×

Zitiervorschlag

"Unser tägliches Brot gib uns heute". Wider die Verschwendung von Lebensmitteln

Martin R. Textor

 

Über Jahrtausende hinweg waren Lebensmittel knapp. Auf allen Erdteilen mussten die Menschen oft hungern. So erfreuten sich Nahrungsmittel einer großen Wertschätzung. Alles wurde verwertet, nichts wurde weggeworfen. Die Worte "Unser tägliches Brot gib uns heute" im Vaterunser hatten für Christen eine tiefgehende Bedeutung und wurden inbrünstig gebetet. Zumeist gab es nur Brot und Getreidebrei zu essen - sowie das, was gerade auf dem Bauernhof bzw. im Garten verfügbar war.

In den hoch entwickelten Ländern leben die Menschen seit 60, 70 Jahren und in den Schwellenländern (in großen Teilen der Bevölkerung) seit 10, 20 Jahren im Überfluss. Wir können es uns leisten, nur noch "schöne" Naturprodukte zu kaufen - der Rest wird weggeworfen: direkt nach der Ernte (was nicht ansprechend geformt und makellos ist), auf dem Vertriebsweg (was nicht richtig gelagert wurde), in den Geschäften (was nicht mehr frisch ist oder wo das Haltbarkeitsdatum fast abgelaufen ist) und von uns als Endverbrauchern (wenn etwas übrig geblieben ist, nicht schmeckt oder zu alt geworden ist). So landet mindestens ein Drittel der globalen Lebensmittelproduktion auf dem Müll - in den hoch entwickelten Ländern ist es sogar die Hälfte aller Nahrungsmittel.

Innerhalb weniger Jahrzehnte hat das Essen an Wert verloren: Wenn wir über eine Fülle billiger Lebensmittel verfügen können, haben die Worte "Unser tägliches Brot gib uns heute" keine Bedeutung mehr. Nahrungsmittel haben aber auch an Wertschätzung eingebüßt, weil wir sie zunehmend in einem weiter verarbeiteten Zustand kaufen (z.B. als Fertiggerichte) und weil wir an ihrer Produktion nicht mehr beteiligt sind (noch vor 200 Jahren haben die meisten Deutschen als Bauern gearbeitet). Es macht einen großen Unterschied, wenn wir "unser täglich Brot" essen, ob wir zuvor "im Schweiße unseres Angesichts" einen Acker gepflügt, geeggt, mit Saatgut versehen, von Unkraut befreit und abgeerntet, das Getreide zu einer Mühle gebracht und das Mehl wieder nach Hause transportiert, den Sauerteig angesetzt und das Brot selbst gebacken haben - oder ob wir es im Supermarkt gekauft haben. Dasselbe gilt für Obst und Gemüse, aber auch für das Fleisch: Essen wir heute ein Stück Braten, symbolisiert es nicht mehr das Rind, dessen Geburt wir im Stall miterlebt, das wir gefüttert und gepflegt, dessen Jauche und Mist wir als Dünger verwendet und dessen Tod wir bei der Hausschlachtung beobachtet haben...

Mit dem Kauf weiter verarbeiteter Lebensmittel verlieren wir auch den Geschmack für das Natürliche - und das Gesunde. So hat die Lebensmittelindustrie schnell gelernt, dass sie ihre Produkte leichter absetzt, wenn diese viel Zucker und Fett enthalten, durch Farbstoffe eine ansprechende Farbe bekommen sowie durch Geschmacksverstärker und Aromastoffe "aufgebessert" werden. Da insbesondere wir Deutschen gerne billig einkaufen, wird zugleich an teuren Zutaten gespart - die Qualität des Essens interessiert ja nur noch die "Ökos". Hauptsache, Preis und Geschmack stimmen! So geben wir gerade einmal 13% des verfügbaren Nettoeinkommens für Essen und Trinken aus; bei den anspruchsvolleren Franzosen und Italienern sind es hingegen über 20%.

Fakten zur Verschwendung von Lebensmitteln

Laut einer im März 2012 veröffentlichten Studie des Verbraucherschutzministeriums werfen deutsche Privathaushalte rund 6,7 Mio. Tonnen Lebensmittel in den Müll, von denen 65% zumindest teilweise noch zu gebrauchen sind. Der Wert wird mit 21,6 Mrd. Euro beziffert bzw. mit 235 Euro pro Kopf.

Nach dem Buch "Die Essensvernichter" von Stefan Kreutzberger und Valentin Thurn (Köln: Kiepenheuer und Witsch 2011)

  • entsorgt jeder Deutsche 81,6 kg Lebensmittel im Jahr.
  • landen jeden Tag in den Haushaltsmüll Großbritanniens 7 Mio. Brotscheiben, 5,1 Mio. Kartoffeln, 4,4 Mio. Äpfel, 1,6 Mio. Bananen, 1,3 Mio. ungeöffnete Joghurtbecher, 1,2 Mio. Würstchen, 660.000 ganze Eier, 440.000 Fertiggerichte...
  • bestehen in den USA 14% des Haushaltsmülls aus essbaren Lebensmitteln im Wert von 43 Mrd. US $/Jahr.
  • wird in der EU ein Viertel der von privaten Haushalten gekauften Lebensmittel weggeworfen - im Durchschnitt 180 kg.
  • werden in den USA 10 bis 15% der Ernte direkt auf den Feldern vernichtet (weil sie nicht den Normen des Handels entsprechen), 15% im Handel und in Restaurants sowie 20% in den Haushalten.
  • wird rund ein Viertel des weltweiten Wasserverbrauchs für die Produktion der 1,3 Mrd. Tonnen an Lebensmitteln verwendet, die auf dem Müll landen.
  • verrotten in Italien jedes Jahr 17 Mio. Tonnen Getreide, Obst und Gemüse, weil sie nicht geerntet werden.
  • werfen in Deutschland Bäckereien 10 bis 20% ihrer Tagesproduktion weg - 500.000 Tonnen Brot im Jahr.

Wenn mindestens ein Drittel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion auf dem Müll landet, ist dies nicht nur unverantwortlich gegenüber der 1 Mrd. Menschen, die unter Hunger und Unterernährung leiden, sondern auch gegenüber der Natur, die letztlich unsere Existenzgrundlage ist. Schließlich müssen ja mehr Flächen urbar gemacht werden, als eigentlich benötigt werden - und das bedeutet einen großen Verlust an naturnahen Landschaften, das Abholzen von (Ur-) Wäldern, das Trockenlegen von Moorgebieten und das Unterpflügen von Steppenboden. Darunter sind auch für Ackerbau und Viehzucht eigentlich ungeeignete Flächen, die nur mit Bewässerung - oft verbunden mit einer großen Verschwendung von Wasser, das teilweise aus begrenzten Ressourcen stammt - genutzt werden können oder die mit der Zeit durch Übergrasung, Versteppung und Erosion verloren gehen. Da zugleich möglichst billig produziert werden muss, werden große Mengen an Kunstdünger, Pestiziden und Herbiziden eingesetzt.

"Unser täglich Brot" hat aber nicht nur an Wertschätzung verloren und wird in großen Mengen weggeworfen, sondern wird auch immer häufiger nicht mehr selbst zubereitet. Fastfood, Kantinenessen, Fertiggerichte, von Lieferdiensten gebrachte Pizzen, beim Bäcker gekaufte belegte Brötchen und Snacks treten immer mehr an die Stelle der selbst gekochten Mahlzeit. Kein Wunder, dass viele unserer Kinder nicht mehr wissen, wie Sellerieknollen oder Porreestangen aussehen, dass Rosenkohl an hochwüchsigen Stängeln wächst, Pommes frites aus Kartoffelschnitzen bestehen, Milch von der Kuh stammt und Honig von Bienen gesammelt wird. Sie erleben in ihren Familien nicht mehr, wie "richtig" gekocht und gebacken wird, haben z.B. nie beobachtet, wie ein Klöße gemacht werden oder ein Hefeteig aufgeht.

Auch wird das Essen entsinnlicht - wir schmecken nicht mehr die natürlichen Zutaten aus dem salzigen oder süßen "Einheitsbrei" heraus. Es wird entrhythmisiert (wir essen nicht mehr zu bestimmten Uhrzeiten, sondern wenn wir Hunger oder "Lust auf etwas ..." haben) und individualisiert (wir essen mehr in Kantinen oder auf dem Weg zu bzw. von Kindertageseinrichtung, Schule oder Arbeitsplatz). Somit werden Mahlzeiten immer weniger zu einem "sozialen Akt" im Familienkreise; selbst wenn mehrere Familienmitglieder anwesend sind und gemeinsam etwas essen, läuft der Fernseher. Tischgespräche werden immer seltener, Tischkultur wird nicht mehr praktiziert, Tischsitten werden nicht mehr vermittelt.

Konsequenzen für Erzieher/innen

Auch in Kindertagesstätten werden Lebensmittel weggeworfen. Zunächst einmal sollte im Verlauf einer Woche an jedem Tag gemessen werden, welche Menge im Müll gelandet ist. Oft wird dann festgestellt, dass man zu viel Essen bestellt hat bzw. in der eigenen Küche zubereitet. Die Konsequenz ist klar...

Oft bringen aber auch Kinder zu viel Essbares von zu Hause mit. Hier bietet es sich an, bei einem Elternabend die große Verschwendung von Lebensmitteln in Deutschland und der westlichen Welt anzusprechen und die Eltern zu bitten, den Kindern nur so viel mitzugeben, wie wirklich verzehrt wird. Wenn Eltern bewusst wird, welche Mengen an Nahrungsmitteln sie zu Hause wegwerfen, während gleichzeitig 1 Mrd. Menschen hungern, werden sie oft bereit sein, ihr Verhalten zu ändern. So kann mit ihnen diskutiert werden, was sie tun können, nämlich:

  1. geplant einkaufen,
  2. Haltbarkeit prüfen,
  3. passende Mengen erwerben,
  4. Vorräte richtig lagern und
  5. Reste weiterverwenden.

Wenn Eltern außerdem mehr Produkte aus der Region kaufen und vor allem saisonale Angebote nutzen, leisten sie zusätzlich einen Beitrag zum Umweltschutz.

Kinder werden Nahrungsmitteln eine größere Wertschätzung entgegenbringen, wenn sie diese selbst erzeugen und somit erleben, wie viel Arbeit dies macht. Deshalb sollte möglichst jede Kindertageseinrichtung mit einer etwas größeren Außenfläche Gemüse- und Kräuterbeete anlegen sowie Obstbäume und -sträucher pflanzen. Mancherorts kann vielleicht auch ein Frühbeet gebaut, ein Komposthaufen eingerichtet oder eine Regentonne aufgestellt werden. So können die Kinder z.B. beobachten, wie sich Pflanzen aus einem Samenkorn, einer Knolle oder einer Steckzwiebel heraus entwickeln, wie sie gehegt und gepflegt werden müssen und wie lange es bis zur Ernte dauert. Zudem lernen sie das Aussehen und die Namen der üblichen Salat- und Gemüsesorten kennen. Nach der Ernte können die Kinder die Lebensmittel selbst zubereiten und deren unverfälschten Geschmack erleben.

Aber auch dort, wo in Kindertageseinrichtungen noch das Mittagessen selbst gekocht wird, sollten die Zutaten möglichst naturbelassen bleiben. Können die Kinder (gelegentlich) bei der Zubereitung helfen, sehen sie die Lebensmittel im Naturzustand und in der weiterverarbeiteten Form. Sie lernen, wie man kocht und backt, und machen dabei viele wichtige Lernerfahrungen.

Schließlich ist großer Wert auf gemeinsame Mahlzeiten zu legen. Kinder sollten viel Zeit für das Essen haben, es mit allen Sinnen wahrnehmen und genießen. Durch Fragen der Erzieher/innen nach dem Geschmack oder durch die Variation gleicher Lebensmittel (z.B. wenn jedes Kind Schnitze von drei oder vier verschiedenen Apfelsorten erhält) lernen Kinder, auch geschmackliche Nuancen wahrzunehmen und sich an ihnen zu erfreuen. Werden die Esstische ansprechend hergerichtet und wird das Tischgespräch gepflegt, erleben sie Gemütlichkeit und Geborgenheit.

Auf diese Weise gewinnen Kinder ein anderes Verhältnis zu Lebensmitteln und zu deren Verzehr. Dies mag dann dazu beitragen, dass sie vielleicht als Erwachsene weniger der "Wegwerf-Gesellschaft" frönen, bewusster einkaufen, gesünder leben und mehr Wert auf gemeinsame Mahlzeiten in einer entspannten Atmosphäre legen...

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de