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Zitiervorschlag

Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Martha Muchow

Manfred Berger

Die promovierte Kinderpsychologin Martha Muchow versuchte am 27. September 1933 ihrem Leben ein Ende zu setzen. Zwei Tage später starb sie mit 41 Jahren an den Folgen des Selbstmordversuches in einer Hamburger Klinik. In einem Nachruf schrieb Helene Klostermann über die Verstorbene:

"Seit vielen Jahren wirkte Dr. Muchow vollamtlich an dem Psychologischen Institut der Universität Hamburg. Sie war Assistentin von Prof. Stern, dessen Namen Ihnen (den LeserInnen für das Nachrichtenblatt des "Comenius-Fröbel-Vereins"; M.B.) vielleicht unsere gemeinsame Beschäftigung mit seiner 'Psychologie der frühen Kindheit' zurückruft. Dieses Gebiet war für die besonderen fraulichen Anlagen ein fruchtbares Arbeitsfeld. Martha Muchow trug in die Beobachtungen und Forschungen der Studierenden das feine Verständnis geistiger Mütterlichkeit hinein, wodurch die Wissenschaft von der Kinderseele erst mit Leben erfüllt wird. Durch ihre Beobachtungen in den Kindergärten und eigene Vertiefung in Fröbels Schriften wurde sie, unbeirrt durch vielfache Ablehnungen in den akademischen Kreisen, eine überzeugte Anhängerin des Kindergärtners und Menschenerziehers ...
Mit dankbarem Herzen erkannte ich in ihr die berufene Persönlichkeit, die als Trägerin der Gedanken Fröbels ihm auf dem Wege der Wissenschaft die Anerkennung und Würdigung erringen würde, die er in der breiten Öffentlichkeit bisher nicht gefunden" (Klostermann 1934, o. S.).

Gerade was die Bedeutung des kindlichen Spiels in "der frühen Erziehung" betraf, griff Martha Muchow in Auseinandersetzung mit Maria Montessori, Jean Piaget, Charlotte Bühler u. a. immer wieder auf Friedrich Fröbel zurück. Sie betrachtete das Spiel des Kindes als die "beherrschende Tätigkeit, (die; M.B.) eine Beziehung zwischen dem Kinde und den Dingen der Umwelt (schafft; M.B.), diejenige Beziehung, die hier allein möglich ist, weil die denkende Bewältigung dem Kind noch nicht gelingen kann" (Muchow 1932, S. 95). Dabei wurde ihrer Ansicht nach dem "freischöpferischen Spiel" am konsequentesten Raum dafür in den Kindergärten gegeben, "die sich direkt oder indirekt auf der Fröbelschen Grundlage entwickelt haben":

"Fröbel war sich wie kein anderer Pädagoge darüber klar, daß man eine Lebensstätte des kleinen Kindes nur schaffen konnte, indem man die Stätte phantasiebelebten Spieles schuf. Er wußte, daß das Spiel des Kleinkindes 'nicht Spielerei' ist, sondern 'hohen Ernst und tiefe Bedeutung' in sich trägt, daß es 'das reinste geistigste Erzeugnis des Menschen auf dieser Stufe' ist. Doch sah er auch die Notwendigkeit, das Kind langsam zur Arbeit hinüberzuführen. Aber nicht durch einen öden Drill auf Aufgaben, sondern durch langsames schrittweises Hinüberleiten zu gebundeneren Betätigungen, die zunächst immer noch eng dem Spiel verwandt bleiben, führt er das Kind dahin, Ziele seiner Betätigung zu setzen und zu verfolgen. Ein Teil der Betätigungen, die man mit dem unglücklichen Namen 'Beschäftigungen' bezeichnet, bildet dieses Übergangsstück, das neben dem Freispiel und dem Bewegungsspiel im Kindergarten als Bildungsmittel Verwendung findet. Sie sind noch nicht regelrechte werkschaffende Arbeiten, die die Wirklichkeit dauernd umgestalten wollen. In ihren Zielen sind sie noch größtenteils aus den Bedürfnissen des Spiels bestimmt. In ihnen schafft das Kind sich die Dinge, die es in seinem Spiel braucht. Es lernt so, Rücksicht auf die Verwendungsmöglichkeit zu nehmen und sich gewissen Zwecken entsprechend zu verhalten" (Muchow 1929, S. 81).

Aufmerksamkeit erregte Martha Muchow mit ihrer zusammen mit Hilde Hecker 1927 veröffentlichten Publikation "Friedrich Fröbel und Maria Montessori". Während Hilde Hecker eher den praktischen Aspekt der Montessoripädagogik darstellte, übernahm Martha Muchow mehr den theoretisch/kritisch ausgerichteten Part:

"Daß man mit Martha Muchow seitens des Deutschen Fröbelverbandes, in dessen Buchreihe die Arbeit erschien, eine Stern-Schülerin um diese Aufgabe gebeten hatte, unterstreicht - neben der eigenständigen und einflussreichen Rolle, die Muchow in der Fröbelbewegung zu spielen vermochte - noch einmal die herausgehobene Bedeutung, die der Kinderpsychologie im allgemeinen und der Stern-Schule im besonderen in der Auseinandersetzung um Montessori zukam. Die enge Zusammenarbeit mit Hilde Hecker (Lehrerin am renommierten Berliner "Pestalozzi-Fröbel-Haus"; M.B.) belegt freilich auch, daß ein Gespräch zwischen den Lagern durchaus möglich war. Das allerdings war nicht zuletzt Ergebnis der innerhalb der Fröbelbewegung zu diesem Zeitpunkt, Ende der 20er Jahre, trotz des dort wirksamen Einflusses der kinderpsychologischen Kritik wieder erreichten größeren Offenheit gegenüber der Montessoripädagogik.
Dies zeigt sich auch daran, daß selbst Muchow, die aufgrund ihres Engagements in praktischen Kindergartenfragen und ihrer Bemühungen um einen engen Austausch zwischen Vorschulpädagogik und Kinderpsychologie über großen Rückhalt in der Fröbelbewegung verfügte, den Leistungen Montessoris ihre prinzipielle 'Anerkennung und Hochachtung nicht versagen' wollte; hierin setzte sich die Schülerin von ihrem Lehrer William Stern, der im Montessoriansatz nur widerwillig auch eigene positive Aspekte zu sehen bereit war, deutlich ab" (Konrad 1997, S. 190).

Den wohl gravierendsten Unterschied zwischen Fröbel und Montessori sah sie in der unterschiedlichen Bewertung der Phantasie des Kindes:

"Sieht Fröbel in ihr das Lebenselement des Kindes, an das alle Erziehung sich anpassen muß, so ist sie für Maria Montessori nur ein unerfreuliches und möglichst zu unterdrückendes Erbteil unzivilisierter Vorfahren. Im Kinderhaus wird daher jede Regung der Phantasie unterdrückt und das Kind zur Beachtung der realen Verhältnisse angeleitet. Bilderbücher und Märchen, die seine Phantasie befruchten könnten, Reigenspiele und Darstellungsspiele, die zu einer Erzeugung von Phantasiesituationen verleiten, sind vom Programm des Kinderhauses ausgeschlossen" (Hecker/Muchow 1927, S. 172).

Am 25. September 1892 erblickte Martha Muchow in Hamburg das Licht der Welt. Zu ihrem um acht Jahre jüngeren Bruder hatte sie zeitlebens ein inniges Verhältnis, ebenso zu ihrer Mutter, deren unerwarteter Tod am 9. April 1933 sie emotional sehr belastete. Nach dem Abitur, Ostern 1912, legte Martha Muchow die Lehramtsprüfung ab und sammelte erste Lehrerfahrungen an einer höheren Mädchenschule in Tondern (heute Dänemark). Von 1915 bis 1920 war sie an Hamburger Volksschulen tätig. Ostern 1919 begann sie ihr Studium der Psychologie, Philosophie, deutsche Philologie und Literaturgeschichte an der neugegründeten Hamburger Universität. Bereits ein Jahr später wurde sie vom Schuldienst beurlaubt um als "wissenschaftliche Hilfsarbeiterin" am "Psychologischen Laboratorium", "das in den Jahren bis 1933 zum zweitgrößten psychologischen Institut - nach Leipzig - heranwächst" (Miller 1993, S. 192), arbeiten zu können. 1923 promovierte Martha Muchow "summa cum laude" mit der Arbeit "Studien zur Psychologie des Erziehers". Zusätzlich zu ihrer akademischen Tätigkeit unterrichtete sie noch ab 1927 Psychologie im Jugendleiterinnenkurs des Hamburger "Fröbel-Seminars".

Als die Nazis an die Macht kamen wurde das "Psychologische Institut" geschlossen, zumal die meisten MitarbeiterInnen und sein Leiter, William Stern, jüdischer Herkunft waren. Martha Muchow, die einzige "Arierin", wurde als "Judengenossin" denunziert:

"Fräulein Dr. Muchow, die engste Vertraute von Prof. Stern, die ihn auch heute täglich besucht und mit ihm alle Pläne ausarbeitet, ist die gefährlichste von allen dreien. Sie war aktives Mitglied des marxistischen 'Weltbundes für Erneuerung der Erziehung' ... Ihr pädagogisch-psychologischer Einfluß ist unheilvoll und einer deutschen Staatsauffassung zuwiderlaufend ... Die ganze Psychologie an der Hamburgischen Universität liegt also, was die Vorlesungen und Übungen anbetrifft, heute in der Hand eines wissenschaftlich gänzlich bedeutungslosen Judengenossen (Dr. Wunderlich), dessen Cousine, einer jungen Anfängerin (Frl. Dr. Knoblauch) und einer marxistisch eingestellten Demokratin (Frl. Dr. Muchow), deren ganzes Lebenswerk auf Bekämpfung der jetzt siegreichen Ideen eingestellt war" (zit. n. Zinnecker 1998, S. 57).

Genau am Tag ihres 41. Geburtstages wurde Martha Muchow von den Nazis all ihrer Aufgaben enthoben.

Abschließend ist noch auf Martha Muchows eigentliches Hauptwerk hinzuweisen, das posthum durch ihren Bruder Hans Heinrich Muchow 1935 veröffentlicht wurde: "Der Lebensraum des Großstadtkindes". Die Studie "avancierte in den achtziger Jahren (des 20. Jahrhunderts; M.B.) zu den meistzitierten Arbeiten der neuen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung in Deutschland" (Muchow/Muchow 1998, S. 6).

Literatur

Berger, M.: Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Ein Handbuch, Frankfurt 1995

ders.: Martha Muchow: Feinsinnige Kinderpsychologin, in: Kinderzeit 1998/H. 2

Fries, M.: Mütterlichkeit und Kinderseele. Zum Zusammenhang von Sozialpädagogik, Kinderpsychologie zwischen 1899 und 1933 - ein Beitrag zur Würdigung Martha Muchows, Frankfurt 1996

Hecker, H./Muchow, M.: Friedrich Fröbel und Maria Montessori, Leipzig 1929

Klostermann, H.: Nachruf auf Martha Muchow, in: Nachrichten für die Mitglieder des Comenius-Fröbel-Vereins 1934/Nr. 16

Konrad, F.-M.: Kindergarten oder Kinderhaus? Montessori-Rezeption und pädagogischer Diskurs in Deutschland bis 1939, Freiburg 1997

Miller, R.: Martha Muchow, in: Lück, H./Miller, R. (Hrsg.): Illustrierte Geschichte der Psychologie, München 1993

Muchow, M.: Psychologische Probleme der frühen Erziehung, Erfurt 1929

dies.: Das kindliche Spiel und die Organisation des Spiels im Kindergarten unter psychologischem Gesichtspunkt betrachtet, in: Kindergarten 1932/H. 3

dies./Muchow, H. H.: Der Lebensraum des Großstadtkindes, Weinheim 1998

Strnad, E.: Martha Muchow in ihrer Bedeutung für die sozialpädagogische Arbeit, in: Muchow, H. H. (Hrsg.): Aus der Welt des Kindes, Ravensburg 1949

Zinnecker, J.: Recherchen zum Lebensraum des Großstadtkindes. Eine Reise in verschüttete Lebenswelten und Wissenschaftstraditionen, in: Muchow, M./Muchow, H. H.: Der Lebensraum des Großstadtkindes, Weinheim 1998