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Zitiervorschlag

Aus: Ingeborg Becker-Textor: Mit Kinderaugen sehen. Wahrnehmungserziehung im Kindergarten. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1992, S. 97-110 (leicht bearbeitete Fassung)

Hilfen zum Sehen

Ingeborg Becker-Textor

 

Wenn wir von Hilfen zum Sehen oder von Sehhilfen sprechen, dann meinen wir in der Regel die Brille, die Sehschwächen des Auges ausgleichen soll. Unter "Hilfen zum Sehen" sollen in diesem Kapitel aber in erster Linie Motivationshilfen verstanden werden. Die kindliche Neugier soll geweckt, das Kind angeregt werden, Objekte genau zu untersuchen und zu betrachten. Dabei ist es wichtig, dass das Kind den Freiraum zum eigenen Experiment und die Zeit zum selbständigen Sehen behält und somit nach eigenen Vorstellungen Objekte oder Sehhilfen auswählen kann.

Zauberbrille

Kinder werden gefragt: "Was ist eine Zauberbrille?"
Claudia: "Halt eine Brille, die alles verzaubert."
Peter: "Stimmt nicht. Eine Brille kann nichts verzaubern. Man kann höchstens besser sehen, deutlicher, genauer."
Susi: "Aber eine Sonnenbrille, die zaubert schon ein bisschen, weil alles eine dunklere Farbe kriegt, sogar die Sonne."
Peter: "Kann schon sein. Aber trotzdem sind die Sachen, die man sieht, alle die gleichen wie vorher, halt bloß dunkler."
Alexandra: "Vielleicht sieht man durch eine Zauberbrille nur lauter schöne Dinge und gar nichts Schreckliches oder Böses mehr?"

Vielleicht können Sie Ihre Kinder einmal ermuntern, sich eine Zauberbrille zu basteln. Sie sollen ihnen dabei nicht helfen. Wir haben als Erwachsene kaum Vorstellungen, wie Kinder in ihrer Phantasie eine Zauberbrille entwickeln können.

Warten wir auf das Ergebnis! Wenn Sie wirklich den Versuch mit Ihren Kindern machen wollen, dann sollten Sie die folgenden Seiten überschlagen und erst nach Ihrem Experiment lesen. Erwartungshaltungen Ihrerseits würden die Kinder nämlich leicht hemmen oder gar in der Verwirklichung ihrer Ideen "abblocken".

Welche Zauberbrillen sind aber nun in den Händen von Claudia, Peter, Susi und Alexandra entstanden?

Claudia: Aus einem großen Kartonstück schnitt Claudia ein Oval aus und versah es mit zwei Löchern. Ein Loch hatte etwa zwei Zentimeter Durchmesser, das andere ca. fünf Zentimeter. Sie erklärte die unterschiedliche Größe damit, dass ein Auge einen kleinen Zauber, das andere Auge einen großen Zauber sehen könnte. Die beiden Löcher klebte sie mit Butterbrotpapier zu und perforierte sie mit einer Nadel. Ein Loch reihte sich an das andere. Sie war sehr konzentriert bei der Sache und achtete genau auf den Abstand zwischen den Löchern. Zwischendurch hielt sie sich ihre Zauberbrille immer wieder vor das Gesicht. Ob sie wohl die Lichtdurchlässigkeit überprüfte? Nach geraumer Zeit schien sie ihre Zauberbrille fertiggestellt zu haben und wirkte sehr zufrieden. Sie ging zum Fenster, schaute mit ihrer Brille nach draußen. Dann betrachtete sie die Pflanzen auf der Fensterbank und den Spielzeugschrank, beobachtete eine Kindergruppe. Sie schien noch immer zufrieden. Die Frage eines Jungen nach ihrer Brille beantwortete sie folgendermaßen: "Also weißt du, das ist eine Milch-Tupfen-Brille. Alles sieht neblig aus, aber durch die kleinen Löcher kommt Licht. Bisschen kann man auch durchschauen. Toll, was man da sieht, und halt alles wie im Nebel. Willste mal durchschauen?" Der Junge nahm Claudia die Zauberbrille aus der Hand und versuchte, mit ihr zu sehen. Er schüttelte den Kopf, machte einen erneuten Sehversuch. Dann gab er Claudia die Brille zurück. Sein Kommentar: "So ein Mist, ich seh nichts. Blödes Papier". Claudia hingegen war froh, ihre Zauberbrille wieder in der Hand zu haben, und machte weiter ihre Sehexperimente. Im Verlauf der nächsten Tage bastelte sie sich noch weitere Zauberbrillen, erzählte aber nur wenig von ihren Geheimnissen, die ihr dadurch aufgetan wurden.

Peter: Auch Peter hatte sich mit Eifer an das Basteln einer Zauberbrille gemacht. Er ließ sich vom Modell einer Brille leiten. Aus der Bastelkammer besorgte er sich zwei Papierringe von Camembertschachteln. Er klebte sie zusammen und umwickelte die Klebestelle auch noch mit einem Klebstreifen. Zwei Bügel schnitt er sich aus Karton und klebte sie an. Dann begann er mit der Gestaltung der Zaubergläser. Er hatte sich buntes Transparentpapier geholt und schnitt es in ein Zentimeter breite Streifen. Die klebte er nun nebeneinander auf sein Brillengestell, dicht aneinanderstoßend. Für ein Auge wählte er waagrechte Strukturen, für das andere senkrechte. Vor dem Aufkleben jeder neuen Farbe probierte er erst aus, hielt das Papier vorsichtig an seine Brille. Er hatte viele gespannte Zuschauer in der Gruppe, und einige Kinder hatten auch schon begonnen, seine Zauberbrille nachzubauen: Die Brille, mit der man buntlängsgestreift und buntquergestreift sehen konnte. Peter erzählte ganz ausführlich, was er durch seine Brille sah, und die Kinder waren bemüht, das gleiche zu sehen. Ob ihnen das allerdings gelungen ist? Ob sie mit Peters Augen sehen können?

Susi: Susi war lange in der Bastelkammer verschwunden und hatte zwei Pappröhren dabei, als sie wieder in den Gruppenraum zurückkam. Sie erklärte, dass sie sich eine Röhrenbrille bauen wollte. Kein Fernrohr oder Fernglas sollte es sein. Eine Röhrenbrille sei etwas ganz anderes! Sie klebte die beiden Pappröhren in der Länge aneinander und bedeckte die Öffnungen mit Gardinentüll. Sie war schnell fertig und begann dann ihre Sehexperimente.

Alexandra: Alexandra entwickelte auch ihr ganz individuelles Zauberbrillenmodell. Sie hatte in der Bastelkammer Diarähmchen gefunden und hielt sie vor ihre Augen, rechts eines und links eines. Auf die Kunststoffgläser hatte sie sich je ein Männchen gemalt - mit wasserfestem Filzschreiber. Schon wirklich eine ganz besondere Zauberbrille.

Es ist spannend, den Kindern zuzusehen, was sie alles durch solche Brillen sehen und wie ihre kindliche Erlebniswelt ebenso wie ihre Phantasie ihr Sehen beeinflussen. Das werden wir als Erwachsene wohl nie mehr lernen können!

Die Lupe

Frage an Sie: Haben Sie in Ihrem Kindergarten Lupen? Wie viele? Wo werden sie aufbewahrt? Sind sie für Kinder zugänglich? Bei welchen Gelegenheiten benutzen Sie oder Ihre Kinder eine Lupe?

Die Lupe hilft uns Erwachsenen und Kindern, kleine Dinge größer zu sehen! Wie viel Spannung steckt darin, wenn z. B. kleine unscheinbare Samen in ihren ganz verschiedenartigen Formen erkannt werden können. Oder haben Sie selbst schon einmal eine Handvoll Schnee auf einem Teller ins Zimmer geholt und den Prozess des Tauens durch die Lupe betrachtet? Die wunderbare Veränderung beobachtet, wie sich die kleinen weißen Schneeflocken in glasklares Eis verwandeln und dann als Wasser davonrinnen? Kinder sitzen eine halbe Stunde und länger an solchen Beobachtungen, und ein Teller Schnee reicht meistens nicht aus, um ihre Neugier und ihren Wissensdurst zu befriedigen.

Lupen sind ein Beschäftigungsmaterial, das ganz wesentlich zur konzentrierten Arbeit der Kinder beiträgt und in keinem Kindergarten fehlen dürfte. Lupen sollen keine Besonderheit sein, die nur für eine bestimmte sogenannte "gezielte Beschäftigung" unter direkter Anleitung und unter klarer Zielsetzung der Erzieher benutzt werden darf. Sie müssen den Kindern immer zur Verfügung stehen. Wir Erwachsenen wissen nämlich viel zu wenig, wann Kinder etwas genauer sehen wollen und was daran für sie so interessant und spannend ist.

Mein Vorschlag: In jedem Gruppenraum steht eine Anzahl von Lupen - einfache Ausfertigung - zur Verfügung. Wie ein neues Spiel kann der Umgang mit ihnen vorgestellt werden. Dann stehen sie aber zur freien Benutzung bereit. Sie können auch auf Spaziergängen und in den Garten mitgenommen werden. Nach meiner Erfahrung betrachten die Kinder anfänglich alles durch die Lupe - ganz einfach aus Neugier. Sie entdecken auch verschiedene Umgangsweisen mit der Lupe - so zum Beispiel, dass sich beim Hin- und Herbewegen der Lupe ein Gegenstand, den man betrachtet, "bewegt" bzw. "lebendig" reagiert.

Für Sie als Erzieher gilt:

  • Experimentieren Sie selbst mit der Lupe.
  • Stellen Sie sie dann erst den Kindern zur Verfügung.
  • Beobachten Sie die Kinder beim Umgang mit der Lupe.
  • Lassen Sie die Kinder über das Gesehene berichten.
  • Regen Sie die Kinder an, dies oder jenes doch auch einmal durch die Lupe zu betrachten.

Sie fragen vielleicht, was mit der Lupe angeschaut werden soll. Antwort: Alles! Der Käfer (die Kellerassel wird zum Panzertier) ebenso wie das Sandkorn (es wird zum Edelstein), die Gräser, der Schnee, die Wasserpfütze, das Holz, die Baumrinde, das Brot, der Apfel, Details im Kinderbuch, Prozesse wie das Zusammenlaufen von Farben auf dem Papier usw. usf.

Fazit: Lupen sind unentbehrlich bei der Ausstattung eines Kindergartens und für die alltäglichen Aktivitäten der Kinder.

Papier mit Loch

Für das Kleinkind bevorzugen wir Bilder mit wenigen Gegenständen, in einfachem, überschaubarem Stil. Für das Kindergartenkind wählen wir inhaltsreichere Darstellungen aus, oft "überfüllte" Bilder. Das Auge des Kindes springt auf den Bildern hin und her. Kinderaussagen bestätigen dies: "Da schau, ein Kind und da hinten die Feuerwehr und da die Kuhwiese und dort das Schwein mit Ferkeln."

Viele Kinder finden bei diesem Überangebot an Eindrücken nicht mehr zum Verharren in Details; die selektive Wahrnehmung wird erschwert. Wie wäre es, Sie würden deshalb zu den Bilderbüchern Kartonstücke legen? Jedes Karton- oder Pappestück in der Größe der Bilderbücher (oder größer) hat ein Loch: Groß, klein, rund, eckig, oval... Dann lassen Sie sich leiten von der Forderung der italienischen Pädagogin Maria Montessori: "Hilf mir, es selbst zu tun!" Das heißt in diesem Fall, gib mir das Material - Buch und Pappe mit Loch -, gib mir die Freiheit, dass ich ganz alleine damit Entdeckungen machen kann! Bald schon werden die Kinder Ihnen begeistert mitteilen, dass auf dem großen Bild sehr viele kleine Bilder sind und dass man sie durch das Loch ganz besonders gut betrachten kann. Die Kinder werden am Anfang den Karton hin- und herschieben, weil sie alle Bildausschnitte in sich aufnehmen wollen und gleichzeitig immer neue Szenen entdecken möchten. Schon bald aber werden sie bei ihrem Lieblingsausschnitt verweilen. Meist sind es Kleinigkeiten. Da ist z. B. der kleine Schmetterling am Bildrand. Schaut man das Bild als Ganzes an, dann verliert er sich. Durch das kleine Loch betrachtet, erkennt man seine ganze Schönheit.

Bevor ich es vergesse: Probieren Sie im Team diese neue Art der Bildbetrachtung aus. Erklären Sie den Kindern nicht, dass sie so vielleicht Details besser sehen können. Die Kinder berichten von alleine. Was vorher über die Lupe gesagt wurde, gilt auch für die Pappe mit Loch. Ich kann viele Dinge ausschnitthaft betrachten - auch im Freien.

Spiegel

Wozu brauchen wir Spiegel im Kindergarten? In vielen Sanitärräumen der Kindergärten finden wir gar keine Spiegel. Im Gruppenraum? Kleine Spiegel im Spielzeugschrank? Spiegelpappe, die man biegen kann?

Beispiel aus einem Kindergarten: Das Thema "Spiegel" soll thematisiert, vor allem aber den Kindern Spiegel zum Experimentieren zur Verfügung gestellt werden. Die Erzieherin hat eine Anzahl ganz verschiedener Spiegel - wie wir sie vom Hausgebrauch her kennen - mitgebracht. Daneben hat sie auch ein Kästchen mit kleinen rechteckigen Spiegeln und Stücke von Spiegelpappe bereitgestellt, wie sie häufig für Dekorationszwecke verwendet wird. Die Erzieherin beschäftigt sich mit den Spiegeln. Neugierig kommen die Kinder herbei, setzen sich zu ihr. Sie schauen in die verschiedenen Spiegel und entdecken: "He, da wird man größer!" Die Erzieherin wölbt die Spiegelpappe. Die Gesichter werden schmal und lang oder breit und dick. Dies begeistert die Kinder ganz besonders.

Mit Hilfe von Bauklötzen, als Stütze für die Spiegel, hat die Erzieherin eine Spiegelstraße im Zick-Zack auf dem Tisch aufgebaut. Eine kleine Holzfigur stellt sie auf die Straße: "Guck mal, das eine Männchen sieht man jetzt ganz oft!" sagt Petra. Eine kleine Marionette wird entlang der Spiegelstraße bewegt - viele Marionetten sind sichtbar und bewegen sich, eine wie die andere.

Jetzt ist es Zeit, die Kinder alleine zu lassen. Ihre Entdeckungen werden so zahlreich sein wie bei der Lupe oder der Pappe mit Loch. Wir Erwachsenen sollten die Aktivitäten der Kinder jedoch genau beobachten. Während wir den Spiegel als Zweckgegenstand kennen, benutzen ihn die Kinder zum Spiel und zum Sehen. Sie verbalisieren das Gesehene und machen uns deutlich, wie und was Kinderaugen sehen.

Zwischenbemerkung: Vielleicht überlegen Sie, ob Sie nicht lieber auf das eine oder andere Lernspiel verzichten sollten, zugunsten solcher "neuer Materialien". Der Lerneffekt ist wahrscheinlich größer, zumal die Motivation zum Lernen vom Objekt ausgeht und die Kinder sich frei entscheiden können. Das Spiel ist Lernen. Es gibt für die Kinder dabei kein Verlieren oder Gewinnen und keine Leistungsmessung. Dennoch sind diese Lernerfolge von grundlegender Bedeutung für das spätere Lernen. Zugleich handelt es sich um den elementarsten Physikunterricht, den man sich denken kann.

Die Kinder stellen dabei sicher auch viele Fragen. Wir dürfen aber nur die Fragen des Kindes direkt beantworten und nicht meinen, wir müssten es sofort mit all unserem Wissen überschütten und alle von uns erkannten Zusammenhänge darstellen.

Wann werden Sie in Ihrem Gruppenraum kleine Spiegel, große Spiegel und Spiegelpappe zur Verfügung haben?

Sonne, Lampe, Licht und Schatten

Unter dieser Überschrift ließe sich ein Buch füllen, wollte man alle Möglichkeiten ausführen. Einige Impulse finden sich in diesem Buch bereits unter dem Stichwort "Theater". Ich will hier nur kurz über eine Fortbildung berichten. Es handelte sich um eine Veranstaltung zum Thema "Schattenspiel", ein Fortbildungstag im Sommer, bei strahlendem Sonnenschein. In dem Tagungshaus konnte man die Fenster nicht verdunkeln. Die Erzieher meinten, dass das Thema bei diesen räumlichen Gegebenheiten leider nicht durchzuführen sei. Im Verlauf des Tages konnte ich sie jedoch von dem Gegenteil überzeugen. Gemeinsam entdeckten sie nämlich, das Sonnenlicht, das durch die Fensterscheiben in den Raum fiel, für das Spiel mit Licht und Schatten zu nutzen. Großes Erstaunen. Man braucht ja gar keine verdunkelten Räume! Man braucht keine Lampen und keine Schattenspielvorrichtungen!

Es gelang während der Veranstaltung, den ganzen Komplex der Möglichkeiten des Schattenspiels mit Hilfe des Sonnenlichtes zu erarbeiten. Nach unseren Erfahrungen im Raum setzten wir das Spiel im Freien fort, denn auch dort ist gezielte Arbeit mit Licht und Schatten möglich. Wie kommt es aber, dass wir in der Praxis diese Naturgegebenheiten nicht nutzen? Sehen wir nicht die Möglichkeiten des Sonnenlichtes für das Spiel mit Licht und Schatten?

An trüben Tagen können uns Kerze oder Taschenlampe bei der Arbeit mit Lieht und Schatten helfen. Insbesondere die Arbeit mit der Taschenlampe ist auch für kleinere Kinder völlig ungefährlich und kann von Dreijährigen deshalb selbst erprobt werden. Kinder können so die Entdeckung machen, dass sich die Schatten bewegen und in dem Moment vervielfältigen, in dem Kinder das Licht hin- und herbewegen.

Auch dies sind Dinge, die wir den Kindern nicht erklären müssen. Die Kinder probieren automatisch aus, werden sehen, was passiert, und selbst erklären können, wie es dazu kommt. Claudia: "Nämlich, wenn die Lampe ruhig liegt, bewegt sich nix, gar nix. Aber wenn ich die Taschenlampe vorsichtig bewege, dann sieht es aus, als ob der Schatten laufen würde." Kinder, die diese Erfahrung machen, können später in einem gezielten Schattenspiel ihre Erfahrungen einbringen und Szenen spielen, in denen sich Schatten auf ganz unkonventionelle Art bewegen.

Eine weitere Erfahrung im Zusammenhang mit Licht und Schatten ist notwendig, nämlich, dass viele Gegenstände ganz konkrete Schattenbilder werfen. Diese Tatsache ist wichtig, denn insbesondere jüngeren Kindern ist es kaum möglich, komplizierte Schattenfiguren ohne Hilfe des Erwachsenen herzustellen. Warum also kann aus einem Papierschnipsel, in der Mitte zusammengefaltet und an einen Faden gehängt, nicht ein ganz einfacher Schmetterling entstehen? Betrachtet man ihn hinter einer "Leinwand" aus Butterbrotpapier, dann sieht das Stückchen Zeitungspapier plötzlich aus wie ein wunderbarer Schmetterling. Viele solche Experimente sind notwendig, wenn Kinder selbst Seh-Entdeckungen mit Sonne, Lampe, Lieht und Schatten machen sollen.

Ein weiteres Erlebnis vom Spiel mit dem Schatten: "Eine Gruppe von Erziehern hat sich in einem Raum versammelt. Man erzählt, tauscht Erlebnisse aus, freut sich, sich wiederzusehen. Thema des Tages ist Schattenspiel, doch keiner in der Gruppe denkt im Moment daran. Ich knipse das Licht an. Dann beginne ich, die Fenster zu verdunkeln. Es gibt Rollos, die ganz dicht schließen. Von einer Schallplatte ertönt Musik. Aha, jetzt geht es los. In der Kreismitte ist ein Leintuch auf dem Boden ausgebreitet, in der Mitte steht eine Holzfigur. Ich schalte das Licht aus. Plötzlich ist es ganz still im Raum. Nach kürzester Zeit hört man nur noch das Atmen der Teilnehmer. Die Musik wird immer leiser, die Platte ist zu Ende. Inzwischen haben sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt, schemenhaft lassen sich einige Dinge erkennen oder erahnen. Jetzt halte ich eine kleine Lampe senkrecht über die Holzfigur. Alle Teilnehmer können die Figur jetzt sehen. Dann beginne ich, die Lampe zu bewegen - langsam - fast in Zeitlupentempo. Plötzlich bekommt die Figur einen Schatten. Der Schatten bewegt sich mit dem Licht. Er verändert sich. Immer beginnt er bei den Füßen der Figur. Jetzt streckt er sich ganz lang, dann kuschelt er sich wieder an die Figur, man sieht ihn beinahe nicht mehr. Im Raum sind Spannung und Faszination zu spüren. Niemand spricht. Ich entferne mich immer mehr mit der Lampe, der Schatten wird länger und länger. Jetzt hat er die Fußspitze einer Teilnehmerin erreicht. Sofort zieht sie die Füße zurück. Ich lasse den Schatten wandern, zur nächsten Teilnehmerin. Der Schatten klettert an ihren Beinen in die Höhe. Erschrocken zieht auch sie die Beine weg. Immer länger und länger wird der Schatten. Längst ist er an den Teilnehmern in die Höhe geklettert, dann an der Wand, und jetzt sieht man ihn an der Decke. Als Figur ist er kaum noch zu erkennen. Er wirkt verzerrt, wurde zweimal abgeknickt. Ich schalte die Lampe aus. Wieder hören wir Musik. Sie wird lauter. Ich beginne, die Rollos wieder zu öffnen, das Tageslicht kommt herein, die Sonne." (Aus: "Der Schatten", von Ingeborg Becker-Textor, Lucius Maiwald und Anne-Marie Franke, AV-Edition).

Jetzt sind Sie an der Reihe. Mit Ihrem Versuch "Sonne, Lampe, Licht und Schatten". Dann sind die Kinder an der Reihe - aber nur, wenn Sie ihnen das freie Spiel mit Sonne, Lampe, Lieht und Schatten ermöglichen...

Autorin

Ingeborg Becker-Textor ist Kindergärtnerin und Hortnerin. Sie studierte Diplom-Sozialpädagogik an der Fachhochschule Würzburg und Diplom-Pädagogik an der Universität Würzburg und hat mehrere Zusatzqualifikationen wie z.B. den Abschluss als Fachlehrerin für Werken und das Montessori-Diplom erworben.
Frau Becker-Textor arbeitete als Kindergartenleiterin in Würzburg, als Regierungsfachberaterin für Kindertageseinrichtungen in Unterfranken, als nebenberufliche Dozentin in der Ausbildung für Kinderpfleger/innen und Erzieher/innen, in der Fortbildung für Erzieher/innen und Fachkräfte in der Jugendhilfe sowie mehr als 20 Jahre lang als Referatsleiterin im Bayer. Sozialministerium (nacheinander in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit). Im Ministerium war sie auch für zahlreiche Forschungsprojekte auf Landes- und Bundesebene zuständig. Von 2006 bis 2018 leitete sie zusammen mit ihrem Mann das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Ingeborg Becker-Textor ist Autorin bzw. Herausgeberin von mehr als 20 Büchern und über 40 Medienpaketen. Sie hat ca. 140 Fachartikel in Zeitschriften, in Sammelbänden und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de