kindertageseinrichtungen werben, und sie besitzen bei Kindern, die aufgrund ihres Aufenthaltsstatus keinen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz haben, einen beträchtlichen Ermessensspielraum. Die Kommission setzt sich dafür ein, dass die Kommunen diese Gestaltungsfreiheit großzügig nutzen.

Prinzipiell ist der erreichte Versorgungsgrad im Kindergartenbereich ein positiver Beitrag zur Integration Zugewanderter. Unbefriedigend ist, dass heute weder in konzeptioneller Hinsicht noch im Hinblick auf die Qualifikation des Personals die spezifischen Aufgaben der sozialisatorischen und sprachlichen Erziehung nachdrücklich angegangen wurden. Zwar sind konstruktive konzeptionelle Ansätze entwickelt worden; in der Praxis aber ist ihre Durchsetzung nach Ansicht von Expertinnen und Experten immer noch sehr gering (vgl. Filsinger 1999). Gravierend ist, dass Sprachförderung generell, Zweisprachigkeitsförderung speziell und interkulturelle Erziehung nach wie vor nicht selbstverständlich zur Ausbildung und zum Kompetenzbereich des pädagogischen Personals der Einrichtungen zählen (vgl. Wagner 1999; Ellenberger 2000). Noch heute sind die konzeptionellen Standards der Elementarerziehung weitgehend an einem monolingualen und monokulturellen Paradigma orientiert (vgl. Diehm 1995; Ulich 1999; Peukert 2000).

Ein besonderes Problem ergibt sich aus dem Umstand, dass sich ein großer Teil der Einrichtungen in konfessioneller Trägerschaft befindet. Einschlägigen Untersuchungen zufolge ziehen solche Einrichtungen deutsche Kinder und Kinder der jeweiligen Konfession vor (Thränhardt 1995, S. 10); gleichzeitig meiden die zugewanderten Familien solche Einrichtungen. Folgerichtig sind in den ethnischen communities vermehrt Anstrengungen zur Gründung eigener, z.B. muslimischer Einrichtungen zu beobachten (vgl. Boos-Nünning 1999). Dieses ist unter dem Gesichtspunkt der Pluralität der Trägerlandschaft unproblematisch. Fraglich ist aber, ob fachliche Standards, Konzeptionen und Praktiken der Erziehung zur Anwendung kommen, die für die Integration in eine sozial, sprachlich und kulturell immer stärker ausdifferenzierte, plurale Gesellschaft angemessen und vorteilhaft sind.

Literatur

Boos-Nünning, U. (1999): Migration in Deutschland: Analyse und pädagogische Antworten. In: Forum Erziehungshilfen, 6, 5, S. 260-266

Deutsches Institut für Urbanistik (difu; Hrsg.) (1998): Erhebung zur Situation der ausländischen und Aussiedlerkinder in Tageseinrichtungen Nordrhein-Westfalens. Ergebnisresümee, überarbeitete Fassung. Köln

Diehm, I. (1995): Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft. Konzeptionelle Überlegungen für die Elementarpädagogik. Frankfurt/M.

Ellenberger, M. (2000): Konzeption einer Fortbildung für Erzieherinnen und Erzieher zum Zweitspracherwerb in Kindertageseinrichtungen. Hrsg. v. Internationalen Bund für Sozialarbeit. Typoskript. Hamburg

Filsinger, D., unter Mitarbeit von J. Panter und J. Meter (1999): Kommentierte Bibliographie "Kommunale Integration ausländischer Kinder und Jugendlicher". Deutsches Jugendinstitut. München

Ministerium für Arbeit, Soziales, Qualifikation und Technologie (MASQT; Hrsg.) (2000): Zuwanderung und Integration in NRW. Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe "Zuwanderung" der Landesregierung. Düsseldorf

Neumann, Ursula (1997): An der "Schwelle". Die Rolle der Mehrsprachigkeit beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe. In: Gogolin, I./ Neumann, U. (Hrsg.): Großstadt-Grundschule. Eine Fallstudie über sprachliche und kulturelle Pluralität als Bedingung der Grundschularbeit. Münster, New York, S. 251-310

Peukert, U. (2000): Neue Medien und die Logik frühkindlicher Bildungsprozesse. In: Zeitschrift für Pädagogik, 46, 2, S. 295-310

Senat der Freien und Hansestadt Hamburg (1999): Kinder- und Jugendbericht. Neugestaltung der Jugendhilfe in Hamburg 1991 bis 1997. Hamburg

Thränhardt, D. (1995): Die Lebenslage der ausländischen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 35, S. 3-13

Ulich, M. (1999): Erzählst Du uns was? Mehr Raum für Sprachförderung. In: Kindergarten heute, 29, 11-12, S. 22-32

Wagner, P. (1999): Kindertagesstätten als interkulturelle Lernorte. Überlegungen zu einem Projekt. In: Berg, U./ Jampert, K./ Zehnbauer, A.: Mehrsprachigkeit im multikulturellen Kinderleben. Deutsches Jugendinstitut: Projekt "Multikulturelles Kinderleben", Heft 2. München, S. 52-67