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Zitiervorschlag

Märchenerzählen im Kindergarten

Ingeborg Becker-Textor

 

Wenden wir uns von der volkskundlichen Definition des Märchens der Umgangssprache zu, so begegnen wir einer Reihe von Redewendungen:

  • Erzähl mir keine Märchen
  • Märchen sind für Kinder
  • Märchen haben in unserer Zeit nichts verloren
  • Märchen verwischen die Realität

Wie sieht es nun wirklich aus mit den Märchen für Kinder, insbesondere mit dem Märchenerzählen im Kindergarten?

Man sagt den Märchen nach, sie würden weltfremd machen und seien aus diesem Grunde nicht geeignet für Kinder. Märchen sollten nicht mehr erzählt werden, weil sie zur Aufrechterhaltung längst vergangener Herrschaftsstrukturen beitragen könnten und an längst überfälligen Moralvorstellungen festhalten würden. Für den Erzieher ist nun die Frage: Wie ernst soll er solche Einwände nehmen?

Märchen werden so lange leben, so lange es noch Erzähler gibt, die Zuhörer finden

Wir wissen, dass Märchen in früheren Zeiten nicht zur Unterhaltung dienten. Ebenso kennen wir keine reinen Kindermärchen. Das Märchen, bzw. der Märchenerzähler, wandte sich an den Erwachsenen. Die Märchen trafen den Zuhörer unmittelbar, viele Menschen fühlten sich persönlich angesprochen. Aus der Schilderung der mannigfaltigen und notvollen Kämpfe und deren siegreicher Beendigung erwuchs ihnen Kraft und neue Möglichkeiten, ihre eigenen Lebensschwierigkeiten zu bewältigen. So können wir Märchen als Kunstwerke von zeitloser Gültigkeit bezeichnen, in denen durch die Hilfe von Bildern, Gestalten und Symbolen Lebenserfahrungen zum Ausdruck gebracht werden.

Der Begriff "Märchenerzählen" weckt bei mir selbst eine Vielfalt von Kindheitserinnerungen und ist verbunden mit ganz bestimmten Rahmenbedingungen: "Meine Mutter erzählte mir täglich Märchen, besonders in den dunklen Wintermonaten. Die Hausarbeit war erledigt, das Abendessen vorbereitet, wir warteten auf die Heimkehr des Vaters von der Arbeit. Wir kuschelten auf dem alten Sofa. 'Bitte, erzähl mir ein Märchen!' Im Raum war es dämmrig, denn wo nur möglich musste der Strom gespart werden. Und dann begann meine Mutter zu erzählen... 'Es war einmal...' Für mich war und ist Märchenerzählen mit dieser sicheren, heimeligen Atmosphäre verbunden".

Diese Kindheitserinnerungen waren bei mir nahezu in Vergessenheit geraten. In der praktischen Kindergartenarbeit bildeten sie aber dann mein Rüstzeug für das Erzählen. Dicht gedrängt saßen die Kinder auf dem Bauteppich mit dem Wunsch: "Bitte, erzähle eine Geschichte, ein Märchen". "Es war einmal..." Zwischendurch hörte man das tiefe Atmen der Kinder, in Erzählpausen flüsterten sie: "Weiter..." Wie oft habe ich beobachtet, dass auch die Erwachsenen, die im Raum waren, genauso gespannt zuhörten wie die Kinder.

Märchen werden so lange leben, so lange es Erzähler gibt. Ich möchte dies bewusst noch einmal wiederholen. Zuhörer gibt es immer. Machen Sie den Versuch und erzählen Sie einer Gruppe von Menschen. Sie werden sie alle bald in den Bann des Märchens gezogen haben.

Das Erzählen

Der Erzieher, und damit der Erzähler im Bereich des Kindergartens, erfährt in seiner Ausbildung zu wenig über das Märchen. Meist wird das Märchen nur als Literaturgattung vorgestellt, werden verschiedene Märchensammlungen betrachtet, einige Märchen gelesen und interpretiert. Über das Erzählen selbst wird wenig Wissen vermittelt.

Erzählen und Vorlesen sind zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidende Begriffe. Vielfach werden sie im Kindergarten gleichgesetzt. "Ich erzähle Euch eine Geschichte" und dann wird das Buch aufgeklappt. Lassen Sie mich auch hier ein kleines Beispiel aus der Praxis einfügen. "Bei einem Besuch in einen Kindergarten bot ich der sehr überlasteten Erzieherin an, dass ich ihren Kindern eine Geschichte erzählen würde, sie könne inzwischen dringende, notwendige Aufgaben erledigen, so dass wir nach dem Abholen der Kinder Zeit für das geplante Beratungsgespräch hätten. Schon das Sitzen auf dem Bauteppich in der Ecke war für die Kinder eine gänzlich ungewohnte Situation. Und dann, dann hatte ich nicht mal ein Buch! "Da kann man doch nicht erzählen!" So versuchte ich, den Kindern zu verdeutlichen, dass ich die Geschichte im Kopf hätte und dass es mir sehr wichtig sei, sie beim Erzählen alle anschauen zu können. Sie waren bereit, den Versuch mit mir zu machen. Nach wenigen Minuten schon blickten sie mir ins Gesicht, und ich konnte mich ganz auf die Kinder einstellen. Die Erzieherin saß am Schreibtisch, gearbeitet hat sie nicht, sie hat auch zugehört. Im Beratungsgespräch ging es dann um das Erzählen.

Zurück zum Begriff Erzählen. Ich muss als Erzieher eine Geschichte oder ein Märchen verinnerlicht haben, denn nur dann kann ich es an die Kinder weitergeben und mich zudem noch auf meine Zuhörerschaft einstellen. Das Wichtigste beim Erzählen ist der Blickkontakt. Das gilt nicht nur für den Kindergarten, sondern gleichermaßen für die Schule und die erwachsenen Zuhörer. Aus dem Blickkontakt erhalte ich als Erzähler Rückmeldung und kann mich besser auf die Zuhörer einstellen. Dies kann geschehen durch Veränderung der Stimmlage, aber auch vielleicht dadurch, dass ich das Märchen langsamer vortrage und wichtige Stellen wiederhole. Von den Kindern bekomme ich Signale für notwendige kleine Pausen. Die Kinder können Fragen und Ergänzungen einbringen. Dies führt unweigerlich auch zu "Schwierigkeiten", da die älteren Kinder gerne weiterhören möchten, die jüngeren Kinder aber lieber fragen wollen.

Erzählen - lernbar?

Erzählen ist ein stückweit sicher lernbar. Die beste Schule hierfür ist die eigene Kindheit, das eigene Erfahrungslernen, selbst erfahren zu haben, was Spannung, Entspannung, Anspannung heißt, selbst verschiedene Erzählweisen erlebt zu haben.

Aber wie kann ich es lernen? Es beginnt mit der Vorbereitung einer Geschichte. "Überlese" ich sie nur in einem Buch, so nehme ich zwar den Inhalt auf, nicht aber die Dynamik und die feinen Nuancen in der Sprache. Eine erste Übung für das Erzählen ist demnach das laute mehrfache Vorlesen, der Erzieher für sich alleine. Machen Sie eine Tonbandaufnahme, dann können Sie sich selbst besser "hören".

Eine zweite Anregung: Bleiben Sie in der Sprache der Märchen. Versuchen Sie nicht für alles Erklärungen abzugeben und es in unsere heutige Sprache zu übersetzen. Nur zu schnell verfremden Sie damit das Märchen und es geht "verloren".

Und ein drittes, versuchen Sie einmal selbst, sich ein Märchen auszudenken. Glauben Sie nicht, dass Sie das nicht könnten. Sie können es! Eine Hilfe kann Ihnen dabei der Geschichtenkasten sein. Sie haben eine Reihe von Kärtchen mit Märchenmotiven gesammelt (vielleicht mit Kindern gemalt). Da gibt es eine Prinzessin, eine Fee, einen Raben, einen Frosch, die Blume, das Pferd, den Zauberer usw. Wenn Sie die Kinder diese Kärtchen malen lassen, so können Sie auch gleich die Interessenspunkte herausfinden, die für die Kinder wichtig sind. Ich erinnere mich an ein Kind, das sich wünschte: "Bitte ein Märchen mit der Prinzessen, dem Raben und dem Zauberwasser".

Märchenerzählen für Kinder ist deshalb so wichtig, weil die Märchen mit den Grunderfahrungen der Kinder übereinstimmen. Darin liegt auch die heilende Kraft des Märchens, in dem ungeheure Tiefen des menschlichen Lebens aufleuchten.

Welche Märchen für Kinder?

Es fällt mir schwer diese Frage zu beantworten. Charlotte Bühler hat den von der Wissenschaft meist unkritisch angewandten Begriff des "Märchenalters" geprägt. Kinder zwischen 4 und 5 Jahren lieben Märchen ganz besonders. Das Weltbild der Kinder wird organisiert vom magischen Denken. Im konkreten Bereich sind die Kinder jedoch auch fähig, von Fall zu Fall logisch-kausal zu denken. So fordern sie neben dem Märchen auch realistische Geschichten, Verse, Bilder und "Mischformen".

Beschäftigt sich das Kind mit dem Märchen, so entwickelt es Interesse für unbekannte Dritte. Der Erzieher fördert diesen Schritt dadurch, dass er Parallelen zum Kind sucht, z.B. "Ein rotes Käppchen, wie du eines hast". Wir brauchen keine zu große Auswahl von Märchen, denn Kinder hören ein Märchen gerne mehrfach hintereinander. Durch die Wiederholung werden sie nicht gelangweilt, vielmehr heben sie Freude an der Sprache. Je bekannter ihnen ein Märchen ist, desto größer wird ihre Sicherheit. Das scheinbar grausame Märchen ist dem Kind vertraut. Die Spannung löst sich, denn das Kind weiß: Am Ende springt das Rotkäppchen wieder durch den Wald, der Großmutter geht es gut...

Wenn die Kinder wissen, was im Märchen vorkommt, dann wissen sie, wie sich das Problem auflöst. Das gibt ihnen Sicherheit und Ruhe. Der Erzieher darf keinesfalls die spezifischen unbewussten Spannungen und die psychologische Bedeutung der Objekte dem Kind bewusstmachen. Die Reaktionen der Kinder entscheiden, inwieweit Erklärungen zum Märchen nötig sind.

Ebenso wie der primitive Mensch ist das Kind nicht in der Lage, sich Naturerscheinungen und physikalische Phänomene zu erklären. So drängt es in die Richtung magischer Deutungen. Es glaubt an Feen und andere Fabelwesen. Oft denkt es, dass es die Naturkräfte durch Singen oder andere Rituale beherrschen und bestimmte Ereignisse beeinflussen kann. Wenn Felicitas Betz die Märchen "als Schlüssel zur Welt" bezeichnet, so liegt es in der Hand des Erziehers, für seine Kinder den richtigen Schlüssel zu finden und damit die richtige Auswahl zu treffen. Als Erzieher müssen wir immer wieder versuchen, das Kind auf seiner Bildebene zu erreichen. Als Erwachsene haben wir damit Schwierigkeiten, weil wir uns der Bilderwelt des Märchens entfremdet haben.

Wenn Sie heute als Erzieher den Kindern Märchen erzählen, so schaffen Sie damit erste Voraussetzungen für ein umfassendes Lebens- und Weltverständnis. Die Förderung des Bildbewusstseins ist beim Kind auch bedeutsam für die religiöse Entwicklung. Viele biblische Schriften werden nicht verstanden, weil Sie die Bilder begreifen und erfassen können. Märchen und biblische Geschichten sprechen die gleichen Bilder in uns an, es gibt also profane und sakrale Urbilder. "Wer also kleine Kinder dahingehend fördern möchte, daß sie für eine Erfahrung von Gott vorbereitet werden, der wird ihr Bildbewußtsein sorgsam pflegen und behüten. Die Märchen werden sich hierbei als sehr wirksame Helfer erweisen" (Felicitas Betz in "Märchen als Schlüssel zur Welt").

Und wenn Sie jetzt Märchen erzählen...

  • befassen Sie sich zuerst selbst mit den Bildern im Märchen.
  • umspielen Sie die Bilder mit Ihrer Fantasie: wie sah es aus, das rote Käppchen?
  • überlegen Sie sich, was das ausgewählte Märchen im Kind bewirken kann.
  • freuen Sie sich selbst auf das Erzählen, es wirkt positiv auf die Kinder.
  • machen Sie sich bewusst, dass Sie für die Kinder erzählen, nicht um sich selbst zu produzieren.
  • achten Sie darauf, dass nach dem Märchenerzählen noch Zeit bleibt für eine Ruhepause zur Entspannung (das Märchen ist also kein Lückenfüller vor dem Abholen o.Ä.).
  • wecken Sie in Kindern und Eltern die Freude am eigenen Erzählen.

"Ein Kind, dem nie Märchen erzählt worden sind, wird ein Stück Feld in seinem Gemüt behalten, das in späteren Jahren nicht mehr angebaut werden kann" (Herder).

Autorin

Ingeborg Becker-Textor ist Kindergärtnerin und Hortnerin. Sie studierte Diplom-Sozialpädagogik an der Fachhochschule Würzburg und Diplom-Pädagogik an der Universität Würzburg und hat mehrere Zusatzqualifikationen wie z.B. den Abschluss als Fachlehrerin für Werken und das Montessori-Diplom erworben.
Frau Becker-Textor arbeitete als Kindergartenleiterin in Würzburg, als Regierungsfachberaterin für Kindertageseinrichtungen in Unterfranken, als nebenberufliche Dozentin in der Ausbildung für Kinderpfleger/innen und Erzieher/innen, in der Fortbildung für Erzieher/innen und Fachkräfte in der Jugendhilfe sowie mehr als 20 Jahre lang als Referatsleiterin im Bayer. Sozialministerium (nacheinander in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit). Im Ministerium war sie auch für zahlreiche Forschungsprojekte auf Landes- und Bundesebene zuständig. Von 2006 bis 2018 leitete sie zusammen mit ihrem Mann das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Ingeborg Becker-Textor ist Autorin bzw. Herausgeberin von mehr als 20 Büchern und über 40 Medienpaketen. Sie hat ca. 140 Fachartikel in Zeitschriften, in Sammelbänden und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de