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Zitiervorschlag

Der frühpädagogische Ansatz von George E. Forman und David S. Kuschner

Martin R. Textor

 

Neben dem konstruktivistischen Ansatz und dem High/Scope-Ansatz sind in den USA weitere frühpädagogische Ansätze entstanden, die auf der Theorie von Jean Piaget (1932, 1946, 1975) beruhen. Im Folgenden soll der Ansatz von George E. Forman und David S. Kuschner (1990) kurz skizziert werden.

Der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Feststellung, dass man kognitive Entwicklung nicht von der motorischen und sozial-emotionalen trennen kann. Immer spielt das Denken eine wichtige Rolle. Beispielsweise verlangen motorische Aktivitäten die Beurteilung von Geschwindigkeit, Gewicht, Kraftaufwendung, Flugbahn usw., während beim Sozialverhalten die Interaktionen und Intentionen anderer Menschen sowie die eigenen Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse erfasst und bedacht werden müssen. In allen Entwicklungsbereichen werden Veränderungen laut Piaget entweder durch Assimilation (Angleichung der Umwelt an das Individuum) oder durch Akkommodation (Angleichung des Individuums an die Umwelt) erreicht. Wissen wird durch den Intellekt und psychische Strukturen werden durch die Interaktion mit der Umwelt "konstruiert"; ein bloßes Lernen von Fakten (wie in der Schule) ist somit wenig sinnvoll. Zumeist verläuft die Entwicklung in einer bestimmten Abfolge von Phasen, die aufeinander aufbauen - einzelne Stufen können nicht übersprungen werden.

Laut Forman und Kuschner (1990) wird die Weiterentwicklung vor allem dadurch angeregt, wenn Kleinkinder "verwirrt" sind bzw. einen kognitiven Konflikt ("kognitive Dissonanz") verspüren. Somit müssen Erzieherinnen für die Kinder eine Umwelt schaffen, in der diese immer wieder mit neuen Problemen konfrontiert werden, widersprüchliche bzw. "diskontinuierliche" Erfahrungen machen oder sich selbst Fragen stellen. Dann sind die Kinder neugierig und intrinsisch motiviert. Sie versuchen, durch aktives Denken die sich selbst gestellten Fragen zu beantworten bzw. die kognitiven Konflikte zwischen Vorwissen und andersartigen Erfahrungen zu lösen, um wieder "Kontinuität" zu erfahren. Die Kinder "konstruieren" ein neues Verständnis bzw. neue Kenntnisse, indem sie Beziehungen zwischen Gegenständen, Prozessen, Beobachtungen, Erfahrungen usw. herstellen. Dazu müssen sie oft auch handelnd aktiv werden, also z.B. Objekte verändern oder mit Materialien experimentieren. Die Auflösung der kognitiven Dissonanz ist an sich schon befriedigend - was aber eine positive Würdigung seitens der Erzieherinnen nicht ausschließen sollte.

Haben Erzieherinnen die Umwelt in der Kindertageseinrichtung um neue Erfahrungsmöglichkeiten bereichert, beobachten sie zunächst die Kinder, wie sie sich z.B. in Kleingruppen mit den ausgelegten Materialien befassen. Sie werden erst aktiv, wenn sie einen Eindruck davon haben, was die jeweilige Gruppe vorhat. Jedoch dürfen sie nicht auf eine Weise eingreifen, die von den Kindern als störend erlebt wird, also sie von ihrem Vorhaben ablenkt, Handlungsabläufe unterbricht und ihre intrinsische Motivation verringert. Vielmehr sollten sie Zeitpunkte abwarten, zu denen Kinder etwas Neues entdeckt haben, gerade gelernte Fertigkeiten ein- oder zweimal wiederholt haben oder eine Pause machen. Dann können die Erzieherinnen die Lernerfahrungen intensivieren oder ausweiten, indem sie z.B. diese für das Kind zusammenfassen, weiterführende Fragen stellen oder eine neue Aufgabe formulieren. Sie lassen die Kinder Bestandteile und Charakteristika eines bestimmten Objekts identifizieren, deren Zusammenspiel erforschen oder die Funktion des Gegenstandes entdecken. Oft fordern die Erzieherinnen sie auf, etwas von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Insbesondere bei jüngeren Kindern machen sie manchmal auch vor, wie man Gegenstände untersuchen kann oder welche Fertigkeiten bei der jeweiligen Aktivität benötigt werden. Eine weitere wichtige Aufgabe der Erzieherinnen ist es, die Motivation der Kinder an der jeweiligen Aktivität zu erhalten. Dazu zeigen sie Interesse, ermutigen sie oder deuten an, was noch alles gemacht werden könnte und dass dies den Kindern bestimmt Spaß machen würde. Schließlich fördern die Erzieherinnen das Generalisieren der jeweiligen Lernerfahrung, indem sie beispielsweise etwas andersartige Materialien holen oder die Kinder einen Gegenstand mit einem anderen Objekt vergleichen lassen. Auf diese Weise kann auch eine gewisse Kontinuität zwischen Lernerfahrungen erreicht werden.

Deutlich wird, wie wichtig ein genaues Beobachten der Kinder ist. Forman und Kuschner (1990) schreiben, dass Erzieherinnen "kontinuierlich all die Faktoren überwachen sollten, die die Beschäftigung eines Kindes mit einer bestimmten Lernerfahrung beeinflussen. Dazu gehören die Wissensbasis, der Grad an Motivation, der Denkprozess und die Handlungsfähigkeit des Kindes" (S. 168). Auch ist zu beachten, dass sich das Kind Wissen in verschiedenen Bereichen aneignet, also physikalische, logisch-arithmetische und soziokulturelle Kenntnisse sowie Wissen über sich selbst (Selbstdifferenzierung, Persönlichkeitsbildung).

Da all diese Aufgaben der Erzieherinnen nicht einfach sind, fordern Forman und Kuschner (1990) Folgendes: "Die Verbesserung des Unterrichtens auf jeder Ebene des Bildungswesens hat vier grundlegende Vorbedingungen: Erstens müssen eindeutige Erziehungsziele spezifiziert werden. Dies setzt Gespräche zwischen den Teammitgliedern über ihre jeweiligen Werte und ihre Vorannahmen über die Art des Lernens und Wissenserwerbs voraus. Zweitens müssen gute Methoden für die Überprüfung des Unterrichtens, sowohl durch Beobachter als auch durch die Erzieherinnen selbst, übernommen werden. Drittens müssen Erzieherinnen offen für eine konstruktive Kritik und für den Prozess der Weiterentwicklung sein. Dies setzt eine sensible Führung durch die Kindergartenleiterinnen und Gruppenleiterinnen ... voraus. Die letzte Vorbedingung ergibt sich aus den anderen dreien: die Ausarbeitung expliziter Pläne für Veränderungen" (S. 191; Berufsbezeichnungen angepasst an den deutschen Sprachgebrauch).

Literatur

Forman, G.: The constructivist perspective. In: Roopnarine, J.L./Johnson, J.E. (Hrsg.): Approaches to early childhood education. Columbus: Merrill 1987, S. 71-83

Forman, G.E./Kuschner, D.S.: The child's construction of knowledge. Piaget for teaching children. Washington: National Association for the Education of Young Children, 3. Aufl. 1990

Piaget, J.: Moral judgement of the child. London: Free Press 1932

Piaget, J.: Psychologie der Intelligenz. Zürich: Rascher, 2. Aufl. 1946

Piaget, J.: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart: Klett 1975

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de