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Zitiervorschlag

Aus: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS) 2002, Heft 8, S. 28-30

Kinder als Ratgeber von Erwachsenen - Gleichwertigkeit als Partizipations- und Beziehungsaspekt

Lothar Klein

 

Stellen Sie sich die folgende Situation vor: In einem Kindergarten gibt es ein Problem. Seit Wochen bringen immer mehr Kinder ihre eigenen Fahrräder von zu Hause mit. "Weil wir ja so wenige hier haben", lautet ihr Argument. Die Erzieherinnen befürchten, dass es auf dem Außengelände des Kindergartens zu eng wird, wenn alle Kinder gleichzeitig fahren. Außerdem sorgen sie sich um die Kleineren und die Kinder, die keine Fahrräder haben.

Solche Schwierigkeiten wurden bisher im Team behandelt. In diesem Fall aber gehen die Erzieherinnen einen anderen Weg. Sie fragen die Kinder um Rat. Viele Gespräche finden statt, im Stuhlkreis in der Kinderkonferenz und zwischendurch. Auch die Kinder haben nicht sofort eine auf Dauer tragfähige Lösung, aber sie gehen ernsthaft an das Problem heran. Sie spüren, dass die Bitte der Erzieherinnen um einen Rat aufrichtig ist.

Im Laufe der Zeit wird vieles ausprobiert, wieder verworfen, einiges auch beibehalten: Es gab "Fahrradwächter", die einteilten, welche 10 Fahrräder zur gleichen Zeit fahren durften. Der Vorschlag, das mit Wimpeln zu regeln: Wer einen dieser Wimpel ergattert hatte, befestigte ihn an seinem Fahrrad und durfte fahren. Wenn er fertig war, brachte er den Wimpel zurück ins Büro. Mit verschiedenen Sperrungen, Fahr- und Fußgängerzonen oder tageweisen Regelungen wurde ebenfalls experimentiert. Selbst die Idee, dass alle zugleich fahren dürfen, jedes Kind dabei mit einer Trillerpfeife ausgestattet, wobei es mit einem kräftigen Pfiff eventuelle "Fußgänger" warnen sollte. Das "Trillerpfeifen-Pfeifen" wurde sogar geübt.

Schließlich setzen sich folgende Regelungen durch: Auf einem Kletterhügel wurde "mit so einem roten Band" keilförmig eine Rennbahn nach unten abgegrenzt und "Für-Fußgänger-verboten-Schilder" aufgestellt. Das Gelände wurde in drei Zonen eingeteilt: "Sehr langsam", "langsam" und "freie Fahrt". Jedes Fahrrad musste eine funktionierende Klingel besitzen.

Die ganze Zeit über erwiesen sich die Kinder als kompetente Berater der Erzieherinnen. "Es war schon erstaunlich, auf welch gute Ideen die Kinder kamen," so eine Erzieherin.

Denken wir an die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern, kommt uns meist als erstes die gebende Rolle des Erwachsenen in den Sinn. Fürsorge, Liebe, Anerkennung, Resonanz, Unterstützung, das alles und noch mehr sollen Kinder von Erwachsenen bekommen. Gut fühlen sich Erzieherinnen, wenn sie Kindern geben können, was diese brauchen - am besten, wenn sie auch noch allen gerecht werden können. Erwachsene werden in dieser Sichtweise als der aktive, Kinder als der passive Teil der Beziehung gesehen.

So wichtig die (be-) dienende Rolle Erwachsener gegenüber Kindern ist, eine echte Beziehung ist allerdings kaum tragfähig, wenn sie nicht auf Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit beruht. Dass Erwachsene Kindern mehr geben als umgekehrt, hängt mit ihrem natürlichen Erfahrungs- und Wissensvorsprung zusammen.

Gleichwertig sein bedeutet, den gleichen Wert haben, nicht minderwertig sein, bedeutet, Partner gleichen Rechts zu sein. Nicht auf das gleiche Wissen, Können, die gleichen Erfahrungen oder Fähigkeiten kommt es dabei an, sondern darauf, dass beide Seiten ihre Wichtigkeit in der Beziehung gleich stark erleben. Gleichwertige Beziehungen setzen also Gelegenheiten voraus, wo beide Seiten ihren Wert für den jeweils anderen erfahren können. Die Bedeutung Erwachsener für Kinder liegt auf der Hand. Umgekehrt ist es schwieriger. Gleichwertigkeit erfordert nämlich auch, dass der Beziehungspartner meine Fähigkeiten und Eigenschaften überhaupt wahrnimmt und "richtig", d.h. entsprechend meiner Selbstwahrnehmung würdigt und wertschätzt. Dadurch gelingt es ihm eigentlich erst, mir gleiches Recht zuzubilligen, und erst danach entstehen Situationen, in denen ich auch erfahren kann, dass ich von ihm gleichwertig angesehen und behandelt werde.

Gegenseitigkeit meint eine auf der Grundlage von Gleichwertigkeit funktionierende Wechselbeziehung von Geben und Nehmen. Für eine soziale Wertschätzung reicht es nicht aus, geliebt zu werden. Man muss auch gebraucht werden! Die eigene Leistung muss als Beitrag für das gemeinsame Anliegen betrachtet und gebraucht werden. Erst auf diesem Wege erfahren Kinder, was ihre Leistungen anderen wert sind. Dabei geht es nicht bloß um die Leistung an sich. Nicht Bewertung ist das Ziel, sondern Wert-schätzung. Es geht darum, dass Kinder erfahren, was ihre Ideen, ihr Können, Wissen und Fähigkeiten dem anderen persönlich wert sind. Eine Beziehung, die nicht auf Vereinnahmung, Erdrücken, Ausnutzung oder Belehrung basiert, braucht zu ihrer Existenz die gegenseitige oder, wie es Mechthild Dörfler und Hans Rudolf Leu (1998) ausdrücken, wechselseitige Anerkennung durch beide Seiten. Eine Beziehung, in der die eine Seite gibt und die andere nimmt, das wissen wir alle aus eigener Erfahrung, ist auf Dauer eben nicht tragfähig.

Für den Alltag der Kindertagesstätte bedeutet dies, dass Kinder von Erwachsenen gebraucht werden müssen. Und zwar in Wirklichkeit, in für Erzieherinnen real bedeutsame Situationen und nicht in bloß "pädagogischen" - wie etwa beim "Mensch-ärger-dich-nicht-Spiel", wo Oma und Opa ihre Enkel auch mal gewinnen lassen und dann so tun, als hätten die Kinder sie übertrumpft.

Solche Situationen kann man nicht künstlich schaffen, im Sinne von: "Jetzt könnt ihr mir mal zeigen, was ihr schon könnt". Solche Situationen entstehen dann, wenn es Erzieherinnen gelingt, in Kindern aktive handelnde und kompetente Subjekte zu sehen. Gegenseitigkeit mit Kindern zu praktizieren, setzt eine dialogische Haltung voraus. Im echten Dialog haben stets beide Seiten "recht". Sie erkennen sich von Beginn an gegenseitig an. Hier gibt es nicht nur eine einzige, sondern viele Wahrheiten. Im echten Dialog ist jede Seite Lernender und spürt eine innere Bereitschaft, sich vom anderen beeinflussen zu lassen. Ohne eine solche Haltung fällt es schwer, "in echt" etwas von Kindern anzunehmen.

Am häufigsten können Erwachsene von der Kompetenz der Kinder in Situationen profitieren, in denen sie sich selbst keinen rechten Rat wissen. Am besten ist es, direkt zu benennen, was ich von den Kindern will, nämlich: "Ich brauche mal euren Rat." Erwachsene, die sich angewöhnen, auf die Kompetenz der Kinder zu bauen, wundern sich ein ganze Zeit lang darüber, "welch gute Ideen Kinder da immer wieder entwickeln". Hintergrund ihrer Überraschung ist ihr defizitäres Bild vom Kind. Es dauert schon einige Zeit, bis das Annehmen kindlicher Kompetenz in real schwierigen Konstellationen zur Selbstverständlichkeit wird.

Unzählige solcher Situationen fallen mir ein:

  • Was können wir machen, wenn ihr eure Sachen stehen lasst und die Putzfrauen sauber machen wollen?
  • Eure Eltern beschweren sich immer wieder bei mir, dass Sachen von euch verloren gehen. Habt ihr eine Idee?
  • Uns fehlt in der Gruppenkasse Geld. Was können wir tun?
  • Wir bekommen ein neues Kind in die Gruppe. Als das letzte Kind zu uns kam, hat es sich ziemlich alleine gefühlt. Wisst ihr, was wir dieses Mal anders machen können?
  • Ich glaube, wenn zu viele Kinder in der Bauecke sind, gibt es leichter Streit. Stimmt das?
  • Was soll ich unserer Leiterin sagen, wenn wir das Regal als Klettergerüst nutzen und die Sachen darin in Kisten packen?
  • Die Bällchen aus dem Bällchenbad gehen leicht kaputt, wenn sie im Flur liegen. Ihr wollt aber gerne Werfen spielen. Was können wir tun, dass sie ganz bleiben, und ihr trotzdem weiterwerfen könnt?

Gleichwertigkeit wird darüber hinaus erfahren, wenn auf Kinder echte Macht übertragen wird, wenn sie Maßstäbe setzen und Entscheidungen treffen können, an die sich auch Erwachsene zu halten haben. Damit greifen sie verändernd auch in das Erwachsenenleben ein. Einiges habe ich diesbezüglich von meiner eigenen Tochter gelernt. Zum Beispiel wenn sie mir Vorhaltungen gemacht hat, weil ich zu Hause beim Essen nicht warten konnte (oder wollte), bis alle am Tisch saßen. Meine zugebenermaßen windigen Argumente ("Ich war mal im Internat, und da musste man sehen, wo man bleibt.") haben sie deshalb gekränkt, weil sie gespürt hat, dass ich mir das Recht herausgenommen habe, Recht zu haben, und nur schwer zulassen konnte, das sie Maßstäbe setzt, nach denen ich mich zu richten habe.

Natürlich brauchen Erwachsene zuweilen die Hilfe und Unterstützung der Kinder auch ganz direkt: beim Tragen helfen, bei der Arbeit, wenn es ihnen einmal selbst nicht gut geht usw. Gleichwertig ist die Bitte um solche Hilfe, wenn sie das Recht einschließt, die erbetene Unterstützung auch unbegründet zu verweigern, ohne dass etwa Liebesentzug oder andere Formen der Beziehungsverweigerung drohen. Gegenseitig ist sie, wenn auch Kinder das Recht haben, Erwachsene dort um Hilfe zu bitten, wo ihnen etwas unangenehm ist.

Die Erlaubnis, etwas sinn- und wertvolles für Erwachsene tun und von ihnen einfordern zu dürfen, ist aus meiner Sicht ein grundlegendes partizipatorisches Recht von Kindern. Es ist das Recht, die eigene Kompetenz erleben und spüren zu dürfen. Es ist das Recht zu erfahren, dass eigenes Handeln auch Auswirkungen auf andere hat.

Literatur

Dörfler, M./ Leu, H.-R.: "Ich dich auch". Beziehung ist keine Ware einer Anbieterin. In: Welt des Kindes 4/1998

Autor

Lothar Klein
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