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Zitiervorschlag

Behinderte Kinder und ihre nicht behinderten Geschwister

Martin R. Textor

 

In den letzten Jahrzehnten sind immer mehr behinderte Kinder in Kindertagesstätten aufgenommen worden - zunächst vor allem in integrativen Kindergärten, dann überwiegend auf dem Wege der Einzelintegration. Mit dem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab Vollendung des ersten Lebensjahres werden in Zukunft mehr Ein- und Zweijährige mit Behinderungen in Kinderkrippen gefördert werden. Ferner werden immer mehr Schulkinder mit Behinderungen in Kinderhorten betreut werden - bedingt durch die rechtliche und politische Vorgabe der Inklusion an Schulen. Viele behinderte Kinder werden natürlich auch Kindertageseinrichtungen mit weiter Altersmischung besuchen.

In diesem Artikel geht es nicht um den heil- und sonderpädagogischen Bedarf von Kindern mit Behinderungen, sondern um deren psychisches Befinden. Außerdem wird auf die Situation nicht behinderter Geschwister eingegangen. Sie werden wohl schon immer in Kindertageseinrichtungen betreut, aber nur ein Teil der Erzieher/innen ist sich der besonderen Bedürfnisse dieser Kinder bewusst.

Der Umgang mit der eigenen Behinderung

Laut Lavin und Sproedt (2004) leiden Kinder bis zu vier Jahren noch relativ wenig unter ihrer Behinderung. Insbesondere bei körperlichen Behinderungen und chronischen Krankheiten nähmen sie aber schon frühzeitig wahr, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, da sie immer wieder Ärzten vorgestellt, in Krankenhäuser eingeliefert und besonderen Therapien unterzogen werden. Kommen sie viel mit gesunden Gleichaltrigen zusammen, würden sie bereits erste Minderwertigkeitsgefühle entwickeln, wenn sie bemerken, dass sie mit ihnen nicht mithalten können.

Im Vorschulalter gewinnen Kinder klarere Vorstellungen von ihren Behinderungen (Lavin/ Sproedt 2004). Es wird ihnen immer mehr bewusst, dass sie nicht richtig zu den anderen Kindern passen und durch ihre Behinderung in bestimmten Bereichen beeinträchtigt sind. Manche Kinder richten die Wut über ihr "Anderssein" gegen ihre Eltern und geben ihnen die Schuld.

Im Vorschul- und vor allem im (Grund-) Schulalter differenzieren sich laut Lavin und Sproedt (2004) verschiedene Bewältigungsmechanismen aus: Manche Kinder mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten würden "Kämpfernaturen" entwickeln. Einige würden aggressiv werden und andere Kinder hänseln, verspotten oder schlagen. Manche Kinder wären eher passiv und verschüchtert, andere traumatisiert und verängstigt. Eine besonders problematische Situation entstände, wenn sich behinderte Kinder als von Gleichaltrigen und anderen Menschen abgelehnt empfinden: "Oft fühlen sich die Kinder als Opfer und versuchen, andere abzuwehren, sich selbst zu schützen oder Mitgefühl zu bekommen. Manchmal benutzen sie ihre Symptome, um ihre Welt zu manipulieren und zu beherrschen, um vielleicht eine für sie schwierige Situation - wie das Besuchen der Schule oder die Teilnahme an einer anderen Gruppenaktivität - zu umgehen" (Lavin/ Sproedt 2004, S. 21). Gelegentlich würden sie sich auch eine Fantasiewelt mit eingebildeten Menschen und anderen Wesen schaffen, die für sie immer präsent sind und mit denen sie sprechen.

Erzieher/innen benötigen also nicht nur die für den Umgang mit der Behinderung des jeweiligen Kindes relevanten heilpädagogischen Kompetenzen, sondern müssen auch dessen psychischen Bewältigungsmechanismus erkennen und entsprechend reagieren. Beispielsweise können sie

  • ein Kind, das viel alleine spielt, weil es sich von den anderen abgelehnt fühlt, während der Freispielzeit in Kleingruppen zu integrieren versuchen. Auch wenn sie zunächst mit ihm spielen, werden sich bald andere Kinder dazu gesellen...
  • einem (älteren) Kind immer wieder die Gelegenheit bieten, sich über Diskriminierungserfahrungen auszusprechen, und Empathie für seine verletzten Gefühle zeigen.
  • ein Kind anhalten, sich bei Spott selbst zu beruhigen, einen Spötter oder eine es anstarrende Person zu ignorieren oder sich ihnen gegenüber zu behaupten, indem es z.B. fragt: "Wieso gucken Sie mich so an?"
  • ein aggressives Kind in seine Grenzen verweisen - genauso wie sie es bei anderen verhaltensauffälligen Kindern tun würden - und mit ihm über alternative Reaktionen sprechen.
  • Fantasien eines Kindes in andere Bahnen lenken und seine Beziehungen zu anderen Kindern intensivieren.

Besonders wichtig ist, dass Erzieher/innen auch die Stärken von Kindern mit Behinderung wahrnehmen und ihnen gegenüber betonen, damit diese ein positives Selbstbild und Selbstwertgefühle entwickeln können. Nur wenn sie nicht "überbetreut" oder "verhätschelt" werden, können sie selbständig werden, neue Herausforderungen meistern und aus solchen Erfahrungen heraus an Selbstvertrauen gewinnen. Prinzipiell sollten in der Gruppe für sie dieselben Rechte und Pflichten, Regeln und Grenzen wie für die anderen Kinder gelten, sofern nicht die jeweilige Behinderung hier Einschränkungen bedingt.

Zur Situation der Geschwister behinderter Kinder

Achilles (2005), Hackenberg (2008) sowie Lavin und Sproedt (2004) machen in ihren Büchern deutlich, dass auch die Geschwister behinderter Kinder besondere Bedürfnisse und Probleme haben. Diese resultieren aus folgenden Familienkonstellationen und persönlichen Erfahrungen:

  • Geschwister stehen in ihren Familien oft am Rande oder werden sogar vernachlässigt, da das behinderte bzw. chronisch kranke Kind den größten Teil der Zeit und Energie der Eltern bindet. So fühlen sie sich zu wenig beachtet, sind eifersüchtig auf das behinderte Kind und wütend auf ihre Eltern.
  • Manche Geschwister nehmen die großen Belastungen und Sorgen ihrer Eltern wahr und reagieren darauf, indem sie bewusst eigene Bedürfnisse zurückstellen, viel Rücksicht nehmen und eigene Probleme selbst zu lösen versuchen. Andere ignorieren das behinderte Kind und gehen ihren eigenen Weg.
  • Manche Kinder mit Behinderung drängen ihre Geschwister zur Seite, indem sie geschickt die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich ziehen und ihre Hilfsbedürftigkeit nutzen, um eigene Bedürfnisse und Wünsche durchzusetzen.
  • Einige (Klein-) Kinder, die sich von den Eltern zu wenig beachtet fühlen, weil sich diese auf das behinderte Geschwister konzentrieren, versuchen, durch eine vorgetäuschte Krankheit, eine Verletzung oder Verhaltensauffälligkeiten die Aufmerksamkeit ihrer Eltern auf sich zu ziehen.
  • Während Kleinkinder oft Angst haben, sie könnten ebenfalls behindert oder krank werden (z.B. durch Ansteckung oder als Strafe für "böse Taten"), befürchten (pubertierende) Schulkinder häufig, sie könnten wegen des behinderten Geschwisterteils keine Freundin bzw. keinen Freund finden.
  • Manche Kleinkinder geben sich selbst die Schuld für die Behinderung ihres Geschwisters (magisches Denken). Schuldgefühle können aber auch entstehen, wenn z.B. ein "Glasknochenkind" beim gemeinsamen Spiel einen Knochenbruch erleidet.
  • Geschwister werden häufig in die Pflege und Förderung eines behinderten Kindes eingebunden - jedoch unterschiedlich intensiv. Manche Kinder übernehmen auch von sich aus pflegerische Aktivitäten (z.B. aus Liebe oder Mitleid), entwickeln ein Helfer-Syndrom und opfern sich in der Fürsorge für das behinderte Geschwister auf. Manchmal fühlen sie sich ein Leben lang für es verantwortlich.
  • Viele Kinder erleben intrapsychische und interpersonale Konflikte, wenn Freunde, Mitschüler oder andere für sie wichtige Personen ihr behindertes Geschwister ablehnen oder verspotten. "Diskriminierende Erfahrungen können zu Schamgefühlen und zu Loyalitätskonflikten bei den Geschwistern führen, die sich einerseits mit ihrem behinderten Bruder oder behinderten Schwester verbunden fühlen, andererseits aber auch gesellschaftlich 'dazugehören' möchten" (Hackenberg 2008, S. 87).
  • Einige Kinder hassen den behinderten Geschwisterteil wegen seines privilegierten Status oder wegen der Probleme, die sie seinetwegen in ihrem Freundeskreis haben. Insbesondere wenn sie sich deswegen aggressiv ihm gegenüber verhalten oder ihn verspottet haben, erleben sie Gewissensbisse.
  • Manche Kinder werden seitens ihrer Eltern mit besonders hohen Erwartungen konfrontiert, die sich auf ihre schulische und berufliche Laufbahn beziehen: "Eine Reihe von Geschwistern fühlt sich verpflichtet, kompensatorisch besondere Leistungen zu erbringen, die den Eltern einen Ausgleich für die Enttäuschungen über die begrenzten Möglichkeiten des behinderten Kindes geben" (Hackenberg 2008, S. 102).
  • Viele Geschwister erleben materielle Einschränkungen, da die Mütter oft wegen der Betreuung des behinderten Kindes ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben haben und aus dem verbliebenen (niedrigen) Einkommen häufig besondere Leistungen für das Kind bezahlt werden müssen.

In der Regel sind Beziehungen zwischen einem behinderten oder chronisch kranken Kind und seinen Geschwistern aber positiver, liebevoller und fürsorglicher als andere Geschwisterbeziehungen. Relativ selten scheinen Geschwisterkonflikte zu sein - zum einen überschneiden sich die Interessen behinderter und nicht behinderter Kinder weniger, zum anderen sind die Lebenssphären (Betreuungseinrichtungen, therapeutische Dienste, Schulen, Freundeskreis) unterschiedlicher. Jedoch können asymmetrische Beziehungen entstehen: Während sich normalerweise Entwicklungsunterschiede zwischen Geschwistern mit zunehmendem Alter verringern, nehmen sie bei vielen Behinderungen zu. So mag ein jüngeres Kind einen behinderten Geschwisterteil schon frühzeitig überholen und eine dominante Position ihm gegenüber einnehmen.

Laut Hackenberg (2008) zeigen neuere Untersuchungen, dass die meisten Geschwister behinderter Kinder nicht weniger Zuwendung von ihren Eltern erhalten als Kinder in anderen Familien und sich überwiegend normal entwickeln. Während viele Menschen von dem Aufwachsen mit einem behinderten oder chronisch kranken Geschwisterteil profitieren würden, weil sie vielfältige Kompetenzen, prosoziale Einstellungen (Mitgefühl, Verständnis, Toleranz, Verantwortungsbewusstsein usw.) sowie eine große persönliche Reife ausbilden, hätte man bei anderen leichte Anpassungsstörungen und psychische Auffälligkeiten festgestellt. Nur ein kleiner Teil der Geschwister behinderter Kinder benötige (später) eine Beratung oder psychotherapeutische Behandlung.

Ferner beschreiben Achilles (2005) und Hackenberg (2008), wovon es abhängt, wie sich Geschwister behinderter Kinder entwickeln - von eigenen Ressourcen wie psychische Gesundheit und Selbstwertgefühl, von der elterlichen Zuwendung, der Beziehung der Eltern, der Lebenszufriedenheit der Mutter, der Qualität des sozialen Netzwerks usw. Auch die Art der Behinderung spiele eine Rolle: Beispielsweise würden sich Geschwister von Down-Syndrom Kindern besser entwickeln als solche von autistischen Kindern, da diese für mehr "peinliche" Situationen in der Öffentlichkeit sorgen würden.

Erzieher/innen sollten Geschwister behinderter Kinder genau beobachten und nach Anzeichen für problematische Reaktionen auf deren Familiensituation suchen, sodass ihnen frühzeitig geholfen werden kann. Insbesondere Kleinkinder benötigen oft noch Informationen über die Behinderung bzw. chronische Krankheit ihres Geschwisterteils - und die Versicherung, dass sie weder dafür verantwortlich sind noch sich "anstecken" können. Mit etwas älteren Kindern kann über deren Gefühle bezüglich des behinderten Geschwisters gesprochen werden (z.B. Eifersucht, Schuldgefühle, Mitleid, Angst). Manche äußern dann ihre Wut darüber, "dass zwischen den Eltern und dem kranken Kind eine so ganz besondere Bindung zu bestehen scheint" (Lavin/ Sproedt 2004, S. 65). Aber auch stigmatisierende Reaktionen von Freunden, Mitschülern und (Un-) Bekannten sollten thematisiert werden. Hier benötigt das Kind nicht nur eine Gelegenheit zur Aussprache, sondern auch (emotionale) Unterstützung im Umgang mit solchen Erfahrungen.

Insbesondere bei Entwicklungsgesprächen ist es wichtig, mit den Eltern über ihr Verhalten gegenüber dem nicht behinderten Kind im Vergleich zum behinderten Geschwisterteil, über die Einbindung des erstgenannten Kindes in pflegerische Aufgaben und über die Geschwisterbeziehung zu sprechen. Dabei geht es zum einen darum, problematische Familienkonstellationen und Verhaltensweisen frühzeitig zu erkennen, und zum anderen darum, präventiv tätig zu werden - also z.B. den Eltern zu verdeutlichen, dass auch die Geschwister behinderter Kinder viel Zuwendung und Zeiten der ungeteilten Aufmerksamkeit benötigen, dass ihnen nicht zu viele Pflichten übertragen werden sollten, dass sie für Unterstützungsleistungen zumindest gelegentlich gelobt werden müssen und dass sie Freiräume für eigene Interessen und soziale Beziehungen gebrauchen. Ferner sollten die Eltern ihren Kindern immer wieder erklären, dass sie sie genauso stark lieben wie ihr behindertes Geschwister, diesem aber wegen seiner besonderen Bedürfnisse mehr Zeit widmen müssten. Erzieher/innen können auch Bilder- und Kinderbücher empfehlen, in denen das Thema "Behinderung" behandelt wird. Das Vorlesen bzw. das Gespräch darüber führt in der Regel zu einer offeneren Eltern-Kind-Kommunikation.

Literatur

Achilles, I.: ...und um mich kümmert sich keiner! Die Situation der Geschwister behinderter und chronisch kranker Kinder. München, Basel: Ernst Reinhardt, 4. Aufl. 2005

Hackenberg, W.: Geschwister von Menschen mit Behinderung. Entwicklung, Risiken, Chancen. München, Basel: Ernst Reinhardt 2008

Lavin, J.L./Sproedt, C. (Hrsg.): Besondere Kinder brauchen besondere Eltern. Behindert oder chronisch krank: Wie Sie Ihr Kind beschützen und es unterstützen können. Ratingen: Oberstebrink 2004

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de